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Aus der Neuen Solidarität Nr. 46/2002

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Das Amerikanische System der politischen Ökonomie

Von Lyndon LaRouche
- 2. Teil -

Die folgende Schrift wurde am 7.Oktober 2002 von Lyndon LaRouches Wahlkampfkomitee für die US-Präsidentschaftswahl 2004 veröffentlicht.


Das anglo-holländische Weltsystem
Das venezianische System

2. Den Schleier der Sinneswahrnehmung zerreißen

Nützliches und schädliches Geld

Das anglo-holländische Weltsystem

Der Schlüssel für das tragische Versagen der bisherigen neuzeitlichen Geschichte ist das venezianische Modell, das noch heute in den Zentralbanksystemen übel nachwirkt. Die Spielregeln, die diese Bankensysteme den Nationen aufzwingen, sorgten für genau jenen unnatürlichen Zustand, den Liu in seinem Kommentar nicht erkannt hat (siehe letzte Folge). Wie ich zeige werde, liegt der Irrtum seines Kommentars darin, daß er diese künstlichen Randbedingungen implizit akzeptiert. In seiner Argumentation begrenzt er die vermeintlich verfügbaren Optionen auf Praktiken, die eine weitere Vorherrschaft dieser tödlichen Krankheit des mittelalterlichen Bankenwesens akzeptieren - eine Krankheit, die heute die Dinosaurier des Zentralbankwesens und verwandter Praktiken ebenso dem Untergang weiht wie damals im "neuen finsteren Zeitalter" in der Mitte des 14. Jahrhunderts. Lius Irrtum ist mit anderen Worten kein zufälliger Irrtum, sondern der gleiche systemische Fehler wie der aller typischen Lehreinrichtungen heute. Er übernimmt implizit die verbreiteten, falschen historischen Grundannahmen über den Unterschied zwischen einem fundierten, korrekt staatlich regulierten Bankenwesen und der schädlichen Rolle von Banken in modernen agro-industriellen Volkswirtschaften.

Die Geschichte der europäischen Zivilisation seit etwa 200 v.Chr. gliedert sich in drei lange Phasen. Die erste Periode wurde von Rom und dessen Hinterlassenschaften beherrscht, und endete mit der aufkommenden neuzeitlichen Zivilisation in Europa während der Renaissance des 15. Jahrhunderts mit Italien im Zentrum, als die klassisch-griechische Tradition in Wissenschaft und Kunst wiederbelebt wurden. Dieser Renaissance verdanken wir die Geburt der ersten souveränen Nationalstaaten, nämlich Frankreichs unter Ludwig XI. und Englands unter Heinrich VII., deren Grundprinzip das Gemeinwohl war - jenes Prinzip, das man im klassischen Griechenland unter dem Begriff agape kannte, der Alternative des Sokrates zu den üblen Praktiken von Thrasymachos und Glaukon.

Die zweite Periode, manchmal als "kleines neues finsteres Zeitalter" bezeichnet, drehte das Rad der Geschichte wieder zum Feudalismus zurück. Als dieses "kleine finstere Zeitalter" bezeichnet man den Zustand der von Venedig und dessen Verbündeten, den Habsburgern, angezettelten Religionskriege von 1511 bis zum Westfälischen Frieden 1648. Diese Häufung von Schrecklichkeiten war die Zeit, in der die venezianischen anti-klassischen, romantischen Traditionen, die das mittelalterliche Europa in das "neue finstere Zeitalter" des 14. Jahrhunderts geführt hatten, unter habsburgischer Führung wiederbelebt wurden. In dieser furchtbaren Zeit von 1511 bis 1648 wurde zwar bei einer Minderheit der klassische Einfluß stärker - Sir Thomas More (Morus), François Rabelais, Cervantes, Gilbert, Shakespeare, Heinrich IV. von Frankreich und Kepler sind nur einige typische Beispiele - , doch die politische Macht lag vor allem in den Händen der Schrecklichkeit.

Die dritte Periode, welche die Gegenwart einschließt, ist weltweit immer mehr beherrscht von dem sich auch heute noch weiter entfaltenden Konflikt zwischen der aufkeimenden späteren amerikanischen Republik von 1789/1865 und dem imperialen System finanzoligarchischer Seeherrschaft, das dem venezianischen Modell folgt. Dieser an Venedig orientierte Einfluß zeigte sich in dem unmoralischen Liberalismus von Locke, Hume, Adam Smith und Jeremy Bentham bei den Gegnern der amerikanischen Verfassung unter der niederländischen und britischen Monarchie. Das typischste Kennzeichen dieser liberal-monarchischen Form imperialer Seemacht war und ist das venezianische Modell: eine Symbiose aus Staats- und finanzoligarchischer Macht, die über die Tyrannei eines "unabhängigen", privat kontrollierten Zentralbanksystems ausgeübt wird.

Bei dieser modernen Fortsetzung des venezianischen Modells tritt eine fanatisch abergläubische, primitive Anbetung des Geldes - des bloßen Symbols von Reichtum - an die Stelle des realen Anwachsens von Wohlstand, der sich im Anstieg der relativen Bevölkerungsdichte der Menschheit ausdrückt. Die heutige Misere der Weltwirtschaft ist hauptsächlich eine natürliche Folge jener um sich greifenden Geisteskrankheit namens "Monetarismus".

Unser Planet befindet sich immer noch in dieser dritten Periode der neuzeitlichen europäischen Zivilisation. In dieser Periode übten insbesondere drei herausragende Initiativen der patriotischen Tradition der USA eine starke positive Wirkung auf das Schicksal von Nationen auf dem ganzen Planeten aus.

Die erste war die Gründung der amerikanischen Republik 1776-89 - einer Republik, welche die britische Monarchie und die Habsburger zwischen 1782 und 1863 wiederholt aus dem Gedächtnis der Welt zu tilgen suchten.

Die zweite war das Vorbild Präsident Abrahams Lincolns nicht nur bei dem Sieg über die verräterischen Konföderierten - die von der gleichen Kombination aus britischen, napoleonischen und spanisch-monarchischen Interessen mitgetragen wurden, die auch Mexiko unter dem habsburgischen Tyrannen Maximilian vergewaltigten - , sondern auch bei der Entwicklung der USA zu einem vorbildlichen agro-industriellen Nationalstaat, wie ihn die ganze Welt bei der Jahrhundertfeier in Philadelphia 1876 erleben konnte. Die Kabale Lord Palmerstons, Napoleons III. und der Habsburger zur Zerstörung der Vereinigten Staaten - direkt über die Konföderierten Staaten und indirekt über die von ihnen eingesetzte bösartige Tyrannei Maximilians in Mexiko - wurde 1863-65 von den USA gründlich besiegt.

In den Jahrzehnten nach dem Sieg der USA, vor allem ab 1876, diente das amerikanische System der politischen Ökonomie als Modell und Inspiration für die industrielle Revolution in Deutschland unter Bismarck ab 1877, für die Übernahme des amerikanischen Modells in Japan, für die Rolle des Wissenschaftlers Mendelejew bei der industriellen Entwicklung Rußlands und Sun Yat-sens Kampagne für ein Neues China.

Die dritte Entwicklung war das Wirken von Präsident Franklin Roosevelt. Der britische König Edward VII., den man den "Herren der Inseln" nannte, hatte das amerikanische Präsidentenamt unter Theodore Roosevelt, dem konföderiertenfreundlichen Cousin des patriotischen Franklin Roosevelt, und dem Ku-Klux-Klan-Fan Woodrow Wilson unter seine Kontrolle gebracht und in Werkzeuge der britischen imperialen Sache verwandelt. Franklin Roosevelt schuf schließlich die Voraussetzungen für die Beendigung der maritimen Weltherrschaft des anglo-holländischen Systems der Finanzoligarchie (das ich im folgenden näher beschreiben werde). Nach Roosevelts zu frühem Tod gelang es der Finanzoligarchie, das Rad weltweit wieder zurückzudrehen: Während Roosevelt eine gerechte Nachkriegswelt versprochen hatte, ging es nun wieder in Richtung einer utopischen Reinkarnation des alten imperialen Seeherrschaftssystems.

Selbst die beiden inszenierten Weltkriege der Zeit 1914-45 schafften es nicht, in den USA den patriotischen Impuls zur Gründung eines Weltsystems souveräner nationalstaatlicher Republiken zu zerstören.

Leider nutzte man die Gelegenheit von Präsident Franklin Roosevelts Tod für den allgemeinen Zweck aus, für den die ursprünglichen Gründer und Anführer der heutigen anglo-amerikanischen utopischen Fraktion, H.G. Wells und Bertrand Russell, standen. Auf sie geht das Vorhaben zurück, mit einer Triade aus land-, see- und luftgestützten Kernwaffen die Welt so zu terrorisieren, daß sie sich einer Weltregierung der amerikanischen Tories und ihrer britischen Gesinnungsfreunde unterwürfe. Der Konflikt der Supermächte nach 1945, der Krieg der USA in Indochina 1964-72 und die Verwandlung der USA von einer produktiven Volkswirtschaft in eine neoimperiale Konsumgesellschaft wurden von Anhängern der Pläne von Wells und Russell wie den Sicherheitsberatern Kissinger und Brzezinski in Gang gesetzt. Diese letzte Phase der Wells-Russellschen utopischen Pläne für eine angelsächsische Weltregierung ist der wesentliche Grund für die gegenwärtige Weltdepression als Folge eines zusammenbrechenden Weltwährungssystems.

Charakteristisch für die Wirtschaftspolitik von Regierungen und supranationalen Einrichtungen im Rahmen dieser Pläne ist die anglo-holländische Variante des venezianischen Zentralbankmodells, namentlich die Politik des IWF.

Das venezianische System

Von etwa 200 v.Chr. bis zu der Thronbesteigung von Kaiser Otto III. herrschten im Mittelmeerraum und den relevanten angrenzenden Teilen Europas zuerst das Römische Reich und dann Byzanz. Seit Venedig zur Zeit von Ottos Herrschaftsantritt als relativ unabhängige Macht aufzutreten begann, ersetzte es schrittweise das dekadente Byzanz und wurde so nach und nach zur vorherrschenden imperialen Seemacht der Region. Im Zentrum dieser Macht stand Venedig mit seinem politischen System des Dogen und seines Rats an der Spitze - die Diktatur einer einem Schleimpilz vergleichbaren Finanzoligarchie.

Mit dem ziemlich raschen Zerfall der physischen Macht des Staates Venedig nach dem Westfälischen Frieden 1648 ging das venezianische Modell einer von Finanziers kontrollierten imperialen Seemacht auf die Niederlande und auf England unter Wilhelm von Oranien über. Der Hauptrivale dieses anglo-holländischen Klons von Venedig war der Landadel des Fürstenrats, der nominell von den Habsburgern beherrscht war; dieser Rivale wurde insbesondere in den Jahrzehnten nach dem Wiener Kongreß geschwächt.

Mit dem Ruin Frankreichs und der Niederwerfung des "Dreikaiserbunds" durch die Auswirkungen des Ersten Weltkriegs auf dem Kontinent errang das von London gelenkte anglo-holländische imperiale Seemachtmodell die Vorherrschaft über ganz Europa. Präsident Franklin Roosevelts Tod brachte diesem venezianischen Modell, das unsere amerikanischen Tories übernommen hatten, die weltweite Vorherrschaft - insbesondere in Verbindung mit den Auswirkungen des politischen Rückzugs von Präsident Eisenhower und der Ermordung Präsident Kennedys.

Infolge dieser stufenweisen Machtergreifung des anglo-holländischen Liberalismus nach venezianischem Vorbild in den letzten drei Jahrhunderten wurde das mit einer herrschenden Finanzoligarchie verbundene venezianische, imperiale maritime Herrschaftsmodell zur axiomatischen Grundlage der Verfassungen und Quasiverfassungen Europas. Die Rolle jenes seltsamen Relikts des Feudalismus, des Zentralbanksystems, ist ein Kennzeichen dieses "liberalen" venezianischen Modells.

So verwandelte sich als unmittelbare Folge der neoliberalen Veränderungen im Weltwährungs- und Finanzsystem seit dem 15. August 1971 die Wirtschaft der ganzen Erde in den letzten drei Jahrzehnten in eine zunehmend verkommene, heute bankrotte Masse moralischen, realwirtschaftlichen und nun auch finanziellen Ruins.

Diese Veränderungen hatten im wesentlichen zwei Ursachen. Die erste, die ich hier nur kurz zu nennen brauche, ist der Faktor, mit dem ich mich in verschiedenen Veröffentlichungen befaßt habe - u.a. kürzlich in einer Wahlkampferklärung über den Wells-Russellschen Plan für ein neurömisches, englischsprachiges Weltreich auf der Grundlage atomarer Ängste (A Boldly Modest U.S. Global Mission). Die kulturellen Veränderungen, die während der 60er Jahre in der weltweit verbreiteten europäischen Zivilisation zur Beförderung dieser imperialen Zwecke eingeführt wurden, lieferten das Motiv für die radikalen axiomatischen Veränderungen des Weltwährungs- und Finanzsystems und der Wirtschaftspolitik von 1971-2002. Diese Veränderungen brachten den praktisch unvermeidlichen Zusammenbruch des gesamten Weltsystems über uns. Entscheidend war, daß in den letzten dreieinhalb Jahrzehnten die Rolle der USA als führende produzierende Wirtschaft der Welt bewußt beendet wurde, indem man meine Nation in die zunehmend nachindustrielle, parasitäre Konsumgesellschaft verwandelte, die sie heute ist.

Der Mechanismus, durch den die Weltwirtschaft einer solchen kontrollierten Desintegration der bisherigen Wirtschaft unterzogen wurde, bestand aus einem radikalliberalen, vom IWF beherrschten regulierten Netz von Zentralbanken sowie einem amerikanischen Federal-Reserve-System, das auf das gleiche Niveau herabsank. Inzwischen ist der Punkt erreicht, an dem ein Überleben der Weltwirtschaft nur noch möglich ist, wenn man alle Überreste dieses herrschenden Netzes von Zentralbanksystemen beseitigt. Wenn wir das nicht tun, wird die ganze Zivilisation in ein weltweites finsteres Zeitalter stürzen - vergleichbar oder schlimmer als das in Europa im 14. Jahrhundert. Die Entscheidungen von Zentralbanksystemen sind für vernünftige und kompetente Ökonomen nicht mehr relevant - relevant ist nur, was souveräne Nationalstaaten tun, um diese inhärent bankrotten Überreste des Feudalismus namens Zentralbanksystem zu ersetzen.

2. Den Schleier der Sinneswahrnehmung zerreißen

Jetzt komme ich zur Wirtschaft als solcher - womit ich physische Wirtschaft meine, und nicht Finanzbuchhaltung.

In dieser Frage ist der entscheidende, systemische Unterschied zwischen klassischen und romantischen Kulturen, daß sie die Sinneswahrnehmung grundsätzlich verschieden auffassen. Im Gegensatz zu den klassischen Griechen seit Pythagoras und den größten Geistern der neuzeitlichen europäischen Wissenschaft verfallen relativ niedrigere Kulturen der Illusion, daß das, was sie mit ihren Sinnen zu sehen, hören, schmecken, riechen und tasten vermeinen, die Wirklichkeit sei. Wenn man diesen kindischen Irrtum vergleichsweise roher Kulturen wie dem Römischen Reich bedenkt, fällt es schwer, die höchsten Errungenschaften des überlegenen klassischen griechischen Denkens herauszufinden, die in Platons Staat und dort vor allem im Höhlengleichnis ausgedrückt sind.

Das Verständnis dieses Problems ist der unverzichtbare Ausgangspunkt für jedes kompetente Denken über Wirtschaft.

Die Sinne sind lebendige Organe unseres Körpers, die - ähnlich verläßlich wie Schatten - die Auswirkungen der Erfahrungen widerspiegeln, welche die Sinne nie direkt "sehen" können. Wissenschaft ist die praktizierte Ansammlung von Entdeckungen praktisch beweisbarer universeller physikalischer Prinzipien - Prinzipien, die man mit den Sinnen nicht direkt wahrnehmen kann, die aber den tatsächlich existierenden Wirkungsformen entsprechen, welche die Macht des Menschen in und über das Universum steigern, obwohl sie jenseits des Schleiers der Sinneswahrnehmung wirken.

Nehmen wir als Beispiel die Schwerkraft. Betrachten wir als naheliegende Veranschaulichung die erfolgreiche Methode hinter der wirklichen Entdeckung des Prinzips universeller Schwerkraft durch Johannes Kepler.

Die irrige aristotelische Methode, die vom dekadenten Römischen Reich wiederbelebt und diktiert wurde und dann weiter vorherrschte, verleitete nicht nur Claudius Ptolemäus, sondern auch Kopernikus und Tycho Brahe dazu, Modelle zu entwerfen, welche die Sinneswahrnehmung des astronomischen Himmels (standardisierte Sinnesbeobachtungen) nach aristotelischen Prinzipien zu erklären suchten.

Kepler, der Brahes Messungen durch präzisere ergänzte, zeigte empirisch, daß die Planetenbahnen nicht kreisförmig, sondern elliptisch sind, und daß die Bewegung ungleichförmig ist. Diese Entdeckung Keplers allein diskreditierte schon ein für allemal das ganze aristotelische System und auch den Empiriker Galileo. Tatsächlich diskreditierte dieses Paradox jede Astronomie auf der Grundlage der vereinfachenden Sicht der Sinneswahrnehmung, und führte zu Keplers Entdeckung der universellen Schwerkraft und damit zum ersten umfassenden Ansatz zur Schaffung einer mathematischen Physik.

Kepler bewies damit die Existenz eines universellen Wirkungsprinzips, das sich hinter dem Schleier der Schattenwelt der bloßen Sinneswahrnehmung versteckte. Die Schwerkraft ist wie jedes universell wirkende physikalische Prinzip kein Objekt der Sinneswahrnehmung. Es ist nichts, was man "lernen" könnte, denn Lernen und Symbolismus sind mit Sinnesgewißheit verknüpft; man kann es nur "erkennen": als eine universelle Hypothese, die mit geeigneten experimentellen Methoden als gültig bewiesen ist. Wie Platon in seinem Dialog über die Verdoppelung des Quadrats betonte, und wie u.a. Leibniz und Gauß zeigten, können wir diese Prinzipien erkennen, so daß ihre einzigartige Kraft es uns ermöglicht, die reale Welt bewußt zu verändern - so etwa die nukleare Mikrophysik, die hinter den bloßen Schatten wirkt, welche die reale Welt auf unsere Sinnesorgane wirft.

Dieselbe Sichtweise der Naturwissenschaft war schon das Kennzeichen des klassischen wissenschaftlichen Denkens von Archytas und Platon bis zu Archimedes und Eratosthenes. Typisch sind klassisch-griechische Themen, wie die Konstruktion eines Quadrats, dessen Fläche doppelt so groß sein soll wie die eines anderen Quadrats, oder die entsprechende Verdoppelung eines Würfels bzw. die enormen Implikationen der Reihe der fünf Platonischen Körper. Dieses Konzept ging der europäischen Zivilisation überall da, wo der rohe, zersetzende Einfluß des Romantizismus vorherrschte, zeitweise verloren. Über die gleichen Fragen löste Carl Gauß eine Revolution in der modernen mathematischen Physik aus, als er in seinem Bericht über die Entdeckung des ersten gültigen Fundamentalsatzes der Algebra 1799 das Konzept der komplexen Zahlen begründete. Platon verband in seinem Dialog Theaetetus diesen Bereich komplexer Zahlen mit dem Bereich der physikalischen Kräfte jenseits der Sinneswahrnehmung - dem Bereich, der die im sinnlichen Bereich unmöglichen Dinge zum Leben erweckte, so daß sie in der Schattenwelt der Sinneswahrnehmung Schatten werfen.

Ähnlich verwendete Leibniz bei seiner Entdeckung des Grundprinzips einer physischen Wirtschaftswissenschaft den platonischen Namen Kraft, um die Auswirkungen der Anwendung von Entdeckungen physikalischer Prinzipien zur Verbesserung der wirtschaftlichen Praxis auszudrücken. Gauß verwendet denselben Begriff Kraft bei der Definition der komplexen Zahlen. Der Leibniz-Bernoullische Beweis, daß die Kettenlinie als charakteristisches Abbild der komplexen Zahlen ein Prinzip universeller geringster Wirkung ausdrückt, ist die wirksam einfachste Demonstration von Leibniz' physikalischem Prinzip der Infinitesimalrechnung - im Gegensatz zu den berühmten Einbildungen von Carl Gauß' Gegnern Lagrange und Cauchy.

Die Ableitung der wirkenden Existenz solcher, universelle physikalische Prinzipien genannten Kräfte, die von der anderen Seite des Schleiers der Sinnesgewißheit her auf unsere Sinne wirken, mit Hilfe der sokratischen Methode, zeigt experimentell den grundlegenden Unterschied zwischen dem menschlichen Individuum und den niederen Lebensformen. Keine andere Gattung ist fähig, ihre potentielle relative Bevölkerungsdichte gezielt immer weiter zu erhöhen.

Der Unterschied zeigt sich daran, daß die relative potentielle Bevölkerungsdichte der Menschheit über die wenigen Millionen hinaus, die bei Menschenaffen möglich sind, bis heute auf mehrere Milliarden gestiegen ist. Das Potential der Menschheit, nicht nur die individuelle Entdeckung eines hinter dem Schleier der Sinnesgewißheit wirkenden Prinzips hervorzubringen, sondern auch nachfolgende Generationen dazu zu bewegen, diese Entdeckung nachzuvollziehen, ist die wesentliche Handlungs- und Wirkungsweise, die menschliche Kulturen wissenschaftlich von den Kulturen niederer Lebensformen unterscheidet. Der allgemeine Ausdruck hiervon ist der daraus resultierende Anstieg der potentiellen relativen Bevölkerungsdichte der Menschheit, gemessen pro Kopf und pro Quadratkilometer Landfläche.

Mit dieser Erkenntnismethode, die uns individuell und kollektiv hinter den Schleier greifen läßt, verbessert der Mensch nicht nur seine individuelle Macht über die Natur, die er vorfindet, sondern er verändert seine Umwelt - etwa durch wissenschaftliche Revolutionen und durch Kapitalinvestitionen in physische Verbesserungen der Produktionsbedingungen, wie z.B. grundlegende wirtschaftliche Infrastruktur.

Durch Erhaltung und Steigerung dieser willentlichen Verbesserungen im menschlichen Wissen und im physischen Kapital wird die produktive Arbeitskraft erhalten und verbessert. In der Wissenschaft der physischen Ökonomie betrachtet man die Schattenwelt der Sinne von einem Standpunkt hinter diesem Schleier und mißt entsprechend den Erfolg der Wirtschaft physisch, und nicht finanziell.

Nützliches und schädliches Geld

In einem gesunden nationalstaatlichen System, wie etwa unter der amerikanischen Bundesverfassung, ist die Befugnis zur Ausgabe und Regulierung von Währungsgeld in jeder Form auf die souveräne Macht des Staates beschränkt; außerhalb der Regulierungskompetenz des Staates ist keine Währungsautorität zulässig. Das übergreifende Ziel dieser Aktivitäten zur Geldschöpfung und Regulierung sollte dabei sein, den Geldumlauf so zu kontrollieren, daß die Resultate mit den gewünschten Absichten der realwirtschaftlichen Ziele im Dienste des Erhalts und der Verbesserung des Gemeinwohls übereinstimmen. Diese verfassungsmäßige Beschränkung zieht eine Trennlinie zwischen nützlichen und schädlichen, wucherischen Formen jener rein symbolischen, leeren Existenz namens "Geld".

Die Bedeutung dieses Arguments läßt sich am einfachsten anhand zweier besonders verbreiteter, aber inhärent psychopathischer Meinungen über Geld veranschaulichen. Die erste ist die Illusion, es gebe eine natürliche Höhe für die Zinsen auf geliehenes Geld. Die zweite ist, daß der richtige Zinssatz auf eine bestimmte Summe geliehenen Geldes von einem "Gesetz von Angebot und Nachfrage" (das in Wirklichkeit gar nicht existiert) bestimmt werde.

Zunächst einmal - anders als einige behaupten, die von einer nichtexistenten Größe namens "Nützlichkeit" sprechen - wird die Investition von Geld als solches den von der Gesellschaft produzierten Reichtum nicht erhöhen. Papier bleibt Papier, und innerhalb der Grenzen der realen Welt werden Papierwerte tendenziell eher brennen als brüten.

Verbesserung - d.h. reales Wachstum, erhöhte reale Produktivität, physisch verbesserte Produkte - erfolgt nur durch reale Investitionen in die Produktion jener physischen Effekte, die tendenziell das Durchschnittsniveau der physisch-produktiven Arbeitskraft in der Gesamtgesellschaft erhöhen. Der Staat mit seiner unbegrenzten souveränen Befugnis zur Schöpfung und Zirkulation seiner Währung muß die Regeln des Kredits und Geldumlaufs so gestalten, daß die physisch erwünschten langfristigen Auswirkungen möglichst gefördert werden. Dies muß genauso oder noch mehr betont werden als die kurzfristigen Auswirkungen.

Die schwierigsten Aufgaben stellen sich bei Fragen in den Kategorien mittel- bis langfristiger Kapitalzyklen. Um hinsichtlich dieser Kategorien eine kompetente Politik zu definieren, muß man immer den physischen Zyklus als primär betrachten, und den finanziellen Ausdruck dieses physischen Zyklus mit der physischen Bemessung in Übereinstimmung bringen.

Der elementarste langfristige Wirtschaftszyklus bemißt sich in Generationen: die Investition, die man in die Entwicklung des neugeborenen Kindes zu einem ausgebildeten, wirtschaftlich wirkenden jungen Erwachsenen eine Generation später insgesamt erbringen muß. So müssen beispielsweise die Kosten und Preise von Produktion und Handel die entstandenen physischen Kosten dieser Investition in die Entwicklung einer neuen Generation mit einem bestimmten produktiven Potential widerspiegeln.

Wie sich die Qualität realer Investitionen einer Gesellschaft in eine Generation verändert, beurteilt man am besten bezogen auf den Pro-Kopf-Zuwachs der physischen Produktivität dieser Gesellschaft über einen Zeitraum von mindestens zwei Generationen, also etwa 50 Jahren, oder, noch verläßlicher, drei Generationen. Die Qualität der politischen Führung eines Staates bemißt sich im wesentlichen daran, inwieweit sie die intellektuelle Fähigkeit und den Willen hat, heute Errungenschaften künftiger Generationen auf den Weg zu bringen, die innerhalb einer einzigen Generation nicht zu bewerkstelligen sind. Im Frankreich unter Charles de Gaulle zeigte sich das an dem Begriff der "indikativen Planung" langfristiger Investitionsprioritäten. Auf derartiger "indikativer Planung" beruhten auch das amerikanische Wirtschaftswunder von 1861-76, Präsident Franklin Roosevelts Wirtschaftsaufbauprogramm und der phänomenale technische Nutzen von Kennedys Raumfahrt-"Crashprogramm" für die Gesamtwirtschaft.

Neben den Investitionen der Gesellschaft in die Entwicklung der folgenden Generationen im typischen Familienhaushalt sind noch andere langfristige Zyklen physischer Investitionen zu betrachten. Das sind etwa Investitionen in die grundlegende wirtschaftliche Infrastruktur, wie das allgemeine Verkehrswesen, Energieerzeugung und -verteilung, Wasserversorgung, Landerschließung, Abwassersysteme und das Bildungswesen. Auch dies sind Zyklen, die man über den Zeitraum von einer oder mehreren Generationen abschätzen und messen muß. Dann gibt es die in der Regel privaten Investitionen in örtliche produktive Anlagen wie Landwirtschaft und Güterproduktion. Und es gibt zwei besondere individuelle Tätigkeitsbereiche: die wissenschaftliche Entdeckung und das produktive Unternehmertum an sich.

Mit diesen beiden letztgenannten Kapitalzyklen - Wissenschaft und produktives Unternehmertum - berühren wir am direktesten die entscheidendsten Aspekte einer modernen Wirtschaft: der souveräne Beitrag der Erkenntniskraft des Einzelnen zur Schaffung von Fortschritt. Zwar üben nur einige im Produktionsbereich tätige Unternehmer ihre wirtschaftliche Führungsrolle als Wissenschaftler aus, doch ist effektives Unternehmertum von Landwirten und Fabrikanten immer mit der gleichen wichtigen Bedeutung der souveränen Fähigkeiten des individuellen Geistes verbunden, wenn auch auf relativ schwächere und indirekte Weise.

Das wesentliche Element realer Produktivitätssteigerungen bei der Herstellung landwirtschaftlicher, industrieller und verwandter physischer Güter betrifft die Folgen schwankender Investitionen in den grundlegenden wissenschaftlichen Fortschritt und den bestimmenden Einfluß dieses Fortschritts auf die potentielle Rate technischen Fortschritts. Mathematisch ausgedrückt sind diese wissenschaftlich-technischen Determinanten für die Grenzen steigender Produktivität physikalische Kräfte in dem Sinne, wie der Gauß-Riemannsche Bereich die physikalische Bedeutung des mathematischen Bereichs der komplexen Zahlen definiert (im Gegensatz zu den Auffassungen von Gauß' reduktionistischen Gegnern Lagrange und Cauchy).

Weder irgendein System der Finanzbuchhaltung noch irgendwelche aus der reduktionistischen Elfenbeinturm-Mentalität der "Systemanalyse" von Bertrand-Russell-Klons wie Norbert Wiener und John von Neumann abgeleiteten Methoden können solche Aspekte der physischen Wirtschaftsprozesse kompetent erfassen. Finanzbuchhaltung, Systemanalyse und andere "Elfenbeinturmkonstrukte" der Analyse von Realwirtschaften werden immer völlig falsche politische Vorgaben hervorbringen, weil derartige, auf bloßer Sinnesgewißheit beruhenden mathematischen Konstrukte mit dem realen Universum, in dem die physische Wirtschaft existiert, nicht übereinstimmen.

Lassen wir den für gewöhnlich fragwürdigen Fall, daß der Firmeneigentümer nicht selbst im Unternehmen tätig ist, einmal beiseite. Konzentrieren wir uns auf das Beispiel des vom Inhaber persönlich geleiteten mittelständischen Betriebes, dessen wesentlicher Beitrag zur Gesellschaft es ist, technische Fortschritte bei Produkten und Produktionsprozessen hervorzubringen oder, was häufiger ist, umzusetzen. Vergleichen wir diese eigentliche klassische Rolle des Unternehmers in der Gesellschaft mit dem Beitrag der entdeckten universellen physikalischen Prinzipien, die nach der Definition von Platon, Leibniz, Gauß u.a. die physikalischen Geisteskräfte sind, mit denen die hinter dem Schleier der Sinneswahrnehmung existierende reale Welt verändert wird.

Im letzteren Fall, beim wissenschaftlichen Entdecker, besteht seine charakteristische physisch-wirtschaftliche Aktivität in der nur in der souveränen Schöpferfähigkeit des einzelnen Menschen ruhenden Kraft, gültige funktionale Definitionen universeller physikalischer Prinzipien zu finden. Im Falle des genannten Unternehmertyps läßt sich diese Frage am besten verstehen, wenn man ihn mit einem wissenschaftlichen Entdecker vergleicht. Ich verwende den Begriff "Kraft" hier in der gleichen Bedeutung wie Platon bei seiner Behandlung des geometrischen Problems der Konstruktion der Verdoppelung eines Quadrates oder Leibniz bei der Definition der Wissenschaft der physischen Ökonomie und in dem physikalischen Sinne in Gauß' Beschreibung seiner Entdeckung des Fundamentalsatzes der Algebra und Riemanns Definition der experimentalphysikalischen Bedeutung von Kraft im Schlußteil seiner Habilitationsschrift von 1854. 5

Fortsetzung nächste Woche

 

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