Aus Ibykus Nr. 63 (2/1998):

EDITORIAL


In ganz Europa wird gegenwärtig kaum ein Thema so heiß diskutiert wie die Erziehung. Deutschland nimmt bei dieser Debatte eine besondere Vorreiterrolle ein. Mit rücksichtslosen Sparmaßnahmen auf bürokratisch-administrativem Wege vollzieht Bildungsminister Rüttgers die Demontage unseres Erziehungssystems, das einst zu den besten der Welt gehörte und Generationen hervorragender Forscher und Denker hervorbrachte. Im globalen Wettbewerb und in einer von Medien und Informationstechnologien beherrschten Gesellschaft sollen sich, so die "Bildungsstürmer", die Prämissen der Erziehung grundlegend ändern: In Berlin sprach Bundespräsident Herzog am 5. November 1997 vom "Megathema Erziehung", vom "Aufbruch in der Bildungspolitik". Es gehe darum, verantwortlich mit der "Ressource Zeit" umzugehen. Man müsse das "Lernen lernen". Um einen möglichst schnellen Zugang zum Wissen und "Information" zu erhalten, sei der "Umgang mit Computern" (Teleteaching) an der Schule erforderlich.

Herzog und Rüttgers geben nur das wieder, was vor einigen Jahren eine von der Bertelsmann-Stiftung und der Deutschen Bank geförderte Denkschrift in Nordrhein-Westfalen Zukunft der Bildung - Schule der Zukunft vorstellte und in NRW und anderen Bundesländern als Pilotprojekt eingeführt wurde. Zusammen mit der Bosch-, Duisberg-, VW- und Nixdorf-Stiftung, der Deutschen Bank u.a. will die Bertelsmann-Stiftung die Erziehung an den Bedürfnissen einer auf radikale Austerität gepolten Gesellschaft "funktional" ausrichten.

Die Ideologie dahinter ist die des Club von Rom, der in den 60er Jahren unter der Federführung Alexander Kings mit den Brandtschen Erziehungsreformen den ersten Kahlschlag im Erziehungswesen einleitete. Unter dem Stichwort "globale Revolution" forderte der Club von Rom 1993 auf einer Konferenz in Hannover eine "postindustrielle" Erziehung. Den wirtschaftspolitischen Rahmen dieser postindustriellen Erziehung bilden "Ressourcenverknappung", "Globalisierung", "tragfähige Entwicklung" - sprich Nullwachstum und Bevölkerungsreduktion.

Unter Bedingungen einer immer virulenteren Weltwirtschaftskrise holen die "Bildungsstürmer" nun zum zweiten Generalangriff auf das Erziehungssystem aus. Bertelsmann und Co. folgen dabei dem Beispiel der amerikanischen Denkfabriken Heritage Foundation, Hudson Institute und Stanford University, die bereits vor zehn Jahren mit Pilotprojekten begannen und forderten, die Erziehung müsse dem Wettbewerb geöffnet und im Informationszeitalter "überflüssiger Bildungsballast" wie z.B. Physikunterricht, klassische Kunst- und Musikerziehung, alte Sprachen (Griechisch, Latein) abgeworfen werden. Im Bertelsmann-Stiftungsjargon heißt das: "Privatisierung" und "Deregulierung" des Erziehungssystems. Es ist die Rede von "Eigenverantwortung" der Schulen (Schulsponsoring) und selbsttätiger Haushaltsführung, während zugleich der feste Fächerkanon abgeschafft werden soll.

Das Ergebnis der durch drakonische Sparmaßnahmen bereits hinterlassenen "Bildungsreform" ist katastrophal:

  • Die Studie TIMSS (Third International Mathematics and Science Study) analysierte die mathematisch-naturwissenschaftliche Leistungsfähigkeit von Schülern in 41 Ländern. Dabei konnten deutsche Schüler nur mittlere Plätze belegen. Weit hinter Japan und Singapur erreichte das Land der Dichter und Denker Rang 19.

  • Hochschulen, Industrie und Handwerk beklagen den mangelhaften Ausbildungsstand der Schulabgänger, denen als Folge des sich verschlechternden Ausbildungsniveaus elementare Kenntnisse des Schreibens und Rechnens abhanden gekommen sind.

  • Die Zahl der Studienanfänger in den Ingenieurwissenschaften ist dramatisch geschrumpft, und talentierte Forscher ziehen es vor, ins Ausland zu gehen.

  • Während im 19. Jahrhundert deutsche Universitäten in natur- und geisteswissenschaftlichen Fächern für alle Welt ein Mekka war, ist heute die Zahl der ausländischen Studenten, die sich in Deutschland ausbilden lassen, immer weiter rückläufig.

  • Die Schulen sind immer mehr zu einem Auffangbecken für Erziehungsdefizite in den Familien geworden. Die steigende Zahl Alleinerziehender hat dazu geführt, daß Fernsehen und Computerspiele zum Erziehungsersatz geworden sind. Aus Langeweile und Verdruß, weder emotionell noch geistig gefordert und begeistert, sowie angesichts düsterer Zukunftsaussichten auf dem Arbeitsmarkt haben Gewaltbereitschaft und Drogenkonsum bei Jugendlichen dramatisch zugenommen.

    Bildung ist das "geistige Kapital" einer Nation. Ob Nationen eine Zukunft haben, wird maßgeblich vom Inhalt der Erziehung bestimmt. Aber mit "Information" werden wir nicht in der Lage sein, den großen Herausforderungen der Zukunft zu begegnen und "neue Horizonte des Wissens" zu erobern. Um das Potential von 5,2 Milliarden Menschen zu sichern, bedarf es riesiger Fortschritte in Technologie und Wissenschaft - Voraussetzung für den globalen Wiederaufbau der Weltwirtschaft, wozu vor allem die infrastrukturelle Erschließung und Entwicklung Eurasiens gehört. Dies ist nicht möglich ohne eine Renaissance der Erziehung.

    Eine Renaissance der Erziehung setzt voraus, daß wir uns an den bewährten Prinzipien des klassischen Humboldtschen Bildungssystems orientieren. Jeder Bürger, gleich welcher Herkunft, hat das Recht auf "Allgemeinbildung", lautete die Forderung Wilhelm von Humboldts, der in Deutschland das klassisch-humanistische Bildungssystem begründete und damit die Grundlagen für den Aufstieg Deutschlands als Industriemacht legte.

    Humboldt hatte erkannt, daß gerade durch Sprachkenntnis, insbesondere das Erlernen von alten Sprachen neben einer umfassenden Kenntnis der in der Muttersprache verfaßten klassischen Poesie und der besten Werke der Weltliteratur, die Denk- und Sprachfähigkeit gefördert wird.

    Die großen Entdecker in Deutschland im 19. Jahrhundert waren alle auf altsprachlichen humanistischen Gymnasien ausgebildet; neben einer umfassenden Kenntnis in alten Sprachen waren sie vertraut im Umgang mit der Antike, Literatur und Musik. So war es z.B. für Entdecker wie Max Planck und Einstein selbstverständlich, sich zum gemeinsamen Musizieren bei Streichquartettabenden mit klassischer Musik einzufinden.

    Wie wir an der Geschichte studieren können, war keine einzige der im Laufe der Menschheitsgeschichte gemachten Entdeckungen Ergebnis von "Information", sondern alle großen Entdeckungen waren von der Liebe zur Wahrheit geleitet, aus dem "sokratischen Dialog" geboren.

    Die folgende Ibykus-Ausgabe beschäftigt sich von verschiedenen Blickwinkeln aus mit der Frage des "sokratischen Dialogs" und der Metapher als Grundlage der Erziehung zum schöpferischen Denken.

    Mit seinen Dialogen begründete Platon die sokratische Erziehungsmethode. Die Dialoge sind "poetische Metaphern", wie eine klassische Tragödie komponiert, in deren Mittelpunkt Sokrates steht, der von den oligarchischen Feinden Platons schändlich umgebracht wurde. Sokrates setzt sich ironisch-polemisch mit den Axiomen des Denkens, dem "Zeitgeist" - repräsentiert durch die Sophisten Protagoras, Gorgias u.a. - scharf auseinander. Jeder Dialog ist immer zugleich auch eine hochpolitische Auseinandersetzung. Die Sophisten, die eng mit den oligarchischen Interessen der imperialen persischen Fraktion zusammenarbeiteten, vertraten die These, daß das Wissen auf sinnlicher Wahrnehmung beruhe und im Kern nichts anderes als "Information" sei. Demgegenüber demonstrierte Sokrates - auf dem Prinzip des "Ich weiß, daß ich nichts weiß" aufbauend - , daß Wissen nicht "Lernen" bedeutet (im Sinne des Auswendiglernens von Fakten), sondern die Essenz von Wissen "Veränderung" ist.

    Alle großen Renaissance-Perioden der europäischen Geschichte bauten auf dem sokratischen Erziehungsgrundsatz Platons auf:

    In der karolingischen Renaissance schuf der im augustinischen Geist erzogene Alcuin als Berater Karls des Großen in ganz Europa ein System von Klosterschulen und Bibliotheken und legte damals den ersten Grundstein für eine breite humanistische Erziehung und Alphabetisierung der Bevölkerung.

    Mit der Kathedralenbewegung im Europa des 11. und 12. Jahrhunderts begann dann eine neue kulturelle Renaissance. In zwei Jahrhunderten wurden allein in Frankreich 80 Kathedralen gebaut - technisch-wissenschaftliche und künstlerische Pionierleistungen. Damals war es vor allem die Schule von Chartres, welche die sokratische Erziehungsmethode zum Zentrum der Erziehung machte und zum Anziehungspunkt vieler bedeutender europäischer Gelehrter wurde, darunter der berühmte Philosoph und Theologe Abaelard. In Chartres wurden Generationen von Kathedralenbauern, Bildhauern, Kirchenmusikern, Theologen und Philosophen im Geiste Platons ausgebildet. Der erste Leiter der Schule von Chartres, Fulbert, auch "ehrwürdiger Sokrates" genannt, führte die sokratische Dialogform in den auf dem Trivium und Quadrivium aufbauenden Unterricht ein. Neben Fulbert war es dann vor allem Thierry de Chartres, der einen wichtigen Einfluß auf das Denken des Begründers der modernen Naturwissenschaften und geistigen Vaters der Renaissance im 15. Jahrhundert, Nikolaus von Kues, ausübte, der wie Erasmus von Rotterdam bei dem humanistischen Lehrorden der "Brüder des Gemeinsamen Lebens" in Deventer in der Methode des sokratischen Dialogs ausgebildet worden war.

    Die Dichtung der großen Humanisten des 15. und 16. Jahrhunderts - Rabelais, Shakespeare, Cervantes und Erasmus von Rotterdam - war eine zutiefst humanistische Dichtung, welche zur Ausbildung der nationalen Sprachen beitrug und einen wesentlichen erzieherischen Einfluß auf das Denken der Bevölkerung in den damals neu entstehenden Nationen Europas ausübte.

    Daß alle große Kunst auf dem Prinzip des sokratischen Dialogs und der Metapher beruht, zeigt der Primarius des einstigen Amadeus-Quartetts Norbert Brainin in dieser Ibykus-Ausgabe anhand des vierstimmigen Quartettsatzes Beethovens. Dasselbe sehen wir an der klassischen Tragödie, oder an der Malerei eines Leonardo da Vinci, deren Kernaussage nicht durch Symbole, sondern durch Metaphern, Ironien vermittelt wird.

    Selbstbewußtes Denken beruht auf der Liebe zur Wahrheit: Nur ein von solcher Agape erfülltes Denken, nur ein selbstloser Mensch, (wie z.B. Sokrates und Franz von Assisi), der durch Wort und Tat Beispiel gibt, ist in der Lage, die Menschen in ihrem Herzen und Geist zu ändern und sie zu bewegen, sich für die brennenden Fragen der Menschheit einzusetzen.