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Aus der Neuen Solidarität Nr. 45/2002

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Die Macht der Vernunft

- 2. Folge -
Kindheit und Jugend in New Hampshire

Von Lyndon LaRouche

Am 8. September 2002 ist Lyndon LaRouche 80 Jahre alt geworden. Die Leser dieser Zeitung kennen seine weitsichtigen Analysen, treffsicheren Prognosen und programmatischen Vorschläge zur Überwindung der Krise. Leben und Werdegang dieses Vertreters des "besseren Amerika" kennen hingegen nur wenige. Wir veröffentlichen deshalb in den kommenden Wochen Teile aus LaRouches Autobiographie "Die Macht der Vernunft", die 1987 erschien und natürlich schon lange vergriffen ist.

Ich wurde am 8. September 1922 in Rochester (New Hampshire) als Sohn einer tiefgläubigen Quäker-Familie geboren. Solange ich denken kann, war das Leben in der elterlichen Familie von einer Familientradition geprägt, die fünf Generationen zurückblickte.

Mein Vater war Lyndon Hermyle LaRouche senior; er starb 1983. Er war der Sohn Joseph LaRouches, der auf einem Umweg über Paris aus einer entlegenen Gegend der kanadischen Provinz Quebec in die USA eingewandert war. Dieser Joe LaRouche, ein energischer und tatkräftiger Mann, war der Sohn eines Geigenbauers. Er war Apotheker und Vertreter der United Shoe Machinery Corporation und hatte es zu einem gewissen Wohlstand gebracht. Die Mutter meines Vaters, Ella, war französisch-irischer Abstammung. Während meiner Kindheit war mein Vater bei der örtlichen Niederlassung der United Shoe Machinery Corporation angestellt, die die Schuhfabriken im Raum Rochester belieferte.

Die Vorfahren meiner Mutter Jessie LaRouche, geb. Weir, stammten aus Schottland und England.

Der englische Zweig der Familie, die Woods, gehörte zu den Quäkern, die sich in den siebziger Jahren des 17. Jahrhunderts in Pennsylvanien angesiedelt hatten. Mein Ururgroßvater mütterlicherseits, Pastor Daniel Wood, gehörte zur Generation Abraham Lincolns und stand genau wie Lincoln auf Seiten Henry Clays und der Partei der American Whigs. Daniel Wood, ein engagierter Gegner der Sklaverei, war von Carolina nach Ohio gezogen, wo er in der kleinen Gemeinde Woodbury im Delaware County zu Ansehen kam. Entlaufene Sklaven aus den Südstaaten fanden bei ihm Unterschlupf auf dem Weg in die Städte des Nordens.

Mein Großvater mütterlicherseits, Pastor George Weir, war im Alter von zwei Jahren mit seinen Eltern in die Vereinigten Staaten gekommen. Sein Vater, ein schottischer Dragoner und Berufssoldat mit traditionellen Sympathien für die Sache der "Grauen", hatte Schottland verlassen, um als Freiwilliger im 1. Kavallerie-Regiment von Rhode Island zu dienen. Nach dem Bürgerkrieg sah man ihn als Stammgast in den Kneipen von Fall River (Massachusetts). Sein Säbel hatte damals in Fall River einen legendären Ruf, bis meine Urgroßmutter seinen Bruder, den Schiffskapitän William Weir, überredete, den Säbel, mit dem mein Urgroßvater zum Schrecken der Trinkkumpane herumzufuchteln pflegte, aus dem Verkehr zu ziehen.

Der junge George Weir kam in Kontakt zu der religiösen Erweckungsbewegung und entschloß sich, Geistlicher zu werden. Später ging er nach Columbus (Ohio), um im dortigen Armenviertel die Seelsorge zu übernehmen. Er heiratete Martha Wood, Pastor Daniel Woods Enkelin, und betreute bis 1940 als Pastor der United Brethren Church zahlreiche Kirchengemeinden in Ohio.

Aus Gründen, die ich nur teilweise verstehe, wurde mein Charakter durch meine beiden Großväter stärker geprägt als durch meine Eltern. Zum Teil lag das daran, daß meine Großväter sehr starke Persönlichkeiten waren, weit mehr als beide Eltern. Obwohl mein Vater viel Humor hatte (im Gegensatz zu meiner Mutter), kenne ich kaum jemanden, der in dieser Hinsicht mit meinen Großvätern hätte mithalten können.

Ich erinnere mich bis heute sehr lebhaft an einige Kostproben von Joe LaRouches Humor, obwohl er schon 1931 starb. Zum Beispiel an jenen Nachmittag, an dem wir Snookys verlorengegangenen Schwanz suchten.

Schon Snookys Existenz war ein lebendiges Beispiel für Großvaters Humor. Snooky war ein großer, nur halbwegs gezähmter Rotluchs, den nur mein Großvater ungestraft anfassen durfte. Snooky verbrachte den größten Teil des Tages unter dem eisernen Küchenherd des Hauses in der President Street in Lynn (Massachusetts). Man bemerkte seine Anwesenheit erst, wenn man in die Nähe kam; sofort kam ein eindrucksvolles, bedrohliches Fauchen unter dem Herd hervor.

Meine Großmutter durfte Snooky füttern, aber nicht anfassen; trotzdem hörte er manchmal auf sie.

In den zwanziger Jahren kam es öfter vor, daß Landstreicher von Haus zu Haus zogen und um eine milde Gabe baten oder für eine Mahlzeit und sonstige Unterstützung ihre Arbeit anboten. In solchen Fällen drehte meine Großmutter sich in der Tür um und rief mit ihrem mädchenhaften Sopran: "Hier, Snooky!" Sofort schoß Snooky unter dem Herd hervor und stürzte sich wie ein Tiger auf den ungebetenen Besucher. Ich erinnere mich an zwei Fälle, wo ein Landstreicher in Angst und Schrecken das Weite suchte, während Snooky und meine Großmutter, jeder auf eigene Art zufrieden, ihm nachblickten.

Als ich sieben Jahre alt war, fiel mir auf, daß Snooky keinen richtigen Schwanz besaß, wie ihn, so dachte ich, alle Katzen haben müßten. Ich fragte meinen Großvater danach. Nachdem wir uns eine Weile darüber unterhalten hatten, meinte er: "Vielleicht liegt Snookys Schwanz unten auf dem Müllplatz. Wir werden ihn suchen und ihm zurückgeben." Ich wurde in den Beiwagen von Großvaters Motorrad gesetzt, und los ging es, an diesem Sommertag im Jahre 1929. Wir steuerten mehrere Müllplätze an, aber unser Suchen blieb ohne Erfolg. Nun kam Großvater auf die Idee, daß Snookys Schwanz vielleicht nachwachsen würde, wenn wir ihm nur genug Fischköpfe zu fressen gäben. Weiter ging es also mit dem Motorrad an den Strand im benachbarten Swampscott, wo ich eine Tasche voll Fischköpfe anvertraut bekam, die Snooky dann unter seinen Herd zog und genüßlich knurrend verzehrte.

Mein Großvater ging früh in Pension, weil er an Krebs erkrankt war. Er beschloß, noch etwas zu unternehmen, was er in seinem Leben bisher nicht erlebt hatte, und so fuhr er nach Brasilien und den Amazonas hinauf, wo er auch jagen ging. Unter den Trophäen, die er mit nach Hause brachte, waren zwei Alligatorenhäute. Wie hatte er es bloß angestellt, daß die Kugeln durch die dicke Haut drangen? wollte ich wissen. Daraufhin erzählte er mir lang und ausführlich, wie man den Alligator dazu bringen muß, das Maul aufzureißen.

An einem Tag im Jahr 1931 erfuhr ich, daß mein Großvater im Sterben lag. Mein Vater setzte mich neben sich in den Ford, und wir fuhren von Rochester nach Lynn. Mein Großvater wollte mich noch einmal sehen, bevor er starb. Der Pfarrer war gerade bei ihm gewesen, als ich nach oben in sein Schlafzimmer durfte. Ich sah, daß er sehr geschwächt war, und er konnte kaum noch sprechen. Er nahm meine Hand in seine und segnete mich. So nahmen wir Abschied. Mein Vater und ich fuhren zurück nach Rochester, wo meine Mutter mit dem Essen auf uns wartete. Sie stellte halbierte Grapefruits auf den Küchentisch, als das Telefon klingelte. Mein Großvater war soeben gestorben. Mein Vater versuchte, seine Grapefruit zu essen. Er aß einen Löffel davon, dann legte er ihn weg. Er weinte. "Jessie, ich kann nicht essen; alles schmeckt nach Vaters Leichnam." Ich umarmte ihn und versuchte, ihn zu trösten, und weinte dabei leise und hemmungslos.

Dieses Erlebnis prägte einen wichtigen Zug meines Charakters. Nach dem Tod meines Großvaters, schon am Tag der Beisetzung, entbrannte Streit um die Aufteilung des Erbes. Ich war entsetzt. Die schmerzvollen Worte meines Vaters beim Essen der Grapefruit verfolgten mich; der Streit kam mir vor wie ein kannibalistischer Akt. Diese Habsucht und Kämpfe um die Rangordnung haßte ich sofort. Diese Haltung habe ich mein Leben lang bewahrt, denn ich weiß, daß ich dadurch glücklicher und ein besserer Mensch bin.

Der christliche Glaube meines Großvaters George Weir beeindruckte mich wesentlich stärker als das evangelische Quäkertum, dem meine Eltern verpflichtet waren. George Weir scheute sich nicht vor Verantwortung für das Geschick der Menschheit; er wurde schon zu Lebzeiten zur Legende, unter anderem weil er einmal persönlich eingriff, um bei einem Streik in seinem Pfarrbezirk Blutvergießen zu verhindern, obwohl man ihm gedroht hatte, er solle sich nicht einmischen, wenn ihm sein Leben lieb wäre. Vielleicht zeigte sein Mut etwas vom schottischen Dragoner, doch entsprang er auch seiner Auffassung von der Pflicht eines Christen. Es ist keineswegs kindliche Begeisterung über die Großeltern, wenn ich ganz objektiv sage, daß George Weir ein wahrhaft liebender und liebenswerter Mensch war, dessen herzlichen, umwerfenden Humor ich niemals vergessen werde.

Schon bevor ich in die Schule kam, lebte ich mehr in der Welt der Erwachsenen als in der meiner Altersgenossen. Im Mittelpunkt unseres Familienlebens stand die "Kirchenarbeit", was für meine Mutter als Pastorentochter eine Selbstverständlichkeit war. Mein Vater unterstützte sie hierin bis zu jenem Tag im Jahre 1978, als die Krankheit sie niederwarf, an der sie wenige Wochen später starb. Ich hatte es nie gerne, als "Mutters kleiner Junge" bezeichnet zu werden; schon damals war ich überzeugt, daß ich ein unabhängiger Mensch mit eigenem Geschick war. Dennoch fand ich mich mit den Beschäftigungen ab, denen ich mich an mehreren Abenden der Woche und sonntags fast den ganzen Tag lang widmen mußte.

Wenn man weiß, was protestantisches Kirchenleben damals bedeutete, wird man leichter ermessen, was während meiner Kindheit und Jugend auf mich einwirkte. Meine Mutter und mein Vater gehörten im Rochester der zwanziger Jahre zum protestantischen Establishment. Kirchlichen Persönlichkeiten, die Rochester besuchten, wurde geraten, meine Eltern aufzusuchen, und die meisten waren während ihres Besuchs in der Gemeinde einmal zum Essen bei uns zu Gast. Die Gespräche, denen ich bei solchen Gelegenheiten lauschte, beschleunigten mein Interesse an der Lektüre der Erwachsenen, so daß ich schon im jugendlichen Alter belesener war als die meisten Erwachsenen.

In jener Zeit sagte man bei einem vorehelichen Verhältnis, das noch nicht ganz so bindend war wie die offizielle Verlobung, das Paar "sei sich einig". Später, unter den Schülern der English High School in Lynn (Massachusetts), hieß es in diesem Fall, man "gehe fest miteinander", ein Ausdruck, der während des Zweiten Weltkrieges einen vielsagenden Beiklang bekam - jedenfalls ist dieser Bedeutungswandel mir in Erinnerung. Ähnlich "einig" war die Familie sich während meiner Kindheit und Jugend, daß ich für den Beruf des Geistlichen oder höchstens noch für einen wissenschaftlichen Beruf bestimmt war. Deshalb durfte ich mich schon von Kindheit an mit einschlägiger Erwachsenenlektüre beschäftigen. Ich durfte zu diesen Themenbereichen frühzeitig Fragen stellen und mich, wenn auch bescheiden, an Gesprächen der Erwachsenen beteiligen.

So rückte mein erster Tag in der Grundschule von Rochester heran. Er begann mit einem feierlichen Familienritual.

Meine Mutter führte mich in das kleine Eßzimmer, wo Vater das Frühstück einnahm. Während mein Vater die Zeremonie vollzog, sah meine Mutter zu, als wolle sie für irgendeine mysteriöse Instanz einen Bericht darüber anfertigen. Ich kann mich heute nur noch bruchstückhaft an die Worte erinnern, die mein Vater sprach, aber genug, um den Kern seiner Rede getreu wiederzugeben. Am lebhaftesten kann ich mich an die Wirkung erinnern. Das richtige Wort dafür ist "ehrfurchtgebietend".

Er sagte ungefähr folgendes: "Du bist ein Quäker. In der Schule werden die Jungen sich prügeln. Du wirst das nicht mitmachen, auch dann nicht, wenn man dich schlägt." Ich war wie betäubt. Ich nahm in mich auf, was die Worte bedeuteten.

Einige Jahre später hörte ich die Geschichte, wie im Glockenturm der Grundschule von Woodbury, deren Rektor mein Urgroßvater Wood war, ein Ziegenbock auftauchte. Mein Urgroßvater hatte zum Schuljahresbeginn einen neuen Lehrer eingestellt. Am ersten Schultag verkündete dieser den Schülern, welches Verhalten er von ihnen erwartete. Über vierzig Jahre später erfuhr ich, daß die Liste der Gebote und Verbote zum größten Teil aus Verboten bestand. Aus irgendeinem unerfindlichen Grund war es zum Beispiel verboten, einen Ziegenbock vom Bauernhof meines Urgroßvaters auf den Glockenturm der Schule zu bringen. Unvermeidlich tauchte eines Nachts ein Ziegenbock auf dem Glockenturm auf.

Bis zu diesem Augenblick im Eßzimmer war der Gedanke an Prügeleien in der Schule mir völlig fremd gewesen. Was mein Vater sagte, kam mir fast vor wie die Belehrung, keinen Ziegenbock auf den Schulturm zu bringen. Doch ich konnte mir vorstellen, was er mit "Prügeleien in der Schule" meinen könnte. Noch deutlicher begriff ich den feierlichen Ernst dieser Belehrung. Ich gelobte feierlich, ein guter Quäker zu sein. Meine Eltern blickten sich schweigend an. Mein Vater verabschiedete mich und gab mir abschließend den Rat auf den Weg, ein "braver Junge" zu sein. Meine Mutter brachte mich zur Schule.

Alle diese Umstände von Elternhaus und Kindheit übten zusammen eine besondere Wirkung auf mich aus. Ich war keineswegs ein "normaler Junge", wie man es in meiner Kindheit und Jugend erwartete. Schläge einzustecken, ohne zurückzuschlagen, und darüber hinaus auch noch schwerste Provokationen zu ertragen, war ein wichtiger Aspekt meiner Erfahrungen, aber zweitrangig.

Obwohl meine Familie in den zwanziger Jahren relativ wohlhabend war und die Wirtschaftsdepression der dreißiger Jahre ohne die Katastrophen überstand, die viele Familien erleiden mußten, herrschte in unserer Familie eine Art "vornehme Armut". Das gehörte ebenso zur Familientradition wie alles andere. Meine Mutter war in einer Pastorenfamilie aufgewachsen, und Joe LaRouche vertrat, obwohl er recht wohlhabend war, eine Art frankokanadischen Geiz aus Überzeugung. Er war gelegentlich großzügig, wenn Pflichtgefühl oder Liebenswürdigkeit ihn dazu veranlaßten, aber er glaubte fest daran, daß man "möglichst wenig ausgeben" müsse. Mein Vater, dem das unerschöpfliche Selbstvertrauen seines Vaters mangelte, war naturgemäß knauseriger als mein Großvater.

Dieser Grundsatz "vornehmer Armut" hatte noch weitere wichtige Aspekte. Beide Zweige meiner Familie gehörten zum "amerikanischen Junkertum". Die Woods aus Woodbury gehörten zweifellos zur Oberschicht der Quäker. Ebensolches Ansehen genoß Joe LaRouche in der Gemeinde. Er war ein Mann, dessen Leistungen, Stellung als Grundbesitzer, Auslandsreisen, Unabhängigkeit und sorgfältig angelegter Wohlstand dazu beitrugen, daß seine Meinung unter seinen französischsprachigen alten Freunden und bei anderen Kreisen, in denen er verkehrte, etwas galt. Joe LaRouche war ein Mann der Tat. Er baute zum Beispiel einen der ersten Rundfunkempfänger, den es in Lynn (Massachusetts) gab, und im Alter von 60 Jahren kaufte er zum Schrecken der Familie ein Motorrad und begann, wie wild durch die Gegend zu fahren. (Der nachträglich erworbene Beiwagen war ein Zugeständnis an die Familie.)

wird fortgesetzt

 

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