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Aus der Neuen Solidarität Nr. 50/2002

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Die Macht der Vernunft

Von Lyndon LaRouche

Am 8.September 2002 ist Lyndon LaRouche 80 Jahre alt geworden. Die Leser dieser Zeitung kennen seine weitsichtigen Analysen, treffsicheren Prognosen und programmatischen Vorschläge zur Überwindung der Krise. Leben und Werdegang dieses Vertreters des "besseren Amerika" kennen hingegen nur wenige. Wir veröffentlichen deshalb in den kommenden Wochen Teile aus LaRouches Autobiographie "Die Macht der Vernunft", die 1987 erschien und schon lange vergriffen ist.


6. Folge: Militärdienst in Indien
Ein prägendes Erlebnis

Die Kalkutta-Unruhen

6. Folge: Militärdienst in Indien

Von Bombay ging der Transport mit der Eisenbahn in ein Lager außerhalb Kalkuttas; auf der Strecke winkten wir Mahatma Gandhi zu und bewunderten die Glut über dem Stahlwerk im nächtlichen Dschamschedpur. Per Eisenbahn und auf der Ladefläche von Armeelastwagen gelangte ich dann von Kalkutta nach Ledo in Assam; dort ergatterte ich einen LKW-Sitzplatz und erreichte so die Stadt Mjitkjina in Nordburma, von der nach der letzten Schlacht nur Trümmer geblieben waren.

Ich kam oft mit dem Tod in Berührung, als ich in der Notaufnahme des 18th General Hospital eingesetzt war; obwohl ich lediglich einmal durch eine verirrte Handgranate in Gefahr geriet, erhielt ich eine Tapferkeitsauszeichnung. Ich blieb von einer Ruhrepidemie verschont, die das Lazarettpersonal und die Patienten heimsuchte, zog mir aber eine leichte tropische Infektionskrankheit zu, sowie eine weitere Erkrankung, wohl ebensosehr durch Erschöpfung verursacht wie durch meine wahrscheinlich geerbte Kreislaufschwäche, die unter diesen Umständen hervortrat. So ging der Krieg zu Ende. Ich wurde auf dem Luftweg mit einer DC-3 nach Ledo gebracht und bald darauf als Proviantmeister einer Gruppe von GIs zugeteilt, die sich per Eisenbahn nach Kalkutta durchschlagen sollte.

Ich erinnere mich nur an zwei Erlebnisse während der Dienstzeit in Burma und Indien, die mir heute berichtenswert erscheinen.

Die erste Begebenheit trug sich auf dem Ersatztruppensammelplatz vor den Toren Kalkuttas kurz vor meiner Abreise nach Burma zu. Wir hatten gerade vom Tode Präsident Roosevelts erfahren. Es war Abend. Ich wurde zu einer Gruppe von etwa zwei Dutzend GIs gerufen und aufgefordert, meine Ansichten über die Auswirkungen von Roosevelts Tod vorzutragen. Uns war nach einer Totengedenkstunde zumute. Unser Präsident und Oberbefehlshaber war gestorben, und wir wollten darauf angemessene, persönliche Worte finden. Ich äußerte die Ansicht, daß Harry Truman, der Vizepräsident, ein Mann von viel kleinerem Format als der verstorbene Präsident wäre, und daß ich deshalb besorgt in die Zukunft blickte. Diese Ansicht fand einhellige Zustimmung.

Ich war überrascht, daß gerade von mir politische Führung dieser Art verlangt wurde. Und ich war auch von meiner Antwort überrascht. Ich erinnerte mich nicht, diesen Gedanken vorher formuliert zu haben; er kam einfach, als ich gefragt wurde. Damals kam mir der Gedanke, ob ich vielleicht zukünftig eine politische Führungsrolle irgendeiner Art spielen würde. In den folgenden Monaten dachte ich gelegentlich über diese Frage nach und hatte dabei immer das Bild der improvisierten Gedenkstunde vor Augen. Die Vorstellung, auf solche Weise nützlich zu sein, sagte mir zu, doch wies ich den Gedanken von mir, eine politische Stellung zu erstreben. Die Überlegung rumorte weiter, blieb aber ohne besondere Folgen, bis ich bei Kriegsende in die Nähe Kalkuttas zurückkam.

Ein prägendes Erlebnis

Das Erlebnis in Kalkutta 1946 prägte meine politische Grundüberzeugung, daß die Vereinigten Staaten nach dem Krieg die Führung beim Aufbau einer neuen Weltordnung übernehmen müßten, mit der Aufgabe, die Wirtschaftsentwicklung der heutigen "Entwicklungsländer" zu fördern.

Die Fahrt von Ledo in Assam nach Kalkutta brachte mich, teils mit der Eisenbahn, teils auf der Ladefläche von Armeelastwagen und beladen mit den Truthahnkonserven des Proviants, auf den Ersatztruppensammelplatz Kanchrapara vor den Toren Kalkuttas. Für den Besuch der Stadt waren Passierscheine erhältlich. Ich stellte eine Liste politischer Organisationen auf, die ich in Kalkutta besuchen wollte, um so viel wie möglich über die Lage im Lande zu erfahren. Diese Erkundungen waren aufschlußreich, doch die wichtigen Bekanntschaften entwickelten sich erst nach meiner Versetzung zu einer in Kalkutta selbst stationierten Feldzeugeinheit.

Eines Tages trat eine Gruppe von GIs an mich heran. Sie teilten mir mit, daß ich ausgewählt worden sei, das Lager auf einer Soldatenversammlung zu vertreten. Ich hatte zuvor keine Verbindungen zu dieser Gruppe gehabt, ahnte aber, welcher meiner Bekannten bei dem Vorschlag ein Wort mitgeredet haben könnte. Tags darauf wurde mir mitgeteilt, daß ich zu einer anderen Einheit nach Kalkutta versetzt worden war. Damit konnte ich das Lager nicht mehr auf der Versammlung vertreten. Später erzählte mir ein befreundeter Militärpolizist, daß ich auf britischen Wunsch hin von der Abwehr überwacht wurde. Ich vermutete, daß die Versetzung zur Feldzeugeinheit derartige Gründe hatte.

Unter den nach Kriegsende in Indien verbliebenen GIs regte sich die Befürchtung, daß wir im Lande gehalten wurden, um die britische Armee bei möglichen Auseinandersetzungen mit der Unabhängigkeitsbewegung zu unterstützen. Das jedenfalls besagten die Latrinenparolen, und die meisten von uns hielten das damals durchaus für möglich. Die Aussicht, gegen die Inder antreten zu müssen, war für die meisten von uns empörend. Es war ein weiterer Grund, den schnellstmöglichen Rücktransport in die Heimat zu wünschen. Meine bekannten Sympathien für die indische Sache hatten sicherlich eine Rolle gespielt, als man mich als Vertreter des Lagers auf der Soldatenversammlung vorschlug.

Die Feldzeugeinheit war auf dem Gelände einer ehemaligen Mädchenschule untergebracht, einige Fußminuten vom Südrand des Maidan, dem Park in der Stadtmitte, entfernt. Abends nach Dienstschluß ging ich auf die Chowringhee, die neben dem Park verlaufende Prachtstraße, um Gespräche mit Bengalen anzuknüpfen, die von den GIs wissen wollten, was sie über die Aussicht der indischen Unabhängigkeit dachten. Zugleich lernte ich einen wachsenden Kreis von Kameraden kennen, die der indischen Sache ebenfalls mit Sympathie gegenüberstanden.

Tageweise wurde ich zu einem Lagerhaus abkommandiert, das von zwei indischen Babus, Angehörigen der Brahmanenkaste, verwaltet wurde. Ich sollte mithelfen, daß der Umschlag der Versorgungsgüter im Zusammenhang mit dem bevorstehenden Abzug der amerikanischen Truppen reibungslos ablief. Ich hatte dazu einen Traktor, einen Anhänger und etwa zwei Dutzend indische Kulis zur Verfügung. Meine Zusammenarbeit mit den beiden Babus war hervorragend, und ebenso gut war das Verhältnis zu den mir unterstellten Kulis, bis ein Sergeant mit rassistischer Tendenz alles verdarb. Der Vorfall war unerfreulich, hatte aber auch sein Gutes.

Dieser Sergeant fing Streit mit einem der beiden Babus an, obwohl er gar nichts bei ihnen zu suchen hatte. Nach gewöhnlichen Beleidigungen fiel ein gemeines rassistisches Schimpfwort. Ich befahl den Sergeanten hinaus. Er taxierte meine Laune und gehorchte. Jammernd lief er zum diensthabenden Oberleutnant, und auf der Stelle wurde eine Untersuchung anberaumt. Der Sergeant forderte meinen Kopf, aber gegen die vorhandenen Zeugen hatte er keine Chance. Ich wurde einfach von meinem Auftrag entbunden und erhielt keinen neuen. So bekam ich wesentlich mehr Gelegenheit als zuvor, Kalkutta zu erkunden.

Die Bengalen, die ich kennenlernte, zeichneten sich durch unersättliche Wißbegierde aus. Der Anblick meiner Uniform genügte, um auf der Strecke eines Häuserblocks zwei bis drei neue Bekanntschaften anzuknüpfen. Ich war stets zu Gesprächen bereit, und so konnte ich über die näheren Umstände und das Tempo der Entwicklungen bis in die kleinsten Einzelheiten alles erfahren, was ich nur zu wissen begehrte. Die Anglo-Inder, Personen ganz oder teilweise europäischer Herkunft, waren bengalischer, als viele von ihnen zugeben mochten. Bald hatte ich zu Kreisen der indischen und der anglo-indischen Politik gleichzeitig Kontakt.

Eines Tages saß ich zusammen mit einem Kameraden, Gene Schramm, in der Straßenbahn, um eine Veranstaltung in der Rotkreuz-Zentrale zu besuchen. Außer uns gab es nur wenige andere Fahrgäste. Einer von ihnen war Ken Stuart, ein junger anglo-indischer Schriftsteller. Er kam auf uns zu und knüpfte ein Gespräch an, in dessen Verlauf Gene und ich zu einem Whisky-Soda in seinen Club eingeladen wurden. Ken und seine Clubfreunde machten uns mit den führenden Kreisen anglo-indischer Politik in Kalkutta bekannt. Sie waren freundlich im Umgang, aber durchaus nicht geneigt, sich in das unabhängige Indien einzufügen. Einige dachten daran, auf den Andamanen einen selbständigen anglo-indischen Kleinstaat zu errichten. Andere bereiteten schon die Auswanderung nach Großbritannien vor. Eine Schande, dachte ich; sie hätten im unabhängigen Indien eine nützliche Rolle übernehmen können.

1946 verkörperte die indische Kongreßpartei einen lebendigen Optimismus, der mich begeisterte. Ein unvergeßliches Beispiel dafür ist meine Begegnung mit einer Gruppe Kulis im Maidan-Park, einige Wochen vor Ausbruch der sogenannten Kalkutta-Unruhen. Ich unterhielt mich gerade mit zwei Bekannten, als die Gruppe auf uns zukam. Einer von ihnen fragte, ob sie dem "amerikanischen Sahib" eine Frage stellen dürften: Würden die Vereinigten Staaten Textilmaschinen nach Indien exportieren, nachdem Indien die Unabhängigkeit erlangt hatte? Man muß Kalkutta kennen, wie ich es damals kennenlernte, um ermessen zu können, welchen tiefen Eindruck diese Frage auf mich machte.

Die Not der bengalischen Kulis gehörte zu den Fragen, die ich mithilfe von Freunden untersucht hatte. Diese armen Menschen, Analphabeten, verdienten nur ein paar Annas am Tag. Dieser Lohn war von den Briten festgesetzt worden, bevor die schlimme Inflation der folgenden Jahre einsetzte. Bei der Bewertung der Kaufkraft dieses Einkommens hatte ich festgestellt, daß man damit nicht einmal die Ernährung einer einzigen Person gewährleisten konnte. Viele Kulis gingen zusätzlich betteln und schliefen nachts auf der Straße. Beschäftigung in einer Textilfabrik zu finden, symbolisierte für sie das Ende ihrer Not. Die meisten amerikanischen Yuppies haben heute nicht soviel Patriotismus und Verstand, wie diese armen Kulis mit ihrer Frage zum Ausdruck brachten.

Ich antwortete, ich wäre nur ein unwichtiger Soldat, der so etwas nicht entscheiden könnte; ich wäre aber der Meinung, daß die USA dem unabhängigen Indien helfen sollten, Maschinen für seine Entwicklung zu erhalten. Die Antwort schien sie zu freuen.

Die Kalkutta-Unruhen

Wenn für mich eine Notwendigkeit bestand, politisch erwachsen zu werden, so ließen die Kalkutta-Unruhen mir keine andere Wahl. Die Ereignisse begannen auf dem Maidan, in der Nähe einer Endhaltestelle der Straßenbahn. Ich traf zwei indische Studenten, die mir bekannt waren. Sie wiesen auf eine mehrdutzendköpfige Gruppe von Indern, die sich in der Nähe versammelt hatte. Die beiden Studenten führten eine Kundgebung für die Unabhängigkeit vor dem Palast des Generalgouverneurs - eine Routinesache. Wir verabredeten uns für später, um unser Gespräch fortzusetzen. Einige der Demonstranten kehrten nicht zurück.

Solche Kundgebungen gehörten zum täglichen Bild und verliefen zwar auf bengalische Art lautstark, aber in der Hauptsache friedlich. Doch diesmal gingen die Wachen mit Lathis gegen die kleine Demonstrantengruppe vor. Lathis sind lange, biegsame Schlagstöcke mit einem Metallstück am oberen Ende. Sachverständig geführt ist diese Waffe tödlich. Der Angriff war offensichtlich eine Provokation und in dieser Absicht befohlen worden.

Die Folgen waren voraussehbar. Es kam zu einer Großdemonstration gegen das brutale Vorgehen. Auf der Dharmatala, einige Straßenzüge vom Palast des Generalgouverneurs entfernt, wurden die Demonstranten mit Maschinengewehrfeuer empfangen. Kurze Zeit herrschte in Kalkutta gespannte Ruhe. Dann explodierte Bengalen. In Scharen drängten sich die Demonstranten auf den Dächern und Trittbrettern der Züge, die in Kalkutta einfuhren. Mehrere Tage und Nächte marschierten Millionen von Bengalen in dichten Reihen, die sich über die ganze Straßenbreite erstreckten, durch Kalkutta. Die britischen Streitkräfte räumten die Stadt. Nur die amerikanischen Truppen blieben. Unaufhörlich schallte der Ruf jai Hind! aus Hunderttausenden, manchmal Millionen Kehlen durch die Stadt. Wäre jemandem daran gelegen gewesen, so hätte in diesem Moment in Kalkutta eine unabhängige indische Regierung entstehen können, und die blutigen Auseinandersetzungen zwischen den Volksteilen im folgenden Jahr wären wahrscheinlich vermieden worden.

Doch abgesehen von einigen Zwischenfällen, die in solchen Situationen praktisch unvermeidbar sind, geschah nichts. Die erschöpften Demonstranten zerstreuten sich. Die nationalistische Bewegung hatte die Lage in der Hand und blieb untätig. Warum? Ich fand das unbegreiflich. Ich suchte überall nach einer Erklärung und erhielt sie in der Zentrale der von P.C. Joshi geführten Kommunistischen Partei: Stalin und Churchill hatten vereinbart, daß Indien erst 1947 unabhängig werden sollte.

Der größte Teil der Welt wünscht und braucht eine Weltordnung, die auf denselben Grundsätzen beruht wie die Unabhängigkeitserklärung der USA - eine Weltwirtschaftsordnung, die mit dem amerikanischen System der politischen Ökonomie im Einklang steht, das die Regierung George Washington in den Berichten ihres Finanzministers Alexander Hamilton über das öffentliche Kreditwesen, über die Frage einer Nationalbank und über das Manufakturwesen formulierte. Angesichts der Macht, die unsere Republik verkörpert, versündigen wir uns am nationalen Erbe, wenn wir es nicht als unsere erste Pflicht ansehen, eine solche Weltordnung zu schaffen und sie gegen alle Widersacher zu verteidigen.

Unser unverzichtbares nationales Interesse ist es, eine Nation jener Art zu sein und mit zunehmender Vollkommenheit zu werden, wie sie die Gründerväter der USA zu errichten hofften. Sind wir das nicht, wird unsere Moral vernichtet, und wahrscheinlich früher oder später auch unsere Existenz. Die internationalen Verbündeten Benjamin Franklins begründeten die USA, um auf diesem Planeten eine verfaßte Republik neuer Art zu schaffen, als Tempel der Freiheit und Leuchtfeuer der Hoffnung für die gesamte Menschheit. Um den Bestand dieser Grundsätze zu sichern, müssen wir sie unter den Staaten verbreiten und ihnen in den Beziehungen zwischen den Staaten auf diesem Planeten Vorherrschaft verschaffen. Unsere Sicherheit in der Welt hängt davon ebenso sehr ab wie unsere lebenswichtigen eigenstaatlichen Interessen. Gegenteilige Vorstellungen von unserem nationalen Interesse sind Verblendung und ein sicherer Weg in die nationale Tragödie.

Das und vieles mehr war mir klar geworden, als ich in Kalkutta an Bord des Truppentransporters ging, der uns durch den Suezkanal nach Hause brachte. Das war und ist seither meine politische Grundüberzeugung und wird es immer bleiben.

wird fortgesetzt

 

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