Aus Ibykus Nr. 55 (2/1996):

EDITORIAL


Wir feiern in diesem Jahr den 350. Geburtstag von G.W. Leibniz. Geboren in den Wirren des 30jährigen Krieges, schuf dieser bedeutende Philosoph, Wissenschaftler und Stratege die Grundlagen für eine neue europäische Friedensordnung:

Als der verheerende Dreißigjährige Krieg 1648 zu Ende ging, lag Europa in Trümmern. Seine Wirtschaft war zerstört. Hunger und Seuchen hatten die europäische Bevölkerung um die Hälfte dezimiert. Während an der Südflanke Europas die türkische Gefahr drohte, sah sich der Kontinent permanent mit der Unberechenbarkeit und den Übergriffen französischer Machtpolitik konfrontiert. Europa würde erst eine stabile Grundlage erhalten, so lautete der strategische Gegenentwurf G.W. Leibniz', wenn eine Gemeinschaft souveräner Staaten geschaffen und die Wirtschaft Europas auf der Grundlage wirtschaftlichen und wissenschaftlichen Fortschritts neu belebt würde. Mit seinen Erfindungen im Bereich der Mathematik und Physik sowie im Maschinen- und Bergbau leitete Leibniz den Aufschwung in der modernen Wissenschaft ein. Zugleich legte er mit seinen wirtschaftstheoretischen Schriften den Grundstein für die "physische Ökonomie", die ihren erfolgreichstes Niederschlag in der Entwicklung des "amerikanischen Wirtschaftssystems" unter Alexander Hamilton fand.

Den eigentlichen Schlüssel für die Entwicklung Europas und den Fortschritt der Menschheit sah Leibniz jedoch in der Entwicklung Eurasiens, und er war der erste Westeuropäer von politischem und geistigem Format, der in seinen diversen Denkschriften und kraft seiner Rolle als "Solon von Rußland" ein wirtschaftspolitisches Design für die infrastrukturelle Erschließung sowohl Rußlands wie Chinas entwickelte.

350 Jahre später stehen wir heute vor ähnlichen Herausforderungen, wie die, mit denen G.W. Leibniz konfrontiert war. Ohne den wirtschaftlichen und infrastrukturellen Aufbau Rußlands und Chinas wird es in Zukunft keinen Frieden auf dieser Welt geben.

Als Berater des russischen Zaren Peter I., legte Leibniz in unzähligen Briefen, Denkschriften und auch Akademieentwürfen dar, wie eine eurasische Entwicklung aussehen könnte: Als oberstes Gebot sah er die Notwendigkeit zum Ausbau der Infrastruktur Rußlands - ein Problem, das bis auf den heutigen Tag aktuell geblieben ist. Als sehr wesentlich erschien Leibniz dafür die Errichtung magnetischer Beobachtungsstationen, mit deren Hilfe das Land kartographisch erfaßt und infrastrukturell erschlossen würde. Diese Stationen sollten bis nach Sibirien und bis an die Grenze Chinas gehen. Gleichzeitig legte er ein Sprachprojekt zur Erforschung der Sprachen Zentralasiens vor und regte den Vergleich des "Vaterunser" in verschiedenen Sprachen an, denn diese philologischen Forschungen seien wesentlich für die Christianisierung Asiens und Rußlands. Daneben schlug er die Erforschung Sibiriens vor, die Schiffbarmachung des russischen Stromsystems, die Trockenlegung der Sumpfgebiete, die Ausnutzung unerschlossener russischer Bodenschätze, den Ausbau des russischen Straßennetzes nach China und Persien, die Aufstellung von Observatorien und die Gründung wissenschaftlicher Akademien, wo das beste Wissen der Menschheit zusammengetragen würde.

Den verschiedenen Denkschriften zur Entwicklung Eurasiens vorausgegangen waren einige wirtschaftstheoretische Aufsätze, die Leibniz im Zeitraum von 1668 bis 1673 verfaßt hatte und mit denen er die Grundlagen der "physischen Ökonomie" schuf. Unter "physischer Ökonomie" versteht Leibniz die Beförderung des "Gemeinwohls", eine Forderung, die sich notwendig aus dem christlichen Menschenbild ergibt: Als Gottes Ebenbild geschaffen und kraft der dem Menschen verliehenen schöpferischen Vernunft sei es dem Menschen vorbehalten, so schreibt Leibniz sehr schön in seiner "Monadologie", die Werke Gottes in kleinen Proben "nachzuahmen" und die Wunder der Natur zu entdecken und zum Nutzen der Menschheit anzuwenden. Fortschreitende wissenschaftliche Erkenntnis in Verbindung mit "Bona opera" tragen somit zur Verbesserung der geistigen und materiellen Lebensbedingungen der Menschheit bei. Dazu gehört: die Entwicklung der Manufaktur, Erhöhung der Produktivität durch Einführung neuer Technologien (wie z.B. der Dampfmaschine), eine bessere Ernährung der Armen, der Schutz einheimischer Produktion und die Beförderung des Handels, neue Erfindungen und das systematische Aufzeichnen aller Erfindungen der Menschheit von den Anfängen bis in die Gegenwart.

Den Kern aller Projekte bildete für Leibniz jedoch die "Erziehung". Dabei sollte methodisch Wert auf das "Nacherleben von Entdeckungen" (ars inveniendi) gelegt werden. Für Leibniz besteht das menschliche Wissen nicht im "Lernen" von Fakten, sondern der Kern des Wissens ist "Entdecken", d.h. Nachvollzug der von Anbeginn der Menschheit bis in die Gegenwart gemachten wesentlichen Erfindungen und Vermitteln einer Methode, mit welcher der Mensch befähigt wird, neue wissenschaftliche Hypothesen aufzufinden. "In diesem Sinne muß man sagen, daß die ganze Arithmetik und die ganze Geometrie eingeboren und auf eine potentielle Weise in uns sind, dergestalt, daß man sie, wenn man aufmerksam das im Geiste schon vorhandene betrachtet und ordnet, darin auffinden kann ohne sich irgendeiner Wahrheit zu bedienen, die wir durch Erfahrung oder Überlieferung kennen gelernt haben - wie Platon dies im Gespräch sagte, wo er den Sokrates einen Jugendlichen durch bloße Fragen, ohne zu lehren zu fernliegenden Wahrheiten (Entdeckung der Diagonale als inkommensurable Zahl) führt," schrieb Leibniz in einem Kommentar über Platons Dialog "Menon".

In einem weiteren Kommentar über Platons "Staat" und die darin entwickelte "Idee des Guten" als Urbild der Gerechtigkeit im Staat, ging Leibniz auf das Argument des Trasymachos ein. Dieser hatte die These aufgestellt, es gebe keinen gerechten, am Gemeinwohl orientierten Staat. Die Gerechtigkeit sei vielmehr die "Macht des Stärkeren." Wenn aber das, was Trasymachos sagt, stimme, so kommentierte Leibniz in einem Aufsatz über die "Gerechtigkeit", dann könnte es kein gerechtes Gerichtsurteil geben, da alles von den Mächtigen abhinge. Die Gerechtigkeit sei sowohl in Gott wie in der Natur des Menschen als souveränes Individuum und Ausdruck des Göttlichen zu suchen. Weisheit, Vernunft und die "Idee des Guten" müssen nach Leibniz daher als Einheit betrachtet werden. Da die Liebe und die Weisheit Urbild von Gerechtigkeit sind, und eine Liebe zu Gott und dessen Schöpfung Gutes schafft. Denn Gott hat die Welt nicht aus Willen aus Allmacht, als "nur wollender" geschaffen, sondern er schuf die beste aller Welten, weil er gut war und gab dem Menschen die Freiheit sich für das Gute oder dagegen zu entscheiden, so lautete Leibniz' Entgegnung.

In einem Staat wird es nach Leibniz' Auffassung erst dann Gerechtigkeit geben, wenn jedes Individuum sein schöpferisches Potential entfaltet und wenn durch "bona opera", d.h. durch wirtschaftliche und wissenschaftliche Entwicklung, der Fortschritt der Menschheit befördert wird. Um dies zu tun, versuche der Mensch als Abbild der Gottheit und des Urhebers der Natur etwas von dem Universum in Proben eigener Systemkunst nachzubauen. "Denn jeder Geist ist in seinem Bereich gleichsam eine kleine Gottheit" (Monadologie).

In einem Fragment aus den "Entwürfen zu einem Buch über die Naturwissenschaft" (Wolfgang Engelhardt: "G.W. Leibniz - Schöpferische Vernunft") zeigt Leibniz, daß der eigentliche Zweck des naturwissenschaftlichen Forscherdranges die Liebe zum Schöpfer, Glückseligkeit und die Vervollkommnung des Geistes ist: "Jede Wissenschaft ist nicht eitler Neugierde wegen und nicht, um mit ihr zu prahlen, sondern zum Zwecke des Handelns zu erstreben. Wir handeln aber um Glückseligkeit (felicitas) zu gewinnen oder den Zustand des immerwährenden Frohseins (laetitia), und dies wahre Frohsein ist die Vervollkommnung unseres Bewußtseins (sensus). Ein jedes Ding hält man für um so vollkommener, je freier es seiner Natur nach ist, d.h. je größer seine Macht über die umgebenden Dinge ist, und je weniger es selbst von äußeren Dingen hinnehmen muß (patitur). Da nun des Geistes eigenste Kraft der Verstand (intellectus) ist, so folgt, daß wir um so glücklicher sein werden, je klarere Erkenntnis (comprehensiones) wir von den Dingen besitzen und je mehr wir unserer eigenen Natur gemäß, d.h. der Vernunft (ratio) nach handeln. Je richtiger wir nämlich denken, desto freier werden wir sein und desto unabhängiger von den Einwirkungen (passiones), die uns von den umgebenden Körpern aufgeprägt werden."

Für Leibniz ist die theoretische Naturwissenschaft (physica rationalis), die von den Zwecken und Ursachen der Dinge handelt, die vorzüglichste Anwendung in der Vervollkommnung der Seele und der Verehrung Gottes, denn wenn jemand ein "bewundernswertes Kunstwerk" der Natur entdeckt und die Art des Wirkens erkannt hat, so hat er etwas Großes geleistet, auch wenn man keinen Nutzen eines solchen Wissens für das gewöhnliche Leben aufzeigen kann. Wenn nämlich auch jedes echte Wissen die Macht über die äußeren Dinge vermehrt, wenn sich zufällig einmal eine Gelegenheit zum Handeln ergibt, so gibt es doch einen anderen Nutzen des Wissens, der von keinem solchen Zufall abhängt, nämlich die Vollkommenheit des Geistes. Denn wenn wir die Naturgesetze oder den Mechanismus (machinae) der göttlichen Erfindung begriffen haben, so werden wir viel weiter vorankommen, als wenn wir nur die von Menschen erdachten Konstruktionen verstehen. Denn von welch besserem Lehrmeister können wir lernen als von Gott, dem Schöpfer des Alls? Welch schöneren Hymnus können wir ihm singen als einen, in dem sein Lob durch das Zeugnis der Dinge selbst ausgedrückt wird? Ein jeder aber liebt Gott umso stärker, je besser er die Liebe zu ihm begründen kann. Und aus der Vollkommenheit eines anderen selbst Freude zu gewinnen, das ist eigentlich Lieben. Daher ist die Erkenntnis oder (was hier dasselbe ist) die Liebe zum Vollkommensten das Höchste, was unser Geist ausrichten kann; aus ihr muß die tiefste und die am längsten währende Lust, d.h. Glückseligkeit entstehen."

Die vorliegende Ibykus-Ausgabe versucht, in einigen Aspekten das Denken und Wirken dieses großen Europäers nachzuzeichnen und dabei einen Einblick in die Bemühungen Leibniz' zu geben, mit der dieser versuchte, die tragische Spaltung der protestantischen und katholischen Kirche zu überwinden.

In einem zweiten Teil setzt sich Ibykus mit dem Problem der heutigen Erziehung auseinander und in einem dritten Teil, einem Artikel über die "Erfindung der Perspektive", wird der Zusammenhang zwischen der Entdeckung neuer Naturgesetze und ästhetischer Schönheit aufgezeigt.