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Aus der Neuen Solidarität Nr. 49/2002

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Die Macht der Vernunft

- 5. Folge -
Von Lyndon LaRouche

Am 8. September 2002 ist Lyndon LaRouche 80 Jahre alt geworden. Die Leser dieser Zeitung kennen seine weitsichtigen Analysen, treffsicheren Prognosen und programmatischen Vorschläge zur Überwindung der Krise. Leben und Werdegang dieses Vertreters des "besseren Amerika" kennen hingegen nur wenige. Wir veröffentlichen deshalb in den kommenden Wochen Teile aus LaRouches Autobiographie "Die Macht der Vernunft", die 1987 erschien und schon lange vergriffen ist.


Unternehmensberater in der Schuhindustrie
Leibniz und die Differentialrechnung

Das American Friends Service Committee

Unternehmensberater in der Schuhindustrie

Kurz vor Weihnachten 1942 trat ich in ein Quäker-Lager für Wehrdienstverweigerer in West Campton (New Hampshire) ein. In den Monaten zuvor geschah zweierlei, das mein späteres Leben nachhaltig beeinflußte. Ich verbrachte das Jahr zum großen Teil an der Seite meines Vaters in seinem Beraterberuf. Zweitens schloß ich die erste Vorlesung in der Integralrechnung mit glänzendem Erfolg ab, während ich die Art, wie die Differentialrechnung gelehrt wurde, verabscheute und ablehnte. Das erste gab mir die wichtigsten Voraussetzungen für meine eigene Arbeit als Unternehmensberater nach dem Krieg. Das zweite erlaubte mir ein tieferes Verständnis meiner Kontroverse mit der axiomatisch-deduktiven Methode und trug somit in großem Maße dazu bei, daß meine Kritik an der Informationstheorie Norbert Wieners möglich wurde.

Zu den wichtigsten Voraussetzungen, auf denen ein Urteil beruht, gehört der psychologische Ausgangspunkt bei der Betrachtung des Problems. Dessen wichtigste Aspekte sind zwei: erstens die eigene Weltanschauung, die Denkmethode, auch die Maßstäbe, um zu beurteilen, welches Ergebnis befriedigend und welches unbefriedigend ist. Der zweite ist, wie man das eigene Selbstverständnis im Verhältnis zum Problemfeld einordnet. Wer diese beiden Voraussetzungen in geeigneter Form erfüllt, besitzt wahrscheinlich die Qualifikation für eine Laufbahn als Unternehmensberater oder in einem ähnlichen Bereich. Ich erwarb den zweiten Teil dieser Voraussetzung als Mitarbeiter meines Vaters im Jahre 1942.

Die Tätigkeit des Unternehmensberaters veranlaßt dazu, Probleme aus der Sicht der Geschäftsleitung zu sehen. Wichtiger ist, sie veranlaßt auch dazu, sich psychologisch über die Sicht der Geschäftsleitungen erheben. Die Reaktion der Geschäftsleitung auf das Problem ist für den Unternehmensberater der eigentliche Gegenstand seiner Arbeit.

Diese Herangehensweise kam meiner sokratischen Weltanschauung sehr entgegen. In Anbetracht der technischen und sonstigen Sachverhalte sind die meisten betrieblichen Probleme keine Folge mangelnden technischen Sachverstands der Geschäftsleitung, sondern irriger Annahmen, die ihrer Reaktion auf technische und sonstige Schwierigkeiten zugrundeliegen. Die wichtigste Funktion eines Unternehmensberaters ist es, die unausgesprochenen Annahmen herauszufinden, die den fraglichen Verfahrensweisen zugrundeliegen, und dann herauszufinden, welche davon zu unzweckmäßigen Reaktionen der Geschäftsleitung führen.

Die technische Seite der Beratertätigkeit ist natürlich unentbehrlich. Ohne technischen Sachverstand könnte der Berater weder die Probleme erkennen noch Lösungsvorschläge finden. Er muß technischen Sachverstand haben, aber dieser allein qualifiziert ihn noch nicht zum Unternehmensberater. Er braucht außerdem eine sokratische Neigung, um stillschweigende Annahmen der Geschäftsleitung zu durchleuchten, und muß gewohnheitsmäßig aus der richtigen psychologischen Sicht an die Sache herangehen.

Ende der 30er Jahre kam in den USA der sog. "Penny loafer" in Mode. Die Besonderheit dieses Schuhs war eine mokassinähnliche Vorderkappe. Um diese zu nähen, benutzte man meist Maschinen der United Shoe Machinery Corporation (USMC) vom Typ ORL, die sonst dafür bestimmt waren, bei Schuhen mit Randnaht die Sohle mit dem Oberleder zu verbinden. Die USMC hatte ein Zusatzgerät entwickelt, um mit dieser Maschine Mokassinvorderkappen nähen zu können. Der Nachteil der ORL waren die hohen Kosten pro Maschinenstunde und, sehr zum Verdruß der Schuhgestalter, Einschränkungen bei der Gestaltung der Naht. Mein Vater entwickelte ein Zusatzgerät für eine andere Maschine, die viel billiger war als die ORL, was nicht nur die Kosten senkte, sondern auch Schuhmodelle ermöglichte, die mit dem Zusatzgerät der USMC nicht herzustellen waren.

Die Anpassung seines Geräts für die neuen Anforderungen, die eine größere Flexibilität in der Schuhgestaltung mit sich brachte, hielt meinen Vater viele Stunden in den Werkshallen seiner Klienten. Einen Leinenfaden so zu führen, daß ein sauberer Kettenstich entsteht, ist besonders beim Drehen des Werkstücks während der Arbeit nicht ganz so einfach, wie man meinen möchte. Der Faden muß immer die richtige Spannung haben. Bei der Handnaht ist das kein Problem, doch die manuelle Korrektur der Fadenspannung mit einer Maschine nachzuvollziehen, war nicht so leicht. Wer ein Meister im Umgang mit den Einstellvorrichtungen ist, löst diese Aufgabe ohne weiteres; schwierig wird es, wenn es auch der normale Arbeiter schaffen soll.

Hinzu kam die Schwierigkeit, daß die umgebauten Maschinen mitten in der laufenden Fertigung in Betrieb genommen werden mußten. Wenn Probleme auftraten, mußten sie in der laufenden Fertigung gelöst werden, ohne Ausschuß zu produzieren oder den Zeitplan durcheinander zu bringen. Die eigentliche Ursache des Problems war, daß die United Shoe Machinery Corporation praktisch eine Monopolstellung besaß.

Die Entwicklung der Maschinen zur Schuhfertigung war zu Beginn des 20. Jahrhunderts im Grunde abgeschlossen. Die einzigen größeren Verbesserungen waren das Werk eines erfinderischen Schuhherstellers aus dem Bostoner Raum namens Tom Plant. Die USMC hatte seine Erfindungen aufgekauft, und so sahen die Maschinen zur Schuhfertigung in den 40er Jahren im wesentlichen noch genauso aus wie zur Zeit des Ersten Weltkriegs. Die USMC besaß praktisch ein Monopol, außer in einigen Bereichen, wo die Firma Singer den Ton angab, und nutzte es aus, um den technischen Fortschritt der Branche zu bremsen und dadurch höhere Gewinne zu ernten. Deshalb waren die Maschinen, mit denen mein Vater arbeitete, vergleichsweise primitiv und erforderten entsprechend größere Findigkeit der Techniker und Arbeiter.

Mein Vater und seine Klienten mußten diese Maschinen dazu bringen, daß man trotz ihrer Primitivität damit herstellen konnte, was verlangt wurde.

Mein Vater war Fachmann der verschiedenen Verfahren der Schuhherstellung, und unter seiner Anleitung eignete ich mir diese Kenntnisse rasch an. Ich lernte auch, was zu tun war, wenn ich in eine Fabrik kam, wo die Fertigung hinten und vorne nicht klappte und die Maschinen in erbärmlichem Zustand waren, um den Laden so in Schuß zu bringen, daß er funktionierte, auch wenn es mich und einige Helfer ein Wochenende kostete. Dem guten Unternehmensberater macht es besonderen Spaß, wenn ihm gelingt, was alle für unmöglich hielten, und zum allgemeinen Erstaunen der Betrieb am nächsten Montagmorgen wieder läuft. Die wenigsten erkennen, was möglich ist, bevor sie solche Aufgaben hinter sich gebracht haben. Der einzige Wirtschaftszweig, wo ich diese Herangehensweise als Regelfall erlebte, sind die selbständigen Landwirte, die vom amerikanischen Landwirtschaftsministerium jetzt in den Ruin getrieben werden.

Den Arbeiten in der Werkshalle folgten spätabends Sitzungen mit der Geschäftsleitung. Dabei lernte ich die Anfangsgründe ihrer Sichtweise kennen und wurde etwas mit der Problematik der versteckten Annahmen hinter eingefahrenen Verhaltensweisen vertraut. Dies vor allem, weil ich mitbekam, wie mein Vater und seine Klienten vereint die USMC zu überlisten suchten, die den Vormarsch meines Vaters auf einen lukrativen Geschäftsbereich als Angriff auf ihre Firmenehre betrachtete.

Leibniz und die Differentialrechnung

Die Problematik der Differentialrechnung hängt mit der fixen Idee zusammen, daß diese von Newton statt von Leibniz entdeckt worden sei. Aus diesem Zusammenhang ist es zu erklären, weshalb ich mir die Integralrechnung so leicht aneignete, nachdem ich die axiomatischen Annahmen des Differentialrechnungsunterrichts verworfen hatte.

Die Vorgaben für die Entwicklung der Differentialrechnung stammen von Johannes Kepler und waren in erster Linie ein Nebenprodukt der Arbeiten, mit denen er den Grundstein der Astrophysik legte. Um seine Berechnungen zu erleichtern, entwickelte er die erste Rechenmaschine. Sie wurde im 30jährigen Krieg zerstört, aber Keplers Entwurf wurde von Blaise Pascal nachgebaut, und Pascals Rechenmaschine war für Leibniz der Ausgangspunkt zur Konstruktion der modernen mechanischen Vierspezies-Rechenmaschine und für das Prinzip des mechanischen Differentialanalysators.

Pascal übernahm die Aufgabe, eine Differentialrechnung nach Keplers Vorgaben zu entwickeln; zu diesem Zweck untersuchte er Ordnungsprinzipien von Zahlenfolgen aus einer Sicht, die wir heute als Anfänge der Differentialgeometrie erkennen. Leibniz hatte bereits vor 1672 erste Untersuchungen in diese Richtung unternommen und seine erste wirtschaftswissenschaftliche Schrift Societät und Wirtschaft verfaßt. Im Jahre 1672 begann er in Paris, in Zusammenarbeit mit Christian Huygens unter der Schirmherrschaft des französischen Premierministers Jean Baptiste Colbert, ernsthaft an der Differentialrechnung zu arbeiten. Leibniz erhielt Zugang zu dem unveröffentlichten Nachlaß Pascals und vollendete die Grundlagen der Differentialrechnung in einem Aufsatz, der 1676 einem Pariser Verleger übergeben wurde. Eine Untersuchung der unveröffentlichten Schriften im Leibniz-Archiv in Hannover zeigt, daß seine Entwicklung der Differentialrechnung in der Zeit 1673-76 in Paris sehr viel weiter war als alles, was bis zur Ecole Polytechnique der Jahre 1784-1814 unter Carnot und Monge in der Öffentlichkeit bekannt wurde.

Was Newton etwa zwölf Jahre nach Leibniz' Aufsatz von 1676 veröffentlichte, war keine Differentialrechnung. Niemand hätte je gedacht, das zu behaupten, wäre Leibniz nicht für das Amt des britischen Premierministers in Betracht gezogen worden. Die Gruppe um den Earl of Marlborough, Königin Annas und Leibniz' Gegner, suchte seine wissenschaftlichen Leistungen zu schmälern, um seine Ernennung zum Premierminister zu verhindern. Königin Anna verlangte, daß der unverschämte Klatsch über Leibniz aufhörte, und forderte seine Gegner auf, sich in einer öffentlichen Debatte zu ihren unbewiesenen Behauptungen zu äußern. So erfand die Marlborough-Fraktion das Märchen, Newton sei der eigentliche Entdecker der Differentialrechnung. Dies führte zu den Streitschriften zwischen Leibniz und Clarke und zu Leibniz' Aufsatz Über die Geschichte und Ursprünge der Differentialrechnung.

Geht man auf den Spuren von Kepler, Pascal und Leibniz vom Standpunkt einer konstruktiven Geometrie aus, dann gibt es nichts Axiomatisch-Deduktives an der Differentialrechnung. Der Versuch, dieser Aufgabe mit unendlichen Reihen und axiomatischer Algebra beizukommen, erfordert zahlreiche unsinnige Zusatzannahmen, damit das Endprodukt scheinbar den Anforderungen einer Differentialrechnung genügt.

Gegen Anfang des 19. Jahrhunderts hatte Newton unter den Wissenschaftlern des europäischen Kontinents jedes Ansehen verspielt. Das änderte sich ab 1815 aufgrund politischer Entscheidungen des Wiener Kongresses. Lazare Carnot mußte Frankreich verlassen, Monge verlor an der Ecole Polytechnique, die er aufgebaut und geleitet hatte, seine Stellung, und sein Lehrplan, der Frankreich in den Naturwissenschaften an die Weltspitze gebracht hatte, wurde abgeschafft. Laplace und sein Günstling Augustin Cauchy übernahmen die Leitung.

Um dieselbe Zeit, in den 20er und 30er Jahren des 19. Jahrhunderts, entstand in England eine Gruppe, der auch Charles Babbage angehörte. Sie stellte alarmiert fest, daß die Naturwissenschaften in England so gut wie tot waren, und forderte, daß Großbritannien auf dem Kontinent Nachhilfe nehmen müsse. Sie erklärte Newtons sogenannte Differentialrechnung für absurd und forderte, an ihrer Stelle die Leibnizsche Differentialrechnung einzuführen. So erschien in Großbritannien wie auch in Frankreich ein Abklatsch der Leibnizschen Differentialrechnung, der auf dem von Cauchy eingeführten "Neukartesianismus" beruhte und bis heute die einschlägigen Lehrbücher beherrscht.

Die Rechenoperationen der Integralrechnung beziehen sich unmittelbar auf Begriffe der konstruktiven Geometrie und sind begrifflich ohne weiteres einsichtig, ohne auf den axiomatisch-deduktiven Reduktionismus von Cauchys Methode zurückzugreifen. Meine erste Begegnung mit der Integralrechnung war daher von Faszination und Freude begleitet, während die Differentialrechnung mich in Angst und Schrecken versetzte.

Durch dieses Erlebnis wandte sich mein Interesse erneut den Leibniz-Studien zu. In mir war etwas im Gang, das erst nach dem Krieg zutagetreten sollte.

Das American Friends Service Committee

Von wenigen Ausnahmen abgesehen waren die Wehrdienstverweigerer, die ich kennenlernte, übelste Heuchler, denen ich lieber aus dem Weg gegangen wäre. Eine der Ausnahmen war F. Porter Sargent, dessen elterlich geprägte Weltanschauung der meinen zwar in jeder Hinsicht diametral zuwiderlief, der aber im Umgang mit anderen Menschen höchste moralische Grundsätze bewies. Porter war mir ein teurer Freund und blieb es bis zu seinem erschütternden Tod 1975.

Die Wehrdienstverweigerer, die ich kannte, hatten im Vergleich zu Porter mit wenigen Ausnahmen keine moralischen Grundsätze und vertraten Weltanschauungen, die ich verabscheute. Am schlimmsten waren die Lagerverwalter, Funktionäre des American Friends Service Committee. Das AFSC nutzte die Gelegenheit, mich in seiner Obhut zu haben, um Rache an meinen Eltern zu üben. Ich fand Beweise für ihre Machenschaften und setzte durch, daß ich in ein staatlich verwaltetes Lager verlegt wurde. Ich kam vom Regen in die Traufe, weil die Einheit kleiner war und ich deshalb mit den Leuten des AFSC noch enger in Berührung kam.

Zusammen mit mir war ein Student des Queens College, Quentin Stodola, aus West Campton in das staatlich verwaltete Lager übergewechselt. Wir unterhielten uns oft, und ich legte ihm meine Überzeugungen dar, was mir half, meine Entscheidung zu formulieren. Seine philosophische Überzeugung war nicht die meine, aber wir beschlossen gemeinsam, den Militärdienst anzutreten. Ich handelte als erster, schickte ein Telegramm an die Einberufungsstelle nach Washington und wurde umgehend nach Fort Bliss zur Grundausbildung eingezogen.

Später lehnte ich zweimal das Angebot ab, die Offiziersanwärterschule zu besuchen, meiner Gewohnheit getreu, nicht nach Geld und Rang streben zu wollen. Im weiteren Gang der Ereignisse wurde ich zunächst für die Verwendung in Europa vorgesehen und kam nach Indiantown Gap, wurde dann aber an die Pazifikküste kommandiert und schiffte mich auf der Admiral Benson nach Bombay ein.

 

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