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Aus der Neuen Solidarität Nr. 47/2002

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Die Macht der Vernunft

Von Lyndon LaRouche
- 3. Folge -

Am 8. September 2002 ist Lyndon LaRouche 80 Jahre alt geworden. Die Leser dieser Zeitung kennen seine weitsichtigen Analysen, treffsicheren Prognosen und programmatischen Vorschläge zur Überwindung der Krise. Leben und Werdegang dieses Vertreters des "besseren Amerika" kennen hingegen nur wenige. Wir veröffentlichen deshalb in den kommenden Wochen Teile aus LaRouches Autobiographie "Die Macht der Vernunft", die 1987 erschien und natürlich schon lange vergriffen ist.

Die Tradition des "amerikanischen Junkertums" umgab mich auch, als wir 1932 von Rochester nach Lynn zogen. Eine Schwester George Weirs, Jennie, hatte einen wohlhabenden Schuhkartonfabrikanten in Swampscott (Massachusetts) geheiratet. Als meine Mutter in ihrer Schulzeit bei ihrer Tante wohnte, lernte sie übrigens in der dortigen Highschool den späteren Hollywoodstar Walter Brennan als Schulkameraden kennen. Weil Brennan die Schule in einer Zeit besucht hatte, als diese noch in hohem Ansehen stand, zählten seine Filme für meine Eltern zu den besseren. Typisch für die amerikanische Elite aus jenen Generationen! Das Vermögen aus dem Schuhkartongeschäft gehörte zu einem Treuhänderfonds, von dem die Arbeit der Quäker in Lynn abhängig war. Dieser Fonds war Anfang der 30er Jahre dahingeschwunden, teilweise zum Vorteil des liberalen American Friends Service Committee. Als Repräsentantin der Familie ihres Onkels zählte meine Mutter daher zur Quäker-Aristokratie von Lynn und wurde, unterstützt von meinem Vater, zur Nemesis des American Friends Service Committee.

Während meiner Kindheit und Jugend wurde mir zu verstehen gegeben, daß auch ich dieser Elite angehörte und alle moralischen und sonstigen Pflichten dieser gesellschaftlichen Stellung trug.

Größeres Gewicht hatte der Umstand, daß ich mich von Kindheit an zum Teil schon als Erwachsener verstand, und zugleich natürlich als Kind und Jugendlicher. Auch unter den um Jahre Älteren kannte ich niemanden, der mehr las als ich, und als ich heranwuchs, hatte ich schon mehr gelesen als die meisten Erwachsenen. Alle diese Umstände trugen zusammen dazu bei, daß ich außergewöhnlich unempfindlich gegenüber der gängigen amerikanischen Ideologie wurde, die David Riesman als Fremdbestimmtheit (other-directedness) charakterisiert hat. Galt eine Meinung als populär, sah ich sie eher mit Mißtrauen, als sie zu übernehmen. Ich war mit Sicherheit kein "normaler Junge", wie man es damals von Kindern meines Alters erwartete.

Hier zeigt sich sogleich ein wesentlicher Persönlichkeitsunterschied zwischen mir und Präsident Ronald Reagan (Reagan war amerikanischer Präsident, als LaRouches Buch 1987 erschien - Red.). Wir wären uns in vielen Punkten grundsätzlich einig, vor allem über die traditionellen Werte der Familie, aber Reagan ist im Grunde ein Populist. Das zeigt sich am deutlichsten, wenn er versucht, seine Wirtschaftspolitik zu erläutern. Wenn er in seinen Reden die Führung des Staatshaushalts mit einem Familienhaushalt vergleicht, zeigt das keinen Intelligenzmangel, sondern beweist seinen ideologischen Populismus. Fast alle ideologisch konsequenten Populisten werden wütend oder beginnen einzuschlafen, wenn man ihnen einen Gedanken darlegt, der höhere Ansprüche stellt als zwei oder drei kurze Absätze mit unkomplizierten Aussagesätzen. Jeder Gedanke, der mehr ist als ein Appell an den "gesunden Menschenverstand", weckt beim Populisten tiefes Mißtrauen gegen den Redner: "Der ist keiner von uns." Er ist als "Fremder" erkannt, und seine Motive werden Gegenstand finsterer Spekulation. Seit frühen Kindheitsjahren ist meine Tendenz genau umgekehrt: Alles, was allzu einfach mit einem Appell an den "gesunden Menschenverstand" erklärt wird, weckt meinen Verdacht, daß irgendein Schwindel im Spiel sein müsse - und meist hat dieser Instinkt mich nicht getrogen.

Mein Vater war vorwiegend populistisch in diesem Sinne, und auch meine Mutter neigte dazu, im Gegensatz zu beiden Großvätern. Ein ständiger Konfliktstoff zwischen meinem Vater und mir war seine Feindschaft gegen alle sogenannte "Theorie", wie er mit unverkennbar spöttischem Unterton zu sagen pflegte. Ansonsten war er keineswegs ein Feind des Geistigen. Sein Geschmack in der Musik, Literatur und Bildhauerei war stark anglophil geprägt, wie bei den meisten, die ihre Erziehung und vorgefaßten Meinungen im Raum Groß-Boston erwarben. Vielmehr war er strenggenommen ein Antisokratiker. Er war ein Mann des etablierten Geschmacks und der etablierten Werte, und von Ideen, die sich durch Appell an den "gesunden Menschenverstand" leicht vermitteln ließen. Argwöhnte er, daß meine Überlegungen wieder einmal in sokratische Bahnen gingen, so fand er stets einen Weg, dies zu unterbrechen, vorzugsweise, indem er mich mit irgendwelchen Arbeiten im Hause beauftragte, um dieses Unglück von mir fernzuhalten. Präsident Reagans Art hätte ihm besser gefallen, als ihm meine gefiel; genau aus diesen Gründen bewunderte er Nixon.

Soweit meine Erinnerung zurückreicht, kann meine Einstellung zu Ideen seit der Zeit kurz vor meiner Einschulung als "sokratisch" bezeichnet werden. Für mich lag der Ursprung dieser Methode in der Theologie. Selbst eine relativ einfache Theologie betrachtet Glaubensvorstellungen als Ausfluß zugrundeliegender Annahmen. Die Theologie des westlichen Christentums war stets entweder sokratisch (platonisch), oder, seit dem 13. Jahrhundert, aristotelisch, oder eine Mischung beider Richtungen. Aus irgendeinem Grund neigte ich von früher Kindheit an zur sokratischen Richtung.

Die sokratische Methode, um festzustellen, inwieweit eine Idee wahr oder falsch ist, verlangt im einfachsten Ansatz zwei aufeinander folgende Schritte. Auf der einfachsten Stufe müssen wir zwei Fragen beantworten. Folgt die Behauptung, die in der betreffenden Idee zum Ausdruck kommt, logisch aus den zugrundeliegenden Annahmen? Wenn ja: Steht sie auch mit den Tatsachen im Einklang? Finden wir, daß die Behauptung sowohl mit den Annahmen wie mit den Tatsachen im Einklang steht, können wir sie nur dann widerlegen, wenn der Beweis gelingt, daß mindestens eine der Annahmen falsch ist.

So ging ich grundsätzlich an Ideen heran, seit ich sechs bis sieben Jahre alt war. Zuerst war es mehr eine Art, auf Ideen zu reagieren, als eine richtige Methode. Diese entwickelte sich, als ich heranwuchs. Das wurde von meinem zwölften Lebensjahr an deutlich.

Ich hatte angefangen, mich mit philosophischen Schriften zu beschäftigen. Nachdem ich einiges gelesen hatte, beschloß ich, noch einmal von vorn anzufangen, aber diesmal in chronologischer Reihenfolge. Ich begann mit einer bei den Harvard Classics erschienenen Auswahl, die meine Großmutter Ella LaRouche mir im selben Jahr geschenkt hatte, und nahm weitere Schriften hinzu. Auf meiner Liste standen Francis Bacon, Thomas Hobbes, René Descartes, John Locke, Gottfried Wilhelm Leibniz, David Hume, George Berkeley, Jean-Jacques Rousseau und Immanuel Kant.

Bacon, Hobbes, Locke, Hume, Berkeley und Rousseau verabscheute ich. Leibniz gab mir ein Gefühl, wie wenn man nach langem Heimweh wieder nach Hause kommt. Die Monadologie, die Theodizee und die Streitschriften zwischen Leibniz und Clarke las ich immer wieder; ich ging zu den nächsten Philosophen auf meiner Liste über und kam immer wieder zu Leibniz zurück. Als ich vierzehn war, bekannte ich mich offen als Leibniz-Anhänger. Nach meiner evangelischen christlichen Erziehung war die Begegnung mit Leibniz das wichtigste geistige Erlebnis meiner Kindheit und Jugend. Diese beiden Begegnungen sind die tiefsten prägenden Einflüsse meiner Entwicklung.

Etwa zur selben Zeit lernte ich das Problem des American Friends Service Committee (AFSC) kennen. Als ich zwölf Jahre alt war, lagen meine Eltern und ihr Freund Dr. Leroy Austin im erbitterten Streit mit dem Committee. Die Austins waren seit langem mit meinen Eltern befreundet. Dr. Austins Vater und der Onkel meiner Mutter hatten die Austin-Crosman-Stiftung gegründet, deren Vermögen in der Wirtschaftskrise verloren gegangen war. Meine Eltern und die Austins wollten vom AFSC, daß es die Stiftung wiederbelebte, um dringende Kosten des Gemeindezentrums in der Silsbee Street decken zu können.

Die Auseinandersetzung um die Austin-Crosman-Stiftung vermischte sich unvermeidlich mit zwei weiteren Streitfragen zwischen meiner Familie und dem AFSC. Die erste war politischer Natur. Das AFSC hatte kurz nach der Oktoberrevolution von 1917 versucht, meinen Vater und andere junge Angehörige der Quäker für die Unterstützung des Sowjetkommunismus zu gewinnen. Mein Vater und auch andere erkannten, wo im AFSC-Vorstand der Hund begraben lag; an diesem Charakter des AFSC hat sich bis heute nichts geändert. Die zweite Streitfrage war theologischer Art. Das AFSC gehörte offiziell nicht zur Society of Friends, obwohl seine Vorstandspersonen ihr angehörten. Unter den Quäkern vertrat das AFSC eine gnostische "liberale Theologie", deren Lehre im Kern der Religionsphilosophie William James' entsprach. Im Streit um die Austin-Crosman-Stiftung rückten diese politischen und theologischen Fragen schnell in den Vordergrund.

Im Mittelpunkt des Streits zwischen dem christlichen und dem liberalen Flügel in der obersten Instanz der Quäker-Organisation, dem sogenannten Fünfjahreskongreß, stand der Gegensatz zwischen der religiös motivierten Wehrdienstverweigerung aus Gewissensgründen auf Seiten des evangelischen Flügels und dem Pazifismus des AFSC und der Liberalen. Die pazifistische Sicht war der Einstellung Bertrand Russells sehr ähnlich, und nicht zufällig, denn die liberale Fraktion unterhielt seit Anfang des 20. Jahrhunderts direkte Verbindungen zu Russell. Die Liberalen setzten sich für eine pazifistische Weltordnung ein, und das AFSC arbeitete dabei im Rahmen der sowjetischen "Trust"-Netzwerke in enger Verbindung mit Theodore Roosevelts Flügel der amerikanischen Geheimdienste, der im Umkreis der Russell Sage Foundation und der National Civic Federation im Ersten Weltkrieg entstanden war. Im Gegensatz dazu entsprachen die Prinzipien der evangelischen Quäker einer Wehrdienstverweigerung aus Gewissensgründen eher Calvins Lehre vom "göttlichen Willen". Meine Eltern und andere glaubenstreue Quäker sahen zwischen der prosowjetischen Einstellung des AFSC und dem pazifistischen Dogma der Liberalen einen untrennbaren Zusammenhang; im wesentlichen hatte mein Vater mit dieser Einschätzung recht.

Dieser Streit innerhalb der Quäker war ein wesentliches Element, aber eben nur ein Element der Entwicklung, die zu meinem Bruch mit diesem Bekenntnis führte. Der Richtungskampf, in den ich schon in früher Jugend als Hauptbeteiligter hineingezogen wurde, zwang mich, über die zugrundeliegenden theologischen Fragen nachzudenken. So kam ich dazu, den Prädestinationsglauben der Quäker zu verwerfen, wonach Gott für die Geschicke der Menschheit verantwortlich sei. Ich kam zu der Überzeugung, daß Gott vielmehr dem Menschen die Verantwortung für sein Geschick selbst in die Hand gibt und daß jeder einzelne nach seinen Fähigkeiten für seine Taten und Unterlassungen Rechenschaft vor Gott ablegen muß. Ich schloß mich nicht der katholischen Lehre an, doch stand diese Überzeugung, wie ich erst sehr viel später erkannte, in Übereinstimmung mit der augustinischen Auffassung, die der große Kardinal Nikolaus von Kues im 15. Jahrhundert lehrte. Wir sind berufen, am Werk des Lebendigen Gottes, seinem fortwährenden Schöpfungswerk, teilzunehmen.

Mein großes Problem Ende der 30er Jahre war der Konflikt zwischen meinen entstehenden eigenen theologischen Überzeugungen und der Treue zu meinen Eltern. Die beiden ergreifendsten Erinnerungen in der Beziehung zu meinen Eltern sind die Tränen meines Vaters, als er vom Tod meines Großvaters erfuhr, und die langen, tränenreichen Stunden für uns drei, als ich um ihren Segen für meinen Wunsch bat, statt den Wehrdienst aus Gewissensgründen zu verweigern, den Militärdienst antreten zu dürfen. Ich beugte mich zunächst ihrem Willen, vor allem aus Liebe zu meinem Vater. Doch ich konnte es nicht lange ertragen und tat etwas, was in den Augen meines Vaters Verrat war, als ich mich freiwillig zum Militärdienst meldete.

Das war eine der beiden wichtigsten und schwerwiegendsten Entscheidungen meines Lebens. Die zweite war mein Entschluß, die "Informationstheorie" Norbert Wieners zu widerlegen. Es sind Wendepunkte meines Leben, die mehr als alles andere bestimmen, was ich heute bin. Ihre Bedeutung liegt nicht nur in den Entscheidungen selbst, sondern in der Wirkung des Denkprozesses, der zu ihnen führte.

Die wichtigen Entscheidungen, die ein Mensch in seinem Leben trifft, fallen in zwei Gruppen. Zur ersten gehören wichtige, aber im Vergleich nicht so inhaltsschwere Entscheidungen, die wir aufgrund dessen treffen, was wir sind. Die zweite Gruppe sind jene Entscheidungsprozesse, durch die wir werden, was wir sind. Die beiden genannten Entscheidungen gehören zur zweiten Gruppe.

Ich will und darf diesen Gegenstand nicht zu sehr vereinfachen. Meinen Bruch mit dem Bekenntnis der Quäker habe ich im Grundsätzlichen dargestellt. Das ist notwendig, damit der Leser das Wesentliche der Entscheidung erkennen kann. Ich muß betonen, daß das volle Gewicht dieses Entschlusses nicht auf einen Schlag sichtbar wurde. Dasselbe gilt für meinen Entschluß, Wieners "Informationstheorie" zu widerlegen. Indem ich an diesen Entscheidungen festhielt, trotz persönlicher Krisen, die mich in Versuchung führten, von ihnen abzurücken, formte ich meinen Charakter, wie der Schmied ein glühendes Eisen formt. Mit den Jahren brachte ich verschiedene Ecken und Winkel meiner Persönlichkeit in Übereinstimmung mit den Forderungen, die sich aus diesen Entschlüssen ergaben. Ich kann sagen, daß diese Entwicklung bis heute andauert. Mit den Jahren wurde ich in zunehmendem Maße, was diese beiden Entscheidungen mich werden ließen.

wird fortgesetzt

 

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