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Aus der Neuen Solidarität Nr. 48/2002

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Die Macht der Vernunft

Von Lyndon LaRouche
- 4. Folge: Die Jahre bis Pearl Harbor -

Am 8. September 2002 ist Lyndon LaRouche 80 Jahre alt geworden. Die Leser dieser Zeitung kennen seine weitsichtigen Analysen, treffsicheren Prognosen und programmatischen Vorschläge zur Überwindung der Krise. Leben und Werdegang dieses Vertreters des "besseren Amerika" kennen hingegen nur wenige. Wir veröffentlichen deshalb in den kommenden Wochen Teile aus LaRouches Autobiographie "Die Macht der Vernunft", die 1987 erschien und schon lange vergriffen ist.

Mein Streben nach einer sokratischen Methode machte mich zum brillanten Schüler und Studenten mit schlechten Noten. Die ersten beiden Schuljahre durchlief ich als guter, braver Schüler, aber im dritten Schuljahr fingen die Probleme an. Ich wurde noch brillanter und erhielt noch schlechtere Noten, als ich in der Eastern Junior High School in Lynn (Massachusetts) die achte Klasse erreichte. Der Grund für diesen widersprüchlichen Verlauf wurde mir in der English High School von Lynn klar. Ich erkannte ihn erstmals im Fach Ebene Geometrie I, das von einer langjährigen Freundin meiner Mutter, der Quäkerin Louise Richardson, unterrichtet wurde.

Louise Richardson war eine sehr sympathische Frau, die ich keinesfalls in peinliche Situationen bringen wollte. Doch ich konnte die Ebene Geometrie so, wie sie gelehrt wurde, nicht hinnehmen. Mit den Axiomen und Postulaten konnte ich mich nicht anfreunden. Sie leuchteten mir nicht ein; deshalb konnte ich keinen Lehrsatz glauben, der daraus abgeleitet wurde. Meine Auseinandersetzung mit Leibniz half mir zu erkennen, wie wichtig diese Frage war.

Ich werde jetzt für einen Moment das Jahr 1937 verlassen und mich auf die Kenntnisse stützen, die ich viele Jahre später über dieses Problem erwarb. Es ist nicht zu vermeiden, daß wir uns über die Frage der Methode verständigen, damit der Wesenszusammenhang zwischen meiner Reaktion auf die deduktive Methode in der High School und meiner späteren Kritik an der "Informationstheorie" deutlich wird.

In De docta ignorantia (Die gelehrte Unwissenheit) ...gelang Nikolaus von Kues 1440 der Beweis, daß die einzige geometrische Figur, die selbstevident im sichtbaren Raum existiert, das Erzeugnis einfacher Rotationswirkung ist. Dies ergibt den kleinsten Umfang für eine Fläche gegebener Größe (der isoperimetrische Lehrsatz der Topologie). [Diese Schule der mathematischen Physik wurde u.a. von Luca Pacioli und Leonardo da Vinci, Kepler und Desargues, Leibniz, die Bernoullis, Leonhard Euler und Gaspard Monge und schließlich Carl Friedrich Gauß und seinen Nachfolgern fortgesetzt.]

Die "synthetische" oder "konstruktive Geometrie" ...erlaubt keine Axiome und Postulate der euklidischen Art und erklärt logische Deduktionsschlüsse für unzulässig; sie beginnt allein mit dem isoperimetrischen Prinzip und leitet durch Konstruktion die gesamte Mathematik daraus ab, ohne jemals Annahmen von außen zuzulassen.

Zulässig ist jedoch die Annahme, daß Rotationswirkung wiederum stetiger Rotationswirkung unterliegen kann. Das wird als "mehrfach zusammenhängende Rotationswirkung" bezeichnet - in diesem Fall zweifach bzw. dreifach zusammenhängende Rotationswirkung, die Geraden und Punkte hervorbringt. Hieraus kann man alle in der euklidischen Geometrie der Ebene und des Raumes konstruierbaren Figuren aufbauen, ganz ohne Axiome, Postulate und Deduktionsschlüsse.

Gauß führte den Begriff einer Rotationswirkung höherer Ordnung ein, nämlich wachsende und schrumpfende Rotationswirkung. Sie ist als selbstähnliche Spirale auf einem Kegelmantel darstellbar. Die Gaußsche Physik beruht auf einem Wirkungsprinzip, das geometrisch einer "mehrfach zusammenhängenden Spiralrotation" entspricht - auf der Gaußschen Mathematik der elliptischen Funktionen und der sog. komplexen Zahlen.

Deshalb gibt es keine "idealen", "infinitesimalen" Punkte. Weder ist die Existenz "idealer" Punkte selbstevident, noch die Annahme, daß die Gerade die kürzeste Entfernung zweier Punkte sei. Die Methoden der euklidischen Geometrie und ebenso die Methoden der axiomatischen Algebra und Arithmetik sind ganz einfach falsch.

Wie ich zu meinen schlechten Noten kam, ist einfach zu erklären. Der Unterricht, dem ich ausgesetzt war, verlangte von mir fast immer, bestimmte Behauptungen als wahr anzunehmen, und ebenso alles, was logisch daraus abgeleitet werden könnte. Hierauf reagierte ich auf zweierlei Weise. Erstens hatte ich während meiner Kindheit und Jugend schon genügend Bücher auf Erwachsenenniveau gelesen, um zu wissen, daß so manche Annahme, die ich als wahr akzeptieren sollte, einfach nicht stimmte. Ich verschanzte mich innerlich, wenn ich mit solchen Annahmen konfrontiert wurde, und langweilte mich, wenn irgendetwas daraus abgeleitet werden sollte. In der Mathematik entwickelte sich dieser Widerstand etwas später als in anderen Fächern. Richtig deutlich wurde mir das Problem in der Mathematik erst durch die Begegnung mit der Geometrie auf der High School.

Damit hing zusammen, daß die Vorstellung eines Schöpfungsaktes in der Art eines "Urknalls" mir widerstrebte. Ich konnte nicht glauben, daß Gott eine solche Vielfalt auf einen Schlag aus dem Nichts geschaffen haben könnte. Nach meiner Überzeugung mußte es ein Gesetz geben, das einen fortwährenden Schöpfungsprozeß bewirkte. Diese Überzeugung schälte sich im Zusammenhang mit meiner Kritik an Norbert Wieners Informationstheorie deutlicher heraus; schon in den 30er Jahren dachte ich in diese Richtung.

Die formale Darstellung meines Einwands gegen die "Urknall"-Idee fand ich damals bei meinem Ringen, eine gemeinsame Basis für die Auseinandersetzung mit Descartes und Leibniz zu finden. Nach Descartes ist der Schöpfungsakt ein "Urknall". Descartes nimmt an, daß die Trümmer, die dabei entstehen, in die raum- und zeitlose Leere hinausgeschleudert werden und so auch ihre Anfangsbewegung erhalten. Änderungen der Bewegung würden durch paarweise Wechselwirkung der Materieteilchen verursacht. Daraus kann nichts werden; also macht Descartes eine weitere Annahme: eine Kraft, die von außen auf das materielle Universum wirkt, ein Deus ex machina. Bei Leibniz besteht diese Schwierigkeit nicht.

Punkte und Geraden konnten für mich nicht "einfach so" existieren, sondern mußten auf bestimmte, gesetzmäßige Weise erzeugt werden. Ebensowenig konnte ich die Vorstellung hinnehmen, daß die sog. "natürlichen Zahlen" selbstevident existierten. Aus ähnlichen Gründen war eine logische Ableitung für mich kein Realitätsbeweis. So liebte ich die Mathematik und Physik, konnte aber nicht ertragen, wie sie unterrichtet wurden.

Ich will nicht behaupten, daß meine Professoren an der Northeastern University in Boston nichts von ihrem Fach verstanden hätten, aber sie waren nicht in der Lage, mich unter erträglichen Voraussetzungen zu unterrichten. Auf der High School hatte ich angenommen, daß die mißliebigen Aspekte des Unterrichts mehr oder minder auf den Versuch der High School zurückgingen, den Schülern einen breiten, allgemeinen Wissensüberblick zu geben, und erwartete, daß an der Universität die "richtigen Sachen" geboten würden. Die Begegnung mit der Northeastern University weckte meinen Zorn, weil hier dasselbe, was ich mit Beendigung der High School hinter mir zu lassen gehofft hatte, wieder von vorn losging. So zog die Northeastern University meinen Unmut auf sich, wohl weniger wegen irgendwelchen Besonderheiten, als weil sie zum Auslöser eines seit Jahren aufgestauten Unmuts wurde.

Meine Mutter hing mit ganzem Herzen an der Idee, daß ich Geistlicher werden sollte. Mein Vater unterstützte sie darin nach außen hin, aber sein wirklicher Wunsch war, daß ich das "Schuhgewerbe" lernte, um dann mit ihm in den Industrieberaterberuf einzusteigen. Sein Vater hatte ihn bei einer Schuhfabrik in die Lehre gegeben, und er war dort mit 16 bereits Vorarbeiter geworden. So beschloß er 1938, daß ich in den Sommerferien das Handwerk von der Pike auf lernen sollte. Ich holte die Arbeitspapiere, die für Minderjährige gesetzlich vorgeschrieben waren, und begann auf dem niedrigsten Rang der Fertigung, als Brandsohleneinleger in Benny Shapiros Schuhfabrik in Peabody, der New England Slipper Company. Ich hatte nie Grund, diese Erfahrung oder Benny Shapiros Bekanntschaft zu bereuen.

Ich erlebte zum ersten Mal eine Weltsicht von einem anderen Standpunkt als dem angelsächsischen Kleinjunkertum meiner Familie. Benny war ein polnisch-jüdischer Einwanderer, der seinen Lebensunterhalt eine zeitlang als Berufsboxer verdient hatte. Die Belegschaft seines Unternehmens setzte sich zum größten Teil aus seinen Verwandten und anderen polnischen Einwanderern der ersten und zweiten Generation zusammen. Man kann sich vorstellen, daß ich in den drei Sommern meiner dortigen Arbeit eine gute Portion jiddische Sprache und Kultur mitbekam, und ich spürte den Schock an dem Tag, als Hitler in Polen einmarschierte.

Benny war der erste, der meinem Vater und mir erklärte, was es mit dem Nationalsozialismus auf sich hatte. Er war persönlich vom Schicksal der Juden betroffen, aber für meinen Vater unterstrich er: "Die Nazis sind eine Gefahr nicht nur für meine Schwester, sondern auch für eure." Benny konnte grob sein, und sogar brutal, aber ich erkannte, daß dahinter kein Sadismus, sondern eine bestimmte Weltanschauung stand. Für ihn war die Welt ein Dschungel, wo nur überleben konnte, wer ständig auf der Hut war. Wenn er grob mit jemandem umsprang, dann aus der Überzeugung, daß er ein Recht dazu hatte, und daß er ihm damit sogar einen Gefallen tat. Er glaubte mit Stolz, daß er ihm vielleicht den Weg zum Erfolg ebnete, wenn er ihn etwas abhärtete. Standhaft und hartnäckig zu sein, war für ihn eine Lebensnotwendigkeit, nicht nur wegen der Risiken, die es mit sich brachte, einer jüdischen Minderheit anzugehören, sondern weil er der Zinswucherer wegen meist am Rande des Bankrotts lebte.

Um das Jahr 1940 entstanden Spannungen in der Beziehung meines Vaters zu mir. Meine Leistungen an der Schule und Universität enttäuschten ihn. Er war weniger der Tatsachen wegen besorgt, als wegen der unbestimmten Befürchtungen, die seine böse Ahnung hervorrief. Die Situation wurde unangenehm. Ich flog eines Morgens nach New York, um für den Fall eines plötzlichen Wohnortwechsels die Gegend zu erkunden, und fuhr am selben Abend mit dem Zug zurück nach Boston. Ich mußte von meinen Eltern und der Universität etwas Abstand gewinnen. Ich hatte meinen Eltern einfach einen Zettel hinterlassen und war abgereist. Auf der Rückfahrt nach Boston hatte ich noch keine endgültige Entscheidung getroffen, aber die Alternative hatte deutlicher Gestalt gewonnen.

Ich wartete bis zur sprichwörtlich letzten Minute. In diesen Semesterferien arbeitete ich wieder in Benny Shapiros Betrieb. Das Arbeitsverhältnis sollte enden, so hatten wir vereinbart, wenn ich an die Universität zurück mußte. Einige Wochen später, am 7. Dezember 1941, einem Sonntag, betrat ich den Empfangsraum eines Hotels, um Bekannte zu treffen, mit denen ich etwas zu besprechen hatte. Wenige Augenblicke zuvor war die Meldung über den Angriff der Japaner auf Pearl Harbor im Radio gekommen. Inmitten der wie betäubten Menschen stand ich im Empfangsraum, mehr gebannt durch meine Beobachtung, wie diese Menschen sich plötzlich veränderten, als durch die schreckliche Meldung selbst. Natürlich dachte ich zuerst an Benny Shapiro und meinen fortschreitenden Bruch mit dem Quäker-Bekenntnis.

In den Wochen zuvor hatte ich zunächst den Entschluß gefaßt, mich zum Dienst bei einem zivilen Bautrupp zu melden, der den Aufbau eines Militärstützpunktes in Afrika übernehmen sollte. In dieser Angelegenheit war ich an jenem schicksalhaften Sonntagmorgen in die Empfangshalle des Hotels gekommen. Ich war innerlich noch nicht bereit, den regulären Militärdienst anzutreten; so gedachte ich zivile Pflichten zu übernehmen, die in dieser Hinsicht keinen völligen Bruch mit meinen Eltern bedeuteten. An diesem Sonntag erkannte ich, daß ich der Auseinandersetzung mit dem Militärdienst ausweichen würde, wenn ich mich beim Bautrupp bewarb. Ich würde mich dieser Frage direkt stellen müssen. Kurz darauf reisten meine Bekannten ohne mich ab, um ihren Dienst anzutreten. Einige Tage später traf ich meinen Vater in New York.

Wir hatten ein Gespräch wie noch nie zuvor. Mein Vater faßte seine Ansichten über persönliche Beziehungen in der Familie, unter Freunden und im Geschäftsleben zusammen, wobei mehrfach die Worte "anständig handeln" fielen. Das wollte er mir gegenüber tun. Auf meiner Seite bewirkte die erworbene Selbständigkeit, daß ich meine Eltern im richtigen Verhältnis sah. Ich erkannte, daß sie in jeder Hinsicht schwächer waren als ich, und daß es meine Pflicht wäre, ihnen zu helfen. Ich ließ mich von ihren Versuchen, mein Denken in allen Einzelheiten zu beherrschen, nicht erdrücken, spürte aber, daß ich meine Verpflichtung ihnen gegenüber nicht abschütteln konnte. Im Verlauf einer stundenlangen und tränenreichen Auseinandersetzung in meinem Elternhaus in East Lynn, Pleasant View Avenue 23, kapitulierte ich vor der Aussicht, an die Northeastern University zurückzukehren, und fand mich mit dem Status des Wehrdienstverweigerers ab.

Aber es war keine vollständige Kapitulation. Seit jenem Morgen im Eßzimmer unseres Hauses am Coxeter Square Nr. 3 am Tag meiner Einschulung war ich emotional "Wehrdienstverweigerer". Die vielen Schläge, die ich im Lauf der Jahre eingesteckt hatte, ohne mich zu wehren, hatten mein damaliges Gelöbnis zur Überzeugung werden lassen. Geistig hatte ich den Bruch mit dem Quäkertum zwar vollzogen, aber gefühlsmäßig nicht. Der Gedanke, einen anderen Menschen zu töten, war mir ein Greuel; gefühlsmäßig war ich bereit, lieber selbst zu sterben, als mein Leben durch Gefährdung eines anderen zu retten. Die Verstandesentscheidung würde sich durchsetzen, aber es dauerte, bis sie emotional die Ecken und Winkel meiner Persönlichkeit erreichte. Bei der Entscheidung ging es nicht darum, ob ich das eine oder das andere tat; es ging darum, das Selbstverständnis meiner Kinder- und Jugendzeit zu überwinden und ein neues Selbstverständnis zu finden. Ich hatte meine Wahl getroffen, aber ich mußte erst in sie hineinwachsen.

wird fortgesetzt

 

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