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Aus der Neuen Solidarität Nr. 18/2002

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Das Ende eines Wahns

- 6. Teil -

Von Lyndon H. LaRouche

Die folgende Schrift von Lyndon LaRouche erschien am 12. Januar 2002 und ist dazu gedacht, die methodischen Grundlagen eines dringend nötigen Wirtschaftsaufschwungs für Amerika zu umreißen. Wir veröffentlichen große Auszüge daraus in acht aufeinanderfolgenden Teilen.


Die Lage verändern

Ein "Forschungs-Crashprogramm" ist zwar zumindest implizit eine Erweiterung des Bildungswesens insgesamt, es hat aber auch wohlbekannte ihm ganz eigentümliche Eigenschaften. Hohe Regierungsinvestitionen wirken sich auf die Realwirtschaft ähnlich aus wie die moderne Kriegsführung auf die technische und verwandte Entwicklung der Volkswirtschaften seit der Zeit Leonardo da Vincis und Machiavellis. Die Revolution in der Kriegsführung, die mit Lazare Carnot und der Schule von Gaspar Monge und Legendre 1792-94 begann, ist das schönste Beispiel für diese Ähnlichkeit forschungsintensiver Großprogramme mit den technologischen Auswirkungen der neuzeitlichen Geschichte der Kriegsführung. Auch die Kriegsmobilisierung der amerikanischen Wirtschaft unter Franklin Roosevelt zeigt diese Verbindung.

Die wichtigste Implikation dieser Verbindung widerlegt die landläufige Meinung vieler heutiger Pazifisten einer bestimmten ideologischen Ausrichtung. Es war nämlich die Entwicklung wissenschaftsintensiver Programme zur Verteidigung des modernen Nationalstaates gegen die antiken und feudalen Traditionen der Imperien und ihrer permanenten Kriege, welcher wir die neuzeitliche Militärdoktrin des Friedens verdanken. Machiavelli verdeutlicht dies in seiner Politik. Der Westfälische Frieden von 1648, auf den alle erfolgreichen Bemühungen um zivilisiertes Leben seither axiomatisch zurückgehen, drückt denselben Trend aus. Auch die Kriegspolitik von Benjamin Franklin u.a. 1776-83 beweist die Bedeutung des wissenschaftlichen Fortschritts für die Sicherung der Bemühungen um eine dem Frieden dienende Ordnung. Die moderne Theorie der Verteidigungsstrategie beruht weitgehend auf dem kombinierten Einfluß des "Wissenschaftssoldaten" Lazare Carnot und des deutschen klassischen Humanisten Gerhard Scharnhorst.

Die moderne Politik der strategischen Verteidigung - etwa mein Vorschlag, der später von Präsident Ronald Reagan als "Strategische Verteidigungsinitiative" (SDI, 1983) vorgelegt wurde - , nutzt die militärischen Auswirkungen eines Forschungsprogramms als Weg zum dauerhaften Frieden. Diese Chance wurde in den vergangenen 17 Jahren vertan, seit der damalige sowjetische Generalsekretär Jurij Andropow die von Präsident Reagan (und mir) vorgeschlagenen Gespräche darüber rundweg ablehnte und seit die utopische Fraktion - typisch waren die Kreise um meinen Feind General Daniel Graham innerhalb des amerikanischen Militärs und verwandter Stellen - sich implizit mit Andropow verbündete und alles tat, um das SDI-Programm in den USA selbst zu sabotieren. Eine Untersuchung der von Vauban geplanten, gebauten und befehligten Befestigungsanlagen sowie Carnots Darlegung des Prinzips der strategischen Verteidigung bestätigen die historischen Implikationen der von mir und Präsident Reagan vorgeschlagenen strategischen Verteidigung, vor allem zwischen 1979-86.

Heute werden "Forschungs-Crashprogramme" die technische Speerspitze der Bemühungen sein, die amerikanische und die Weltwirtschaft aus der derzeitigen Weltdepression heraus wieder zu nachhaltigem Wachstum zu bringen. Die politischen Auswirkungen der realwirtschaftlichen Vorteile solcher Programme sind erheblich, sie sollten uns aber nicht daran hindern, den noch wesentlicheren sozialen Aspekt wahrzunehmen.

Entscheidend ist: Ein Volk, das seine menschliche Identität in der kognitiven Natur des Individuums und seiner sozialen Beziehungen ausmacht, ist das einzige Menschenbild, das überhaupt einen dauerhaften Frieden auf dieser Erde schaffen kann. Alle anderen, utopischen Pläne erwiesen sich nur als Geschwätz von Narren, die sich mit ihren Torheiten selbst in den Krieg manövrieren. Vorschläge wie "Weltregierung", "Globalisierung" oder "Weltherrschaft des Rechts" sind die wahrscheinlichsten Ursachen langer weltweiter Kriege, wie sie sich nun auf der Erde auszubreiten beginnen. Typisch für solche Schrecklichkeiten ist der von H.G. Wells und Bertrand Russell unmittelbar nach dem Zweiten Weltkrieg betriebene Vorschlag, unter Androhung eines "präventiven Nuklearkriegs" eine "Weltregierung" durchzusetzen.

Frieden war niemals ein sich selbst erhaltender Zustand der Politik. Frieden - im Gegensatz zur bloßen vorübergehenden Abwesenheit von Krieg - erreicht man nur durch kognitiven Fortschritt, etwa im Bereich der klassischen Kultur und Wissenschaft, der im einzelnen und in der Nation das Bild vom Menschen als kognitives Wesen fördert.

Das wissenschaftsintensive Programm mit dem von ihm ausgehenden kulturellen Optimismus ist sowohl der beste Weg, einen Krieg zu gewinnen, als auch der sicherste Weg zum dauerhaften Frieden. Sein wichtigstes Kennzeichen ist die Beschleunigung der Rate der Entdeckung und Weitergabe neuer physikalischer Prinzipien zwecks Anwendung im industriellen Maschinenbau sowie auf breiter Ebene in der allgemeinen Produktion und im allgemeinen Verbrauch.

Die Lage verändern

Im vorangegangenen Kapitel betonte ich hinsichtlich der wirtschaftlichen Folgeerscheinungen des Kolonialismus, daß die relative Produktivität eines Unternehmens und seiner Angestellten jeweils mit der gesamtwirtschaftlichen Lage - etwa der Volkswirtschaft, in der die betreffenden wirtschaftlichen Aktivitäten stattfinden - sehr deutlich variiert. Eines der beeindruckendsten Beispiele dafür sind die Auswirkungen der Arbeit der Tennessee Valley Authority (TVA), durch die in der ganzen betroffenen Region die Arbeitsproduktivkraft in der Landwirtschaft und in der Industrie revolutioniert wurde.

Entgegen den typischen Behauptungen von Anarchosyndikalisten und ähnlichen Leuten ist es dabei nicht so, daß die Produktivität hauptsächlich vom Ort der Produktion aus in die unmittelbare Umgebung ausstrahlt. Die Produktivität wächst hauptsächlich über den Anstieg der potentiellen Produktivität einer ganzen Region oder Nation, wie die Geschichte der TVA auf so brillante Weise illustriert. Der wichtigste Faktor für die Bestimmung der potentiellen Produktivität einer Region ist, wie das Beispiel der TVA auf dramatische Weise demonstriert, die Entwicklung der grundlegenden wirtschaftlichen Infrastruktur, die den Rahmen für die jeweiligen Produktion liefert.

Kehren wir nun zurück zur früheren Diskussion des Wirtschaftsprinzips des "Relikts" oder "Fossils" in dem allgemeineren Sinne, der sich vor dem Hintergrund von Wernadskijs Noosphäre zumindest implizit ergibt.

Ein Beispiel: Die biologische Entwicklung schafft relativ höher entwickelte Arten und gleichzeitig eine größere Artenvielfalt. Diese neue Palette einander beeinflussender Spezies bildet wiederum den Ausgangspunkt für das erfolgreiche Auftreten neuer Arten oder Gattungen. In vergleichbarer Weise treten durch qualitative Veränderungen der Umgebung, wie etwa Verbesserungen des Verkehrswesens, der Energie- und Wasserversorgung sowie des Bildungs- und Gesundheitswesens, günstigere Bedingungen für die Entfaltung der Kognition zutage. Diese neuen Rahmenbedingungen bilden dann praktisch eine Art "fossiler" Rohstoffe, von denen das produktive Potential der Arbeitskraft abhängt. Die Einführung einer neuen Technologie in eine so verbesserte Lage verdeutlicht dann die reziproke Beziehung zwischen der Entdeckung neuer technischer Prinzipien und der praktischen Anwendung dieser Technologien in Form erhöhter realwirtschaftlicher Produktivität.

Aber man braucht nicht nur neue Arten und ihre fossilen Effekte; die Versorgung mit solchen Relikten muß entweder erneuert werden, besser noch durch neue Möglichkeiten ersetzt werden, wenn der Prozeß nicht durch Abnutzung schrumpfen soll. Dieses Phänomen ist ein weiteres Beispiel für die Bedeutung realwirtschaftlicher Zyklen.

Um das zu verdeutlichen, müssen wir genauer untersuchen, was der Begriff "technische Zusammensetzung der Beschäftigung" praktisch bedeutet.

Fragen Sie sich: "Wenn wir von ,Arbeitsteilung' reden, von welchem physischen Objekt reden wir dann?" Jedes Objekt muß eine innere Einheit aufweisen - sonst ist es kein Objekt, sondern lediglich eine grobe Beschreibung eines schlecht definierten realen oder vermeintlichen Effekts. In diesem Fall ist das richtige Objekt der "Anstieg der Arbeitsproduktivkraft". Das Subjekt dieses Objekts ist eine implizit meßbare Menge und Art von "Veränderung".

Fragen Sie dann: "Um welche Art von Veränderung handelt es sich? Mit welchem Maßstab messen wir sie?"

Wie ich bereits hervorgehoben habe, lassen sich wirtschaftliche Veränderungen nur auf langfristige Wirtschaftszyklen bezogen kompetent messen. Wir kommen später an geeignetem Ort noch zu der Frage, nach welchem Maßstab man definiert, wie groß eine "Volkswirtschaft als ganzes" ist. Betrachten wir für den Augenblick als Annäherung die Vereinigten Staaten im Zeitraum von zwei Generationen als Beispiel für eine solche "Volkswirtschaft als ganze".

Konstruieren wir nun so etwas wie die Keplersche "Umlaufbahn" dieses Zeitraums. Anders als bei den sich wiederholenden Bahnen des Keplerschen Planetensystems ist das Objekt bei dieser Bahn nicht das scheinbare Erreichen des relativ gleichen Punktes, sondern die Rate der Veränderung hin zu einem höheren Zustand.

Nehmen wir eine ganz einfache Annäherung. Statt einer elliptischen Bahn wählen wir eine Kettenlinie, möglichst einfach definiert, wie Leibniz u.a. diesen Begriff der physikalischen Krümmung definierten (im Gegensatz zu einer im "Elfenbeinturm" erdachten kreisförmigen Krümmung, oder der davon abgeleiteten Zykloide). In einer ersten Annäherung wäre das Ergebnis eines einzelnen langwelligen Zyklus annäherend das, was Ökonomen als funktionales Äquivalent einer "Kondratieff-Kurve" kennen: eine besondere Form einer umgekehrten Kettenlinie. In dem von uns gewünschten Modell wäre die tatsächliche Kurve das Ergebnis einer Zusammensetzung gestaffelter, sich überlappender Kurven dieser Art, deren Summe eine Art Achterbahn erfolgreicher, immer höherer Zyklen sein wird, hin zu einem höheren Niveau der potentiellen relativen Bevölkerungsdichte.

Die Aufgabe beim Entwurf einer längeren Periode von einer oder zwei Generationen besteht darin, eine Art "Superexperiment" zu entwerfen, durch das der angestrebte Effekt erzielt wird. Hier fängt der eigentliche Spaß an.

Wir bauen kein Modell für etwas, was bereits stattgefunden hat, sondern etwas, von dem wir erst noch entdecken müssen, wie wir es hervorbringen können. Wir müssen mehrere unterschiedliche Arten von Veränderung in unsere Überlegungen einbeziehen, wenn wir einen solchen experimentellen Plan aufstellen.

Beginnen wir mit dem modifizierten "Modell" der Noosphäre, das ich im vorangegangenen Kapitel als Abwandlung von Wernadskijs Definition erläutert habe. Dieses "Modell", das auf verschiedene bekannte Phänomene bezogen variabel ist, bietet uns die Grundlage für einen ersten Schritt zum Aufbau unseres Experiments: die Definition des Rahmens der funktionellen Beziehungen zwischen der Menschheit (der Gesellschaft) und dem Universum für die Bedingung, daß die relative potentielle Bevölkerungsdichte der Menschheit erhöht werden muß.

Bei dieser Untersuchung berücksichtigt man von Anfang an bekannte Eigenschaften, darunter die zyklischen Faktoren, die durch Verschleiß hervorgerufen werden. Da wir wissen, daß die Biosphäre einen "eingebauten" Faktor der Antientropie aufweist, besteht unsere Aufgabe darin, diese Antientropie durch geeignete menschliche Beiträge zu verstärken. Mit anderen Worten, wenn uns beispielsweise bekannt ist, daß ein wichtiger Teil der Biosphäre sich mit einer gewissen Geschwindigkeit selbst "wieder auffüllt" - wie etwa bestimmte Mineralien aus dem Inneren des Planeten an die Erdoberfläche gebracht werden - , und wenn wir wissen, daß unser Verbrauch schneller wächst als die scheinbar spontane "Wiederauffüllung", dann fragen wir: Wie kann der Mensch dieses Defizit entweder direkt oder auf andere Art wieder ausgleichen?

Aus Gründen, die offensichtlich sein sollten, ist die Aufgabe der Erforschung des Sonnensystems eine der besten experimentellen Fragen, die wir anpacken sollten. Der erste Schritt besteht natürlich darin, die Atmosphäre zu verlassen, im geostationären Umlaufbahnen Raumstationen zu errichten und mehr oder weniger regelmäßig auf dem Mond zu landen. Das ist die Vorbedingung für den nächsten Schritt, nämlich Reisen über die Erdbahn hinaus durch das ganze Sonnensystem. Dazu gehört als erster großer Schritt die Einrichtung einer bemannten Forschungsstation und vorgezogenen Operationsbasis auf dem Mars. Für den nächsten Schritt darüber hinaus müssen neuartige Brennstoffe und Antriebssysteme entwickelt werden, die uns den Flug in die Regionen der äußeren Planeten unseres Sonnensystems ermöglichen. Und so weiter.

Eine Aufgabe ist beispielsweise das sogenannte "Sänger-Projekt": ein Flugzeug mit luftatmendem Antrieb, das die Raumfähre mit sieben- bis achtfacher Schallgeschwindigkeit von der Erdoberfläche in die oberen Schichten der Atmosphäre trägt - womit man die Kosten erheblich senken könnte. Da man hier den Sauerstoff der Atmosphäre entnimmt, spart man die entsprechende Menge Sauerstoff an Treibstoff und damit an Gewicht ein, und die Kosten für den Transport einer Tonne Nutzlast in eine geostationäre Umlaufbahn werden um eine Größenordnung gesenkt.

Die Tatsache, daß wir Sauerstoff als Treibstoff benutzen, sollte uns daran erinnern, daß die Erdatmosphäre ebenso wie die Ozeane, Flüsse und Seen als fossiler Überrest lebender Prozesse entstanden ist. Der Raumflug ist kein Subjekt der abiotischen Physik, sondern ein Ausdruck der Gesetzmäßigkeit der Biosphäre und als Handlung Ausdruck der noch höheren Gesetzmäßigkeit der Noosphäre.

Das eigentlich Wichtige, wenn man sich solchen Herausforderungen stellt, ist folgendes: Die Lösung dieser Probleme bei der Erschließung des Weltraums jenseits der Erdatmosphäre verbessert auch entscheidend unsere Möglichkeiten, die Funktionsweise der Beziehungen zwischen Mensch und Natur innerhalb der Grenzen unserer Erde zu verstehen. Die Implikationen dieser Mission sind im Rahmen der ständigen gegenwärtigen und zukünftigen Aufgabe zu sehen, die potentielle relative Bevölkerungsdichte zu erhöhen. Das ist die einzige wissenschaftliche Methode für die Definition einer echten Wirtschaftswissenschaft und der heute erforderlichen Wirtschaftspolitik. Von diesem und keinem geringeren Standpunkt aus muß man die Wissenschaft und Politik der Noosphäre unter den Umständen der heutigen weltweiten Systemkrise definieren.

Man betrachte nun in diesem Zusammenhang die Integralfunktionen, die diesen integralen "Umlaufbahnen" entsprechen. Betrachten wir die "Struktureigenschaften" der Arbeitsteilung innerhalb der Gesamtarbeitskraft unter diesem Gesichtspunkt. Wenden wir uns danach wieder der Ausgangsfrage zu: Wie bestimmen wir den momentären (d.h. kurzfristigen) Faktor der Veränderung in Hinsicht darauf, wie er den langfristigen Zyklus als ganzes verändert?

Es ist wünschenswert, für den angestrebten Zweck eine formale Geometrie zu entwickeln - wobei es unverzichtbar ist, daß das Konzept einer solchen physikalischen Geometrie im Geist des Ökonomen als Gestalter von Politik fest verwurzelt ist. Daher verdienen die folgenden illustrierenden Punkte besondere Aufmerksamkeit.

Der bewußte Anstieg der potentiellen relativen Bevölkerungsdichte einer Gesellschaft ist nur möglich durch den willentlichen Prozeß eines kulturellen Fortschritts auf klassischen Bahnen. Der typische Ausdruck eines solchen Handelns in der Bevölkerung einer Nation - insbesondere auch der Arbeitskraft - ist das Weitervermitteln von Entdeckungen universeller physikalischer Prinzipien innerhalb und quer durch die soziale Arbeitsteilung in der Gesamtbevölkerung. Dieses Entdecken und Vermitteln universeller physikalischer Prinzipien und die daraus abgeleiteten technischen Nebenprodukte sind die Wirkungsform, welche die antientropische Krümmung der willentlichen praktischen Beziehung der Menschheit zum Universum definiert.

Dieses Entdecken und Weitervermitteln geschieht durch die Bildung und sonstige Entwicklung der Bevölkerung. Es konzentriert sich auf die Beziehung zwischen der Produktion und dem Gesamtsystem durch die Vermittlung solchen Wissens innerhalb der Arbeitsteilung in der Produktion und verwandter Aktivität, aber auch über diese Arbeitsteilung hinaus. Betrachten wir daher die Beschäftigungsstruktur der Gesamtarbeitskraft.

Der Fortschritt bei der langfristigen Entwicklung der realisierten Arbeitsproduktivkraft von Volkswirtschaften ist verbunden mit bestimmten Trends der Veränderung innerhalb der Struktur der Arbeitsteilung der Gesamtgesellschaft, besonders in den Bereichen der Produktion und Produktentwicklung als solcher. Typisch dafür sind Fortschritte beim allgemeinen kulturellen Niveau des sozialen Verhaltens innerhalb der Gesellschaft wie auch das wissenschaftliche und technische Fortschreiten der Bildung und der kompetenten Praxis der Arbeitskraft insgesamt. Betrachten wir den letzteren Aspekt zuerst, um dann von oben herab zur kulturellen Entwicklung der Gesamtgesellschaft zurückzublicken.

Beginnen wir mit der Basis der allgemeinen Arbeitsteilung im produktiven Bereich, dem Arbeiter. Die Verbesserung der Qualifikation, die Erhöhung des Lebensstandards der Haushalte und die Steigerung des Einflusses klassischer Kultur in der Arbeiterschicht ist die angemessene Grundlage für eine erste annähernde Schätzung des Produktivpotentials der Gesamtarbeitskraft. Die Verteilung der Beschäftigung auf qualifizierte, weniger qualifizierte und unqualifizierte Kräfte bildet die erste Annäherung an eine Schätzung der relativen Produktivität der Gesamtarbeitskraft. Die physisch definierte Kapitalintensität der Investitionen in die Produktion und Produktentwicklung verfeinert diese grobe Schätzung. Entscheidend ist dabei die Rate, mit der fortschrittliche Technologien entwickelt werden und in den Produktionsprozeß und die Produktentwicklung einfließen.

Diese Schätzungen müssen dann qualifiziert werden, indem man den Stand von Entwicklung und Erhalt grundlegender wirtschaftlicher Infrastruktur einbezieht. Die unmittelbare Wechselwirkung zwischen der Infrastruktur und dem Entwicklungsniveau der gesellschaftlichen Arbeitsteilung in der Produktion ist der entscheidende Faktor für die relative Produktivität ganzer Volkswirtschaften.

Einen verfeinerten Schätzwert des physischen Outputs als solchem bringt uns in erster Annäherung die direkte und indirekte Rolle des Staates bei der Förderung eines "Wissenschaftsmotors" für die Entwicklung von Infrastruktur sowie Entwicklung, Produktion und Verteilung der Güter. Diese aufgabenorientierte Rolle für die allgemeine und höhere Bildung und für Forschung, Entwicklung und Herstellung im Werkzeugmaschinenbau sollte bei der Arbeit der Regierung zur Förderung technikintensiven Fortschritts für die Steigerung der potentiellen relativen Bevölkerungsdichte in der Volkswirtschaft im Mittelpunkt stehen.

Zu dieser Betonung auf Wissenschaft und Technik muß etwas hinzukommen, das man am treffendsten als Krieg gegen die Gefahren einer "kulturellen Verstopfung" bezeichnet. Wenn die klassischen Formen kulturellen Lebens nicht allgemein praktiziert werden und dazu noch eine klassische Bildung an den Schulen und Universitäten fehlt, so entwickelt sich daraus in der Regel tendenziell eine Bevölkerung, die zuerst in ihrem wissenschaftlich-technischen Potential eingeschränkt ist und später praktisch unfähig ist, so auf die Wirklichkeit zu reagieren, wie dies für eine erfolgreiche Wirtschaft nötig ist.

Die vielleicht einfachste beispielhafte Illustration dieses Punktes ist, wie bewußt und entschlossen im 18. Jahrhundert Abraham Kästner, Gotthold Ephraim Lessing und Moses Mendelssohn die Prinzipien von Gottfried Wilhelm Leibniz und Johann Sebastian Bach gegen die dekadente "Aufklärung" des Abtes Antonio Conti u.a. verteidigten - ein Kampf, der die Amerikanische Revolution und praktisch alle großen kulturellen Beiträge zum Fortschritt der europäischen Kultur im späten 18., im 19. und 20. Jahrhundert möglich machte.

Das gegenteilige Beispiel ist die bewußte Zerstörung der Kultur insbesondere in Nord- und Südamerika und Westeuropa durch die Verbreitung von Gegenkulturseuchen wie den Existentialismus in der Nachkriegszeit und der Beginn der "jugendlichen Rock-Drogen-Sex-Gegenkultur" auf Massenbasis in den 60er Jahren. Große Teile der heutigen Studenten sind in Naturwissenschaften und Geschichte praktisch funktionelle Analphabeten - und so erleben wir im Alltag regelmäßig, daß als Folge davon die heutigen Universitätsabsolventen unfähig sind, allgemein mit der Wirklichkeit der heutigen Technik oder speziell mit der wirtschaftlichen Wirklichkeit Schritt zu halten.

Die gerade aufgezählte Liste von Faktoren beschreibt die typischen Kennzeichen dieses "Wirkungsobjekts", das die potentielle und tatsächliche Produktivkraft einer Wirtschaft über eine Spanne von ein bis zwei Generationen verändert. Man kann untersuchen, ob die Veränderung im gegenwärtigen Augenblick zum Besseren, Mittelmäßigen oder Schlechteren läuft, indem man die momentane Wirkung als Widerspiegelung der entsprechenden langfristig-zyklischen Tendenz betrachtet. Das ist, in aller Kürze, das Wesen kompetenter langfristiger Prognose. Das ist der Schlüssel dazu, die Politik heute so auszurichten, daß sie sich auf die Gegenwart und die Zukunft richtig auswirkt.

Für eine angemessene Definition von "Produktivität" muß man also die Wechselwirkung zwischen zwei Faktoren verstehen: einerseits den Eigenschaften der wirtschaftlichen Gesamtumgebung, in der die Produktion stattfindet, und andererseits den Auswirkungen der Qualität relativer Technologie, die innerhalb dieser Umgebung örtlich benutzt wird. Die Technik strahlt auf die Umgebung aus und verändert sie, und die Umgebung bestimmt, wie sich die Technik auswirkt. Mathematisch ausgedrückt: Für die Umgebung ist eine bestimmte Krümmung der physikalischen Raumzeit typisch, welche die Gesellschaft zu der betreffenden Zeit verkörpert - die neue Technik bildet den Faktor der Veränderung in dieser Krümmung. Man verbindet diese beiden Überlegungen im konzeptionellen Rahmen einer physikalisch-wirtschaftlichen Riemannschen Differentialgeometrie. Dies ist ein weiteres Beispiel dafür, wie realwirtschaftliche Zyklen auftreten.

Betrachten wir nun kurz, wie das "freie Unternehmertum" in dieses Bild der politischen Gestaltungsfunktion langfristiger Vorhersagen hineinpaßt. Blicken wir während eines imaginären Weltraumfluges zurück auf das "freie Unternehmertum".

Wenn wir ein "Raumfahrt-Crashprogramm" entwerfen, gehen wir von drei Elementen aus: Erstens verfügen wir über ein Repertoire bekannter physikalischer Prinzipien und produktiver Kapazitäten; zweitens können wir zumindest vorläufig festlegen, welche derzeit noch unbekannten Prinzipien und Technologien für den Erfolg der Mission voraussichtlich notwendig sein werden; und schließlich müssen wir einige Grundparameter als Rahmenbedingungen für das Erreichen des Hauptziels der gesamten Mission definieren. So gesehen ist ein Raumfahrt-Crashprogramm eine - qualitativ viel konzentriertere - Variante der langfristigen "indikativen Wirtschaftsplanung" der Fünften Republik unter Präsident de Gaulle.

Man sollte vor diesem Hintergrund studieren, welche katastrophalen Folgen es für die Großregion um Boston (Massachusetts) hatte, als 1966-67 viele Teile von Kennedys Raumfahrtprogramm radikal zusammengestrichen wurden. Man betrachte, was dieser folgenschwere langfristige Trend aus diesem Teil Neuenglands heute gemacht hat. Wissenschaftsintensive Entwicklungsprogramme - wie Franklin Roosevelts Tennesee Valley-Projekt - lassen sich in die Potentiale des örtlichen privaten Unternehmertums immer leicht einfügen, wenn der Rahmen der Mission breit und wohl definiert ist.

Derartige "Crashprogramme" wecken die kognitiven Impulse des kompetenten Unternehmers, Wissenschaftlers, innovationsfreudigen Ingenieurs usw. Auch der von P.M.S. Blackett beschriebene "Operations Research Circus" in England illustriert diesen Punkt. Teilweise war die Wissenschaft in diesem "Zirkus" ein ziemlicher Schrott, und der Versuch, nach dem Krieg in den USA die Idee von "Operations Research" bürokratisch festzuschreiben, war großenteils ein Alptraum an Elfenbeinturm-Wissenschaft. Aber wenn man nicht so töricht ist, wird man, wenn man Unternehmer und andere mit einer wissenschaftlichen Aufgabe im Rahmen einer nationalen Mission anspornt, immer das relativ beste Resultat erhalten, wie es auf keine andere Weise möglich ist.

Das ist der entscheidende Unterschied zwischen "indikativer Planung" und "bürokratischer" Verwaltung. Organisation, Aufbau und Regulierung großangelegter grundlegender Wirtschaftsinfrastruktur durch die Regierung ist unverzichtbar und bildet etwa die Hälfte des gesamten Ausstoßes eine gesunden modernen Volkswirtschaft. Aber der Grad des Erfolgs hängt ab von einer symbiotischen Partnerschaft mit dem unternehmerischen Faktor - landwirtschaftliche Familienbetriebe und hauptsächlich mittelständische Produktionsbetriebe - und einer allgemeinen Vorliebe für die klassische, kognitionsbetonte Tradition in den Chefetagen der gesellschaftlichen Institutionen.

Das forschungsintensive "Crashprogramm" steht also stellvertretend für die Kombination aller dieser verschiedenen wesentlichen Faktoren einer Volkswirtschaft. Ein solches Programm mit einer guten Zielrichtung ist der beste Antrieb jeder Wirtschaft.

wird fortgesetzt

 

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