Aus Ibykus Nr. 84 (3/2003):

Sophismus, Sokrates und der Niedergang Athens

Von Michael Liebig

In der Ibykus-Ausgabe 83 erschien unter dem Titel Athen und die Römische Republik: Die imperiale Falle ein Artikel von Michael Liebig. Der Autor hielt im Rahmen der diesjährigen Internationalen Sommer-Akademie des Schiller-Instituts am 16. August einen Vortrag unter dem Titel Sophism, Socrates and the Decline of Athens, dessen überarbeitete Übersetzung wir im folgenden abdrucken.


Was ist Sophismus?
Das "Feindbild" der Sophisten
Die Hauptvertreter des Sophismus
Rolle des Sokrates in Athen
Platos Gorgias-Dialog

Die folgenden Ausführungen sollten in Kontext des vor mehr als 30 Jahren von Lyndon LaRouche initierten "fortlaufenden Geschichtsprojekts" gesehen werden. Dieses Projekt beruht auf der Erkenntnis, daß Isochronie ein zentrales Charakteristikum menschlichen Denkens ist. Isochronie ist der Grundzug jeder schöpferisch-geistigen Tätigkeit. Schöpferische Hypothesenbildung ist immer isochron und deshalb unvereinbar mit einer quasi Cartesianischen Denkschablone, die mit den rigiden, formalen Kategorien von Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft arbeitet. Ein isochrones Verständnis von Geschichte ist - bezüglich der Einschätzung der aktuellen Weltlage und in Hinblick auf künftige Generationen - unabdingbar für ein der Wahrheit verpflichtetes politisches Handeln. Das bedeutet aber gerade nicht, daß man sich auf mechanische "Parallelen" in Vergangenheit und Gegenwart kapriziert.

Ein zweiter wesentlicher Aspekt des von LaRouche initiierten "fortlaufenden Geschichtsprojekts" ist, daß es keine Trennung von Ideengeschichte und "allgemeiner Geschichte" geben darf. Meine Ausführungen konzentrieren sich auf die Frage nach der "Macht der Ideen", und wie diese für Entwicklung und den Fortschritt in der Geschichte bestimmend waren. Andererseits will ich die negative, destruktive Macht beleuchten, welche bestimmte "Ideologien" im Verlauf der Geschichte ausübten. Ideen machen Staaten und Nationen groß, lassen sie kulturell und materiell erblühen. Dagegen will ich zeigen, daß - umgekehrt - Ideologien Staaten und Nationen zerstören können. Eine solche Ideologie war im Griechenland des 5. Jahrhundert vor Christus der Sophismus.

Wie sich Staaten selbst zerstören können, hat LaRouche immer wieder am Beispiel des Niedergangs der römischen Republik seit dem 2. Punischen Krieg und ihrer zunehmenden Imperialisierung aufgezeigt. Max Kohnstamm, der in der Wiederaufbauphase Europas nach dem Zweiten Weltkrieg als Mitarbeiter Jean Monnets eine ganz wichtige Rolle spielte, wies meinen Kollegen Mark Burdman und mich bei einem Gespräch im Februar 2002 darauf hin, daß Athen auf singuläre Weise und in konzentrierterer Form als Rom das Problem der Selbstzerstörung eines kulturell, politisch und wirtschaftlich hochstehenden Staates beleuchte. "Studieren Sie nochmal Thukydides, vor allem sollten Sie den Melos-Dialog, den Thukydides uns in seinem Werk über den Peloponnesischen Krieg darlegt, genau durchlesen," war Kohnstamms Rat.

Die Geschichte Griechenlands und Athens zeigt, daß es Ideen waren, welche die Grundlage für beispielslosen Fortschritt im Bereich der Kultur, der Staatskunst und der Wirtschaft schufen. Doch das einst blühende Athen erlebte einen rapiden Niedergang - wesentlich, wie ich zeigen möchte, als Folge der immer weiter um sich greifenden Ideologie des Sophismus. Sowohl der Aufstieg wie der Niedergang Athens sind einzigartig. Spektakuläre Errungenschaften und schlimmste Desaster folgten dicht aufeinander. Auch wenn in der frühen Geschichte die Menschheit sehr stark von der indisch-vedischen Kultur geprägt wurde, die lange vor der griechischen Kultur existierte, so muß ich sagen, daß es in der Weltgeschichte keine Phase gegeben hat, welche vergleichbare Errungenschaften hervorgebracht hat wie dies in Griechenland der Fall war - in jenem etwa 200 Jahren zwischen dem Wirken Solons und Platos.

Ein Blick auf die folgende Zeittafel mag das verdeutlichen:


624-56 Solon von Athen
624-546 Thales von Milet
611-546 Anaximander von Milet
535-470 Heraklit von Ephesus
580-500 Pythagoras von Samos
490 Schlacht von Marathon
480 Salamis
479 Plataiai
477 Attischer Seebund
461 Bruch Sparta/Athen
500-429 Perikles
450 Beginn der demokratischen Herrschaft des Perikles
431 Peloponnesischer Krieg
415 Sizilianische Expedition
404 Niederlage Athens, Ende des Peleponnesischen Krieges
399 Justizmord an Sokrates
480-410 Protagoras
490-416 Gorgias
Kallikles            Vier Hauptvertreter des Sophismus
Trasymachos
429-399 Sokrates
427-347 Plato
387 Gründung der Platonischen Akademie

Den besten Zugang zu der Geschichte Griechenlands erhalten wir über Platons Dialoge. Sie enthalten exzellentes historisches Material und liefern wesentliche Einsichten, insbesondere wenn man sie zusammen mit den Werken des griechischen Historikers und Sokrates-Schüler Xenophon betrachtet. Daneben gibt es das überragende Werk des Historikers Ernst Curtius - der in der Zeit von 1857 bis 1868 seine dreibändige Griechische Geschichte veröffentlichte. Es handelt sich um ein klassisches historiographisches Werk mit einer Fülle an Wissen und Einsichten über die antike griechische Geschichte, die wohl unübertroffen bleibt.

Was war die Ursache für den rapide sich vollziehenden Niedergang Athens? Die vorherrschende und keineswegs falsche These ist, daß der Niedergang Athens als Folge der Marginalisierung der produktiven Volksschichten der Landwirte und Handwerker zu sehen ist. Stattdessen dominierten oligarchische Familien, die den Seehandel, das Bankenwesen sowie große Manufakturen und Latifundien auf Sklavenbasis kontrollierten. Diese Oligarchie dominierte nicht nur die Wirtschaft, sondern die Politik Athens. Die von Solon geschaffene republikanisch-demokratische Bürgerverfassung wurde zunehmend unterhöhlt.

Die Transformation des Attischen Seebundes, in dem Athen die Rolle des "primus inter pares" unter den griechischen Stadtstaaten spielte, in ein Athenisches Imperium, führte dazu, dass dieses zusehends von "Subsidien" abhängig wurde, die von den zu Vasallen degradierten einstigen Allierten erpreßt wurden. Die einst produktive und politisch unabhängige Mittelklasse der athenischen Bürgerschaft wurde nun mittels der nach Athen hineinfließenden Tribute der Vassallen zunehmend materiell und politisch korrumpiert. Als Folge der Aufrüstung und Expansion des Athener Imperiums wurden die Athenischen Bürger-Soldaten und -Seeleute mehr und mehr durch Söldner ersetzt. Es kam also zu der schleichenden realwirtschaftlichen und politischen Erosion noch eine schleichende militärische Schwächung hinzu, die Athen schließlich mit dem Problem der "imperialen Überdehnung" konfrontierte. Der Peloponnesische Krieg entpuppte sich dann nicht als der ersehnte Befreiungsschlag, sondern als eine "Flucht nach vorn", die schließlich in der endgültigen Niederlage Athens endete. So richtig diese historische Einschätzung ist, so läßt sie dennoch einen wesentlichen Aspekt aus.

Ich möchte daher an dieser Stelle ein Zitat von Ernst Curtius anführen. "Athen ist nicht von seinen äußeren Feinden besiegt worden. Athen ist durch sich selbst gefallen", schrieb Curtius 1865 im zweiten Band seiner Griechischen Geschichte. "Von den Flecken verräterischer Gesinnung ist die attische Geschichte auch während der Zeit der Perserkriege nicht frei... Aber staatsgefährlich wurden diese Umtriebe erst, als die Lehren der Sophistik in Athen eindrangen. Denn die sophistische Richtung ist es, welche vorzugsweise dazu beigetragen hat, die Kräfte der Zerstörung aufzuregen. Sie hat die Bande aufgelöst, welche die Herzen der Bürger zu einem Gesamtwillen vereinigt hielt... Eine Fülle der edelsten Gaben war vorhanden, aber die guten Gaben schlugen ins Gegenteil um. Die besten Köpfe wurden die schlimmsten Feinde des Staates, die [sophistische] Bildung wurde zu einem Gifte, welche das Mark des Staates aufzehrte." Platon hatte zu seiner Zeit eine ganz ähnlich lautende Einschätzung über den Niedergang Athens gemacht.

Was ist Sophismus?

Auch wer sich nicht so genau in griechischer Geschichte auskennt, kennt dennoch den Begriff "Sophist" - was man spontan damit assoziiert, trifft durchaus zu: Ein Mensch, dessen Eigenschaft es ist, schlau, aber gleichzeitg verschlagen und unehrlich zu sein. Im 5. Jahrhundert vor Christus kam in Griechenland, inbesondere in Athen, der Sophismus als "Life Style"-Ideologie für die wirtschaftlich und politisch "Erfolgreichen" in Mode. Bei der Sophistisk spielte die Rhetorik eine überagende Rolle, ging es doch um die elegante Form, die geschickte Verpackung und advokatenhaftes "Übereden" - und nicht um den geistigen Inhalt. Die Sophisten offerierten rhetorische Fähigkeiten, damit ihre Kundschaft davon kommerzielle, juristische oder politische Vorteile erlangen oder ihren sozialen Status erhöhen könne.

Die Lehrer des Sophismus darf man sich nicht als Philosophen und Erzieher vorstellen, die, wenn schon nicht an der Wahrheit, so doch wenigstens an der Sache - Philosophie, Wissenschaft und Ethik - interessiert waren. Es waren Geschäftsleute des "Kultur-Business", die ihr "Wissen" und ihre rhetorischen Fähigkeiten für Geld verkauften und ihre Anstrengung darauf richteten, möglichst viel Zulauf von der aus wohlhabenden und politisch einflußreichen Familien stammenden Jugend zu finden.

In Platons Protagoras-Dialog gibt Protagoras gegenüber Sokrates eine geradezu programmatische Erklärung ab: "Ich gebe ganz offen zu, daß ich ein Sophist bin und die Menschen erziehe....Die anderen [nicht-sophistischen] Lehrer nämlich quälen die Jugend; denn sie stürzen die jungen Leute, die eben der Erlernung der Wissenschaft entronnen sind, gegen ihren Willen wieder in das Studium der Wissenschaften hinein, idem sie sie Mathematik, Astronomie, Geometrie und Musik lehren...Wer aber zu mir kommt, der wird nichts anderes lernen als dasjenige, weswegen er zu mir gekommen ist. Man lernt bei mir Wohlüberlegtheit in häuslichen Angelegenheiten, wie man am besten sein eigenes Hauswesen verwaltet, und, was die Angelegenheiten des Staates betrifft, wird man bei mir so ausgebildet, daß man möglichst befähigt wird, an der Regierung des Staates in Wort und Tat mitzuwirken." Darauf entgegnet Sokrates: "Du [Protagoras] meinst offenbar die Kunst der Politik." Die Hinweis von Sokrates auf die politischen Absichten der Sophisten ist, wie wir gleich genauer sehen werden, ist von größter Bedeutung.

Die Sophisten wollten politischen Einfluß gewinnen und dabei selbst reich werden. In Platons Menon-Dialog heißt es: "Ich weiß wohl, daß sich auf Grund dieser [sophistischen] 'Weisheit' der eine Mann Protagoras mehr Geld erworben hat als [der überagende Bildhauer] Phidias, der so anerkannt schöne Werke geschaffen - und zehn ander Bildhauer noch dazu."

Fast keine der ursprünglichen Texte der Sophisten sind erhalten geblieben. Das meiste, was wir über den Sophismus wissen, erfahren wir durch Platon und etwas auch von Aristoteles. Die meisten der hier Anwesenden kennen Platons Sokratische Dialoge. Bei vielen Dialogen spielt der Angriff auf den Sophismus eine zentrale Rolle - hier seien Sophistes, Protagoras oder Gorgias genannt, von denen wir letzteren etwas genauer anschauen wollen. Will man den griechischen Sophismus grob skizzieren, so könnte man folgende Hauptmerkmale nennen:

Das "Feindbild" der Sophisten

Diese eben skizzierten Kernthesen des Sophismus negieren radikal die entscheidenden geistigen und politischen Errungenschaften, die im Griechenland des 6. Jahrhunderts vor Christus erreicht worden waren. In diesem Zeitraum schufen Solon von Athen, Thales und Anaximander von Milet, Heraklit von Ephesus und Pythagoras von Samos die geistigen Grundlagen für das einzigartige Aufblühen der Kultur Griechenlands.

Vereinfachend könnte man sagen: Diese Philosophen entkoppelten die Auffassung der Natur von Mythen einerseits und von rein sensualistischer Feststellung "der Dinge" anderseits. Sie suchten "hinter" den Naturscheinungen die Prinzipien, die den stetigen Stoffwechsel in der Natur - hin zu höheren Qualitäten --bewirken. Sie entwickelten den Begriff qualitativen Werdens, der Veränderung zu höheren Ordnungen statt einem plattem Begriff des "Seins". Sie erkannten, daß das Weltall unendlich ist, aber zugleich harmonischen Gesetzmäßigkeiten folgt.

Kurz gesagt: Die frühen griechischen Naturphilosophen erkannten, daß es "hinter" dem sinnlich Wahrgenommenem eine höhere Ordnung und Gesetzmäßigkeit gibt. Daß das menschliche Denkvermögen die einzigartige Qualität besitzt, die "Wahrheit" zu erkennen, indem durch Hypothesenbildung die Naturgesetze immer besser erkannt und experimentell bewiesen werden können.

Für uns hier entscheidend ist, daß diese frühen griechischen Philosophen erkannten, daß die einheitliche, un-willkürliche und harmonisch-gesetzmäßige Natur ausschließt, daß die Gestaltung und Ordnung des menschlichen Lebens dem völlig widersprechenden Prinzipien folgen könnte. Aus den Naturgesetzen im gerade skizzierten Sinne folgt zwingend ein dazu kohärentes Naturrecht für das Zusammenleben der Menschen. Dies ist eine erkennbare und verifizierbare Wahrheit, denn die Verletzung des Naturrechts hat zwangsläufig zerstörerische und selbstzerstörerische Konsequenzen für menschliche Gemeinschaften. Hier liegt der innere Zusammenhang zwischen der Staatskonzeption von Solon von Athen und der Naturphilosophie von Thales, Anaximander, Anaximenes, Heraklit oder den Pythagoraern.

Die Hauptvertreter des Sophismus

Der geistig "anspruchsvollste" unter den Sophisten ist Protagoras aus Abdera in Sizilien, der später in Athen wirkte. Für Protagoras gibt es nichts Allgemeingültiges zu erkennen, denn der Mensch nimmt die Dinge nur wahr, wie sie ihm - und nur ihm - im Moment der Wahrnehmung erscheinen. Alle Wahrnehmung ist subjektiv und diese Subjektivität wird stets primär von von sinnlichen Begierden, Gefühlen oder Nützlichkeitserwägungen bestimmt. Daraus hat Protagoras den höchst mißverständlichen Satz abgeleitet, daß das Maß aller Dinge der Mensch sei. Von Protagoras stammt auch der Satz, daß alle Dinge "ihre zwei Seiten" hätten, was weniger etwas mit Dialektik als mit erkenntnistheoretischem Relativismus zu tun hat.

Der Sophist Gorgias stammt aus Leontini auf Sizilien. Er war der Gesandte dieser Stadt in Athen, wo er während des Peloponnesischen Krieges eine verhängnisvolle Rolle dabei spielte, Athen zu dem katastrophalen Feldzug gegen das sizilianische Syrakus aufzustacheln. Gorgias geht weiter als Protagoras, indem er erklärt, weder könne man über die Wahrnehmung hinaus etwas erkennen, noch sei es möglich, eine sinnvolle Mitteilung an andere über das Wahrgenommene zu machen, weshalb Sein, Erkenntnis und Mitteilung von Erkenntnis gleichmaßen unmöglich und folglich irrelevant sei. "Es ist daher, wenn es etwas gibt, dies doch nicht erkennbar, und wenn es auch erkennbar wäre, so kann es doch keiner dem anderen mitteilen, erstens weil die Dinge nicht Worte sind, und zweitens, weil niemand daselbe wie der andere unter ein und demselben Wort versteht." Es geht hier schlicht um Verachtung der Wissenschaft und philosophischen Nihilismus.

Der Sophist Hippias von Elis (auf dem Peloponnes) ist vor allem als "Enzyklopädist" hervorgetreten, wobei er alle bedeutenden philosophischen, religiösen und politischen Aussagen, sowie die in der Geschichte aufgetretenen Institutionen auf "Konventionen" zurückführt, die unter bestimmten Umständen aus pragmatischen Gründen mehr oder weniger vertragsmäßig vereinbart worden seien.

Die Sophisten Kallikles, Thrasymachos unf Kritias treten dann offen für eine "Herrenmenschen"-Ideologie ein, die den erfolgreichen Verbrecher oder Tyrannen als denjenigen bezeichnen, der ein wahrhaft glückliches Leben führt, während die moralischen und gesetzestreuen Menschen ein Leben des Leidens und der Nachteile erwarte. Varianten dieser Spielart des Sophismus sind die "kynische" - zynische - Schule und die "hedonische" Schule, die die Maximierung der Sinneslust zum Lebenssinn erklärt. Die Herrenmenschen-Ideologie des Thrasymachos wird von Plato in der Politea ausführlich dergestellt, wo er diesen seine berühmt-berüchtigte Lobrede auf die Tyrannis halten läßt. In Platons Gorgias-Dialog wird der Sophist Kallikles zitiert: "Von Natur aus ist allemal das Schwächere auch das Schlechtere... Doch die, die Gesetze verabschieden, das sind ja die Schwachen und die große Masse....Darum versuchen sie die Stärkeren, die Kraft in sich fühlen, mehr zu haben als die anderen, einzuschüchtern, damit sie nicht mehr begehren. Zu dem Zweck behaupten sie, daß 'mehr haben wollen' schändlich und ungerecht sei...Doch die Natur selber offenbart ja, daß es gerecht ist, daß der tüchtige Mann mehr hat als weniger tüchtige und der stärkere mehr als der schwächere. Daß das wirklich so ist, offenbart sich in vielen Beispielen, sowohl im Bereich der anderen Lebewesen wie bei den Menschen, in ganzen Staaten und Geschlechtern, daß in diesem Sinne entschieden ist, was gerecht ist, daß nämlich der Stärkere über den Schwächeren herrscht."

Heute zeigt sich der Sophismus im Gewand des philosophischen Empirismus, Reduktionismus, Skeptizismus und Relativismus. So wie auch Nietzsches "Übermensch" die "Neu-Erfindung" einer Kernthese des Sophismus ist. Und das gilt auch für das meiste der Lehren von Hobbes, Locke oder Kant. Ein typischer Vertreter des Sophismus moderner Prägung ist Leo Strauss. Mit seinen Vorlesungen über politische Philosophie, die dieser zu Beginn der 50er Jahre an der Universität von Chicago begann, prägte Strauss mehrere Generationen einflußreicher Politiker in den Vereinigten Staaten. Darunter sind "Straussianer" wie Paul Wolfowitz, Richard Perle oder Samuel Huntington, die gegenwärtig den imperialen Kurs der Bush-Admnistration prägen. Die "intellektuelle Aura" von Leo Strauss beruhte auf der Behauptung, ein "Platoniker" zu sein, dessen Hauptaugenmerk der politischen Philosophie des antiken Griechenlands gilt, während er die politische Philosphie der Neuzeit als minderwertig darstellt. Bei näherer Betrachtung seiner Werke, die Strauss bewußt in einer "esoterisch/exoterischen" Schreibweise verfaßte, entpuppt sich Leo Strauss jedoch als jemand, dessen politische Philosophie völlig auf dem geistigen Boden des griechischen Sophismus steht.

Rolle des Sokrates in Athen

Sokrates erkannte die Gefahr, die der Sophismus repräsentierte. Sein fast 40-jähriges philosophisches Wirken in den Straßen und auf den Märkten Athens konzentrierte sich auf den Kampf gegen den Sophismus-- wobei er besonders Jugendliche dem Einfluß der Sophistik zu entziehen suchte. Es ist auch kein Zufall, daß Sokrates kategorisch jede Bezahlung für seine Lehrtätigkeit ablehnte, obgleich viele in seiner wachsenden Schülerschaft aus führenden und wohlhabenden Familien stammten.

Über die Lage, die Sokrates in Athen während der zweiten Hälfte des 5. Jahrhunderts vorfand, schreibt Ernst Curtius: "So wurde in kurzer Zeit aus der Bürgerschaft Athens eine haltlose Menge, die sich von unklaren Stimmungen beherrschen ließ, eine Menge, die zwischen Überhebung und Mutlosigkeit, zwischen Unglauben und abergläubischer Aufregung hin- und herschwankte. Die altbürgerliche Gesinnung, welche der sophistischen Aufklärung einen kräftigen Widerstand geleistet hatte, war machtlos geworden, und deshalb verbreitete sich unaufhaltsam der Abfall von der väterlichen Religion, die Zweifel und Spottlust und die Verachtung der Götter. Andererseits suchte man in dem Gefühl geistiger Leere doch wieder nach religiösem Troste und ließ sich dann an den öffentlichen Einrichtungen des Gottesdienstes nicht genügen, sondern nahm seine Zuflucht zu absonderlichen Heilsgebräuchen, die aus vergessenen Überlieferungen hervorgesucht oder aus der Fremde eingeführt wurden, und vereinigte sich zu Privatmysterien, in denen neue Suchtmittel und Zeremonie zur Beruhigung der Gemüter angewendet wurden. So erlangten phantastische Schwärmer, Wahrsager und herumziehende Orakelkrämer den größten Einfluß."

Nach dem Tode des Perikles 429 v. Chr., der Pest (430-428) und dem sich dahinschleppenden Peloponnesischen Krieg, degenerierte unter Perikles' Nachfolgern die athenische Demokratie immer stärker. Politische Massenhysterie und Sykophantentum breiteten sich immer mehr aus. Vor und während der katastrophalen Sizilianischen Expedition (415-124) verschärfte sich die innenpolitische Krise in Athen und erreichte in der Endphase des Peloponnesischen Krieges eine solche Intensität, daß es zu zwei Staatsstreichen (411 und 404-403) mit dem Ziel der Abschaffung der demokratisch-republikanischen Verfassung und eines Unterwerfungsfriedens unter Sparta kam.

Die Vorgeschichte dieser Staatsstreiche - und die Rolle des Sophismus dabei-- beschreibt dann Ernst Curtius im zweiten Band seiner Griechischen Geschichte wie folgt: "Es entstanden 'heimliche Verbindungen' (Hetärien), welche anscheinend nur zum Zweck einer fröhlichen Geselligkeit bestanden, aber unter der Hand immer entschiedener einen politischen Charakter annahmen... So waren diese Clubs in allen Beziehungen verschieden von den politischen Verbindungen der früheren Zeit. Es war ursprünglich eine Art Notwehr gegen die [ultrademokratischen] Sykophanten; nach und nach gingen die Absichten und Pläne dieser Verbindungen immer weiter. Ihre Mitglieder waren meist Angehörige alter Familien mit angeborenen oligarchischen Tendenzen, leidenschaftliche und aufgeregte junge Leute von lockerem Lebenswandel, die für ihren Ehrgeiz in dem damaligen Athen keinen Platz fanden, sophistisch gebildet, von unklaren Staatstheoiren erfüllt, welche das einfache Rechtsbewußtsein und Pflichtgefühl in ihnen verdunkelten; darum dünkelhaft und gewissenlos, ohne Achtung vor dem Gesetz und Herkommen, voll Verachtung für die Masse und ihr [demokratisches] Regiment. Je mehr nun nach außen die Politik eine demokratische wurde, umso mehr wurden die aristokratischen Clubs zu staatsfeindlichen Verschwörungen, welche mehr Sympathie für Sparta als für die Vaterstadt hatten...Sie scheuten nicht, unter Umständen die Maske eifriger Verfassungsfreunde vorzunehmnen und sich zeitweise mit den Ultrademokraten zu verbinden, um in dieser Verkleidung umso erfolgreicher wirken zu können.... Es liegt in der Natur der Sache, daß solche geheimen Gesellschaften nicht eher deutlich zu erkennen sind, als bis sie dazu gelangen, einen bestimmenden Einfluß auf das Staatsleben zu gewinnen... Zu diesem Zwecke verbanden sich Oligarchen und Demagogen, religiöse Fanatiker und Freigeister...Die Verschworenen gingen dabei Schritt für Schritt weiter, um in der Stille den entscheidenden Staatsstreich vorzubereiten; sie gingen von erlaubten Mitteln zu unerlaubten, von Überredung zu Gewalt über: denn das gehörte mit zu ihren sophistischen Grundsätzen, daß man einem 'guten Zweck' zuliebe nicht allzu gewissenhaft sein müsse."

Zwischen Ultrademokraten und den versteckten und schließlich offenen Befürwortern oligarchischer Gewaltherrschaft wurde, so schreibt Curtius, zunehmend Athens republikanisch-demokratische Substanz in der Tradition Solons aufgebraucht. Über den Zustand der Mehrheit der Bürger Athens schreibt er: "Indem man durch äußerliche Gebräuche und Zaubermittel das Gewissen zu beruhigen suchte, legte man auf die innere Reinigung keinen Wert, man folgte ohne Scheu den Eingebungen des Eigennutzes und verlor allmählich auch das Gefühl dafür, daß ein Staat nur durch die Gerechtigekit seiner Bürger bestehen könne...Bei dieser Entfesselung der Selbstsucht konnte auf die Dauer keine, am wenigsten eine republikanische Staatsordnung bestehen..."

In diese geistige und politische Malaise Athens intervenierte nun Sokrates, was Ernst Curtius wie folgt beschreibt: "Indem nun Sokrates die völlige Leere der Sophistik an sittlichem Gehalt erkannte, indem er diejenigen Fragen, die von den Naturphilosophen nicht berücksichtigt und von den Sophisten scheu umgangen oder nur spielend berührt worden waren, zu den Hauptfragen machte, um welche sich sein ganzes Nachdenken bewegte, und ihre Beantwortung zur der eigentlichen Aufgabe der Philosophie machte: so gab er derselben eine wesentlich neue Richtung....Darum stellte Sokrates der eitlen Vielwisserei der Sophisten so nachdrücklich sein 'Nichtwissen' gegenüber, indem er keinerlei Kenntnisse anerkannte, welche nur von außen erworben waren... Diese klare und entschlossene Abweisung jedes Scheinwissens war die erste Tat seiner Philosophie." Diese Einschätzung der Rolle des Sokrates von Ernst Curtius wird nachdrücklich in Platons Gorgias-Dialog bestätigt.

Platos Gorgias-Dialog

Die Personae Dramatis im Gorgias sind Gorgias selbst. Platon führt uns den Gorgias als einen schlauen, eher pragmatischen Vertreter des Sophismus vor. Der zweite Charakter im Dialog ist Polos, ein kleinlich-aufgeblasener "Besserwisser"-Sophist. Der dritte Charakter ist Kallikles - der brutale Vertreter der "Nietzsche-Schule" des Sophismus - der wahrscheinlich wichtigsten Variante des Sophismus. Und da ist natürlich Sokrates.

Die folgenden Dialoge sind keine Orginalzitate, sondern ein Versuch, mit eigenen Worten die wichtigsten Dialoginhalte möglichst lebendig zusammenzufassen.

Der Gorgias-Dialog beginnt mit Sokrates' Frage an Gorgias: "Wer seid Ihr? Was macht Ihr?" Der schleimige Polos greift in das Gespräch ein, indem er die intellektuelle Größe des Gorgias anpreist. Sokrates antwortet: "Höre, wir wollen wissen, was Gorgias tut. Er selbst sollte uns sagen, was er tut." So antwortet also Gorgias: "Ich bin ein Sophist; ich beschäftige mich vornehmlich mit der Rhethorik, der Kunst der Rede - unabhängig von dem Inhalt dessen, was gesagt wird. Ich lehre die Kunst der Überredung, besonders im Bereich von Politik und Recht. Und ich kann sagen, daß ich über rhetorische Fähigkeiten verfüge, die mich über alle diejenigen stellt, die wirkliches Wissen besitzen."

Darauf Sokrates: "Du gibst also zu, Gorgias, daß du auf der Basis von Meinungen und Annahmen - nicht von Wissen und wissenschaftlicher Kompetenz operierst. Und damit die Rhetorik erfolgreich ist, brauchst du Menschen, die dir zuhören, die Menge. Der Sophist ohne Wissen, wirkt auf die ignorante Menge stärker als der, der tatsächlich wissend ist, er wirkt überzeugender auf die Menge, als der, der über wirkliches Wissen verfügt." Nun meldet sich Polos zu Wort: "Ich wette drum. Die Worte eines erstklassigen Sophisten sind so machtvoll, daß er Leute ins Gefängnis bringen kann; er kann diese ins Exil treiben oder sie töten lassen."

Sokrates fragt nun: "Gorgias, wie hälst Du es mit der Gerechtigkeit bei deinen rhetorischen Auftritten?" Und Gorgias antwortet: "Oh ja. Ich fühle mich der Gerechtigkeit verpflichtet. Aber ich kann nicht ausschließen, dass es solche gibt, die ihre sophistische Rhetorik für ungerechte Zwecke einsetzen." Hier hakt Sokrates nach: "Erkläre das bitte genauer?" Und Gorgias fährt fort: "Ein weiser Mensch kann durchaus die weise Entscheidung treffen, etwas Böses zu tun, wenn die Umstände dies erforderlich machen." Darauf Sokrates: "Nun Gorgias, jetzt hast du es selbst gesagt, du setzt dich nicht konsequent für die Gerechtigkeit ein". Es ist faszinierend, daß von nun an Gorgias kaum mehr etwas sagt.

Sokrates geht jetzt in die Offensive: "Nun, da du es offen zugegeben hast, sage ich Dir, worin der eigentliche Trick der sophistischen Rhetorik besteht: Man versucht, die Leute zu beeindrucken, indem man ihnen schmeichelt, sich bei ihnen einschmeichelt. Die Schmeichelei wirkt besser als Einschüchterung. Einschmeicheln, Schönreden darum geht es Dir, nicht um Wahrheit und Kompetenz. Ich will das Gefühl, das du in der Menge erzeugst, mit einer Analogie beschreiben: Es ist dasselbe Gefühl, wie wenn man sich kratzen muß. Das Kratzen gibt eine gewisse, momentane Erleichterung, aber dennoch fühlt man sich danach nicht wohler. Dann fährt Sokrates fort: "Höre, Gorgias, bist du nicht auf der dunklen Seite der Politik tätig? Wenn du krank bist, wenn dein Körper krank ist, verlangst du nach Medizin. Du versuchst, ein gesundes Leben zu führen, Sport zu treiben. Wenn du dich an die Sophrosyne [Mäßigung] hälst, also versuchst, Exzesse zu vermeiden, dann wirst du wieder gesund werden und gesund bleiben. Was den Sophismus anbetrifft so würde ich in Analogie sagen, es ist keine Medizin, kein Sport, keine Sophrosyne. Sophismus ist wie Kosmetik, welche eine falschen, oberflächlichen Eindruck erzeugen will." Danach verstummt Gorgias.

An seiner Stelle ergreift jetzt Kallikles, der "Athenische Nietzsche" das Wort: "Ich denke daß ich hier etwas sagen muß. Was redest du eigentlich hier Sokrates. Machst du Witze? Der Fall liegt doch ganz simpel. Es gibt Herren und Sklaven. Es gibt Starke und Schwache. Die Starken haben Willenskraft und folgen ihrem Instinkt und sie sind es, welche über Reichtum verfügen und hohen Sozialstatus besitzen. Das Gute bei den Sophisten ist, daß sie dies genau erkannt haben. Du Sokrates, du nimmst die Realität - Herr und Sklave, Stark und Schwach, Lust und Impotenz - überhaupt nicht wahr. All der Unsinn, den du uns hier erzählst - über Tugend, das Gute und Gerechtigkeit - das sind von Schwächlingen für Schwächlinge geschaffene Konventionen. Die Starken brauchen so etwas nicht. Ich rate Dir Sokrates, höre auf mit dem Versuch, die Jugend zu verführen. Ein bißchen Philosophie für die jungen Leute mag ja richtig sein. Aber ab einem bestimmten Alter, wenn die Jugendlichen zu reifen beginnen, dann sollten sie sich nicht mehr um Philosophie kümmern, denn es macht den jungen Menschen schwach und dämpft Aggressivität, Willensstärke und Instinkte. Und das ist eben nicht gut."

Sokrates antwortet daraufhin: "Vielen Dank, Kallikles. Ich muß sagen, du bist sehr offen. Andere sind es nicht so. Aber ich möchte hier nochmals betonen, was ich zuvor sagte. Wer Böses tut und die Ungrechtigkeit befürwortet, ist dumm. Wer so redet, handelt selbstdestruktiv. Für eine gewisse Zeit mag ungerechtes Handeln als "vorteilhaft" erscheinen, aber niemals auf Dauer. Du preist das exzessive Leben und sagst, der Stärkere muß herrschen, um das Leben zu richtig genießen. Ich frage mich, was bei dieser Lebensführung aus dir wird, wenn du älter wirst; wenn deine körperlichen Kräfte abnehmen. Du wirst krank und schwach sein, Kallikles. Aber das ist nicht, worum es mir wirklich geht. Mein Sorge richtet sich auf deinen Geist und deine Seele. Du wirst nämlich krank werden im Geist und deine Seele wird noch kränker werden. Deine Seele wird der Fäulnis anheimfallen."

Ist es nicht faszinierend, diesen Ausdruck der "fauligen Seele" von Platons Sokrates dem Konzept Friedrich Schillers von der "schönen Seele" gegenüberzustellen. Kaum erstaunlich ist, daß Kallikles nun gegenüber Sokrates versteckte Drohungen auszusprechen beginnt. Und darauf kommt Sokrates direkt auf die athenische Politik zu sprechen.

[Die folgenden Zitate sind Orginalzitate aus Platons Gorgias, übersetzt von Julius Deuschle, Heidelberg, 1982]

Sokrates fragt nun Kallikles: "Wie steht es nun mit der Rhetorik, die vor dem Volk der Athener und in den anderen Staaten freier Männer geübt wird? Richten sich die [politischen] Redner immer nach dem Besten in ihrem Vortrag und streben nur danach, daß die Bürger so gut wie möglich werden durch ihre Reden, oder gehen diese nur auf die Erregung des Wohlgefallens bei ihren Mitbürgern aus, vernachlässsigen um des eigenen Vorteils das Interessse des Staates, gehen mit dem Volk um wie mit Kindern und suchen nur ihr Gefallen zu erregen, ohne sich darum zu kümmern, ob sie dadurch besser und schlechter werden?"

Kallikles muß zugeben, daß es unter den zeitgenössischen Politikern Athens niemanden gibt, durch dessen Politik das siitliche Niveau der Athener gehoben worden wäre. Daraufhin fragt Sokrates: "Weißt du einen von den Alten [Staatsführern] zu nennen, durch dessen Verdienst die Athenr besser geworden sind, seit er anfing öffentlich zu reden, während sie vorher schlechter waren? Denn ich weiß nicht, wer das sein sollte." Daraufhin Kallikles: "Wie. Hast du nicht gehört, daß Themistokles ein edler Mann war und Kimon, Miltiades und unser Perikles, der erst kürzlich gestorben ist, den auch du noch gehört hast?"

Kallikles nennt die athenischen Führer, die im Athen des 5.Jahrhunderts und auch heute noch als die herausragenden Staatsmänner, als diejenigen, die Athen groß gemacht haben, angesehen werden: Miltiades, der Sieger von Marathon; Themistokles, der Sieger von Salamis; Kimon, der den Attischen Seebund ausbaute und unter Athens Hegemomie stellte, und Perikles, der "liberale Imperialist", der Athen auf den Höhepunkt seiner Machtentfaltung führte, aber zugleich den Peloponnesischen Krieg vom Zaun brach.

Über diese vier, namentlich erwähnten Führungspersönlichkeiten Athens sagt Sokrates zu Kallikles: "Sie scheinen mir besssere [Staats-]Diener gewesen zu sein als die jetzigen, und besser befähigt, für die Neigungen und Bedürfnisse der Bürgerschaft Mittel herbeizuschaffen. Indes in Bezug auf die Pflicht, die Begierden [des Volkes] umzuwandeln und ihnen nicht nachzugeben, sondern durch Überedung und Zwang ihnen die Richtung zu geben, daß die Bürger dadurch sittlich besser werden müßten,- darin leisteten jene eigentlich nicht mehr als die heutigen. Und doch ist dies allein die Aufgabe eines rechtschaffenen Bürgers und Staatsmannes. Dagegen gebe ich zu, daß jene in der Beschaffung von Schiffen, Mauern, Schiffswerften und vielen anderen Dinger dieser Art mehr zu leisten verstanden als diese. [....]

Soviel ich wenigstens glaube, hast du [Kallikles] oft zugestanden und anerkannt, daß es eine zweifache Beschäftigung gibt in Bezug auf den Leib wie die Seele, und daß die eine Art ist, durch welche man in den Stand gesetzt wird, wenn unser Leib hungert, Speisen, wenn ihn dürstet, Getränke, wenn ihn friert, Kleider, Decken, Schuhe, kurz die Bedürfnisse herbeizuschaffen, welche für den Leib hervortreten. Absichtlich sage ich dir es in denselben Bildern, damit du mich besser verstehst. Wenn nämlich jemand sich darauf versteht, sie herbeizuschaffen, sei es als Krämer, oder Kaufmann oder Handwerker, sei er Bäcker, Koch, Weber, Schuhmacher oder Gerber, so ist es nicht befremdlich, wenn so ein Mann bei sich selbst und den übrigen als ein Pfleger des Leibes gilt, bei jedem nämlich, der nicht weiß, daß es außer all diesen Professionen noch eine Kunst der Gymnastik und Heilkunde gibt, welche in Wahrheit die Leibespflege erhält, die auch über all diese [kaufmännischen und handwerklichen] Künste die Herrschaft führen und den Gebrauch ihrer Erzeugnisse regeln muß, weil sie weiß, was von den Speisen und Getränken für die vollkommene Ausbildung des Leibes gut und was schlecht ist, während es die genannten Künste nicht wissen. Deshalb seien denn auch diese [kaufmännischen und handwerklichen] Tätigkeiten der Beschäftigung mit dem Leibe niedrige, dienende und unedle; die Gymnastik und die Heilkunst dagegen seien dem Rechte nach Herrscherinnen über sie. Wenn ich nun sage, ganz dasselbe gelte auch für die Seele, so verstehst du, scheint es, manchmal meine Auffassung und stimmst ihr zu, scheinbar als hättest du ihren Sinn erkannt; bald darauf aber kommst du und sagst, es hätten tüchtige und brave Männer an der Spitze unseres Staates gestanden, und wenn ich frage welche, so führst du mir, meine ich, Männer [Miltiades, Themistokles, Kimon, Perikles] vor, mit denen es in bezug auf die Staatsverwaltung ganz ähnlich steht, wie wenn ich fragte, welche Männer in Bezug auf die Gymnastik tüchtig oder richtige Pfleger des Leibes seien, und du antwortest mir ganz im Ernste, daß der Bäcker Thearion und Mithaikos, der die sizilianische Kochkunst geschrieben hat, und der Schenkwirt Sarambos ausgezeichnete Pfleger des Leibes seien, weil der eine vorteffliche Brote bereite, der zweite Speisen und der dritte Wein.

Vielleicht würdest du empfindlich [reagieren], wenn ich dir sagte: Lieber Freund, du verstehst nichts von der Gymnastik. Du nennst mir nur [Staats-]Diener und Menschen, die für die Befriedigung von Begierden sorgen, die wohl, wie sich's trifft, die Leiber der Menschen anfüllen und dick machen und von ihnen dafür gelobt werden, aber am Ende auch ihr ursprüngliches Fleisch noch verderben werden. Diese werden jedoch aus Unkenntnis nicht ihre Speisemeister als die Urheber ihrer Krankheiten und des Zerfalls ihres alten Fleisches beschuldigen, sondern diejenigen, welche dann zufällig gerade da sind und ihnen einen Rat erteilen, wenn nämlich die damalige Auffüllung nach viel späterer Zeit eine Krankheit im Gefolge führt, weil sie ohne Rücksicht auf die Gesundheit geschah. [...] Du, werter Kallikles, machst es jetzt geradeso: Du preisest Menschen, welche die hiesigen Bürger mit Speisen gefüttert haben, nach denen sie Lust hatten, und darum sagt man, sie hätten die Stadt [Athen] groß gemacht. Daß aber der Staat durch die Schuld der alten Staatmänner aufgedunsen und innerlich vereitert ist, merkt man nicht. Denn ohne Besonnenheit und Gerechtigkeit haben sie den Staat mit Häfen, Werften, Mauern, Zöllen und dergleichen Zeug angefüllt. Wenn nun der Ausbruch der Krankheit erfolgt, werden sie die derzeitigen Ratgeber beschuldigen, den Themistokles, Kimon und Perikles aber preisen, die doch die Urheber des Elends sind [..] Es scheint übrigens mit allen, die sich für Statsmänner ausgeben, ganz so zu stehen wie mit den Sophisten."

Was seine eigene Rolle anbetrifft, sagt Sokrates anschließend im Gorgias: "Ich denke, daß ich mit wenigen anderen Athenern, um nicht zu sagen allein, der wahren Staatskunst obliege und in unserer Zeit für das Staatswohl tätig bin. Da ich die Ansichten, die ich jedesmal vorbringe, nicht nach dem Gefallen anderer einrichte, sondern mit Rücksicht auf das Gute, nicht das Angenehme..."

Seine athenischen Mitbürger dachten anders. Wie Ernst Curtius es beschrieb: "Die Athener liebten die Leute nicht, die anders sein wollten als alle Übrigen, namentlich wenn diese Sonderlinge nicht ruhig ihrer Wege giungen und sich von der Welt zurückzogen, wie Timon, sondern sich mitten unter die Leute drängten und sie hofmeistern wollten, wie es Sokrates tat; denn was konnte einem wohl angesehenen Athener verdrießlicher sein als wenn er sich auf dem Wege zur Ratsversammlung oder zum Gerichte unvermutet in eine Unterredung verwickelt sah, die darauf hinzielte, ihn zu verwirren, in seiner behaglichen Selbstgewißheit zu erschüttern und schließlich lächerlich zu machen? In anderen Städten würden solche Unterredunhgen nur selten zu Stande gekommen sein, aber in Athen war die Redelust so groß, daß viele sich fangen ließen und die Zahl derer allmählich sehr groß wurde, welche dem unbequemen Frager hatten herhalten müssen und die peinliche Erinnerung einer von ihm erlittenen Demütigung mit sich herumtrugen. Am meisten aber haßten ihn [Sokrates] diejenigen, welche sich von seinen Worten hatten ergreifen und bis zu Tränen schmerzlicher Selbsterkenntnis bewegen lassen, dann aber in ihr früheres Wesen zurückgefallen waren." Es ist dies der Hintergrund, vor dem im Jahre 399 v.Chr. der Justizmord an Sokrates möglich wurde.

Dennoch war die Wirkung des Sokrates in Athen gewaltig. In mehr als drei Jahrzehnten hatte Sokrates seine "Jugendbewegung" aufgebaut. Er entwickelte seine Lehre zu einer intellektuellen Stärke, welche die sophistische Ideologie in die Defensive drängte und diese schließlich völlig diskreditierte. Das Werk des Sokrates wurde von Platon fortgeführt, von dem Ernst Curtius schreibt: "Platon ist der einzige Sokratiker, der dem Meister vollkommen treu geblieben ist und zugleich die Lehre desselben nach allen Seiten vetieft und entwickelt, seine Grundgedanken methodisch verbunden und zu einer Gesamtanschauung der ganzen sittlichen Welt erweitert hat."

Aber der Jusizmord an Sokrates ist nicht das Ende der Geschichte. Die politische Schlacht um Athen war verloren, aber in der weltgeschichtlichen Perspektive wurde der Krieg der Ideen von Sokrates und Platon gewonnen. Durch Plato wurde eine Fülle philosophischer und wissenschaftlicher Ideen entwickelt, die nicht nur das Erbe des Thales, Anaximander, Pythagoras und Solon bewahrt, sondern qualitiativ weitergeführt. Mit Platons Werk war die Sophistik entgültig wissenschaftlich überwunden. Im Jahre 387 v.Chr. nahm die "Jugendbewegung" des Sokrates mit der Platonischen Akademie eine institutionelle Gestalt an. Von ihr gingen die entscheidenden, geistigen Impulse für die europäische Geistesgeschichte aus, die bis heute fortwirken.