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Von Timo Ollech
Die Lektüre von Michael Bakunins Gott und der Staat (1871) bekräftigte mich in meinem Bestreben, der Frage nach dem Zusammenhang von Menschenbild und Gottesvorstellung nachzugehen. Dieser Zusammenhang scheint mir in der Tradition des Augustinus, über Nikolaus von Kues, Leibniz, Schiller bis hin zu Lyndon LaRouche einem fatalen Fehlurteil zu unterliegen. Im folgenden Artikel möchte ich versuchen, diese Einschätzung genauer darzulegen, wobei ich etliche Zitate aus den Briefen des Paulus zur Verdeutlichung angebe. Bakunin selbst bezieht sich nicht speziell auf Paulus als Einzelautor, seine Kritik trifft auf Paulus jedoch voll und ganz zu."Die Absicht oder Zielrichtung des Menschen wird ihm von Gott diktiert", behauptet Lyndon LaRouche und begründet damit die menschliche Freiheit und Würde. Dies ist ganz offensichtlich ein Paradox, denn wenn jemand diktiert - erst recht ein allmächtiges Wesen namens Gott - , gibt es keine Freiheit, wie Bakunin (und mit ihm die Vernunft) klar darlegt. LaRouche muß folglich etwas anderes meinen als seine Worte oberflächlich suggerieren, oder er unterliegt einem Denkfehler; für letzteres spricht, daß er sich trotzdem auf Paulus beruft, was eine positive Interpretation seiner Aussage unmöglich macht.
Seine Haltung ist verständlich, denn wir befinden uns immer noch im Prozeß der Menschwerdung. Nach wie vor fürchten sich viele Menschen vor ihrer Größe und projizieren den Kern ihres Menschseins auf ein imaginäres Wesen, einen Gott. Nelson Mandela beschrieb dies sehr eindringlich in seiner Antrittsrede: "Unsere tiefgreifendste Angst ist nicht, daß wir ungenügend sind. Unsere tiefgreifendste Angst ist, über das Meßbare hinaus kraftvoll zu sein." Bezeichnenderweise konnte selbst Mandela sich nicht ganz von dieser Angst lösen - auch er führt unsere Größe auf Gott zurück, anstatt sie als gegeben zu akzeptieren. Und dennoch: Die größten Persönlichkeiten der Menschheitsgeschichte waren großartige Menschen, keine Diener oder Manifestationen irgendeines Gottes.
Doch zunächst einige Informationen zu Michael Bakunin
(1814-1876), der vermutlich der bekannteste aller Anarchisten
war und ist. Er war im Gegensatz zu Marx ein Mann der Tat,
beteiligte sich maßgeblich an den revolutionären Aufständen von
1848, obwohl er als Mitglied des russischen Landadels aufwuchs.
1849 landete er für acht Jahre im Gefängnis, entkam schließlich
und reiste um den ganzen Erdball, immer auf der Seite der
Unterdrückten. Da er kein Theoretiker war, sind seine Schriften
recht unstrukturiert und fragmentarisch, doch stellen sie ein
beredtes Zeugnis seiner unbedingten Menschenliebe dar.
I. Materialismus und Gott
Rufen wir uns Friedrich Schillers Deutung des sogenannten
"Sündenfalls" ins Gedächtnis (siehe
Neue Solidarität Nr. 17, 2001),
denn Bakunin beginnt seine Abhandlung mit eben dieser
biblischen Geschichte:
Diese beiden Fähigkeiten und ihr fortschreitendes Zusammenwirken im Lauf der Geschichte bilden den bewegenden Faktor, die verneinende Kraft in der positiven Entwicklung der menschlichen Animalität und schaffen folglich alles, was das Menschliche in den Menschen ausmacht.
Die Bibel, ein sehr interessantes und manchmal sehr tiefes Buch, wenn man sie als eine der ältesten erhaltenen Äußerungen menschlicher Weisheit und Phantasie betrachtet, drückt diese Wahrheit sehr naiv in ihrem Mythos von der Erbsünde aus. Jehovah, von allen Göttern, die die Menschen je angebetet, gewiß der eifersüchtigste, eitelste, roheste, ungerechteste, blutgierigste, despotischste und menschlicher Würde und Freiheit feindlichste, schuf Adam und Eva aus man weiß nicht was für einer Laune heraus, ohne Zweifel um seine Langeweile zu vertreiben, die bei seiner ewigen egoistischen Einsamkeit schrecklich sein muß, oder um sich neue Sklaven zu schaffen; dann stellte er ihnen edelmütig die ganze Erde mit all ihren Früchten und Tieren zur Verfügung, wobei er diesem vollständigen Genuß nur eine Grenze setzte. Er verbot ihnen ausdrücklich, die Frucht vom Baum der Erkenntnis zu essen. Er wollte also, daß der Mensch, allen Bewußtseins von sich selbst beraubt, ewig ein Tier bliebe, dem ewigen Gott, seinem Schöpfer und Herrn untertan. Aber da kam Satan, der ewige Rebell, der erste Freidenker und Weltenbefreier. Er bewirkt, daß der Mensch sich seiner tierischen Unwissenheit und Unterwürfigkeit schämt; er befreit ihn und drückt seiner Stirn das Siegel der Freiheit und Menschlichkeit auf, indem er ihn antreibt, ungehorsam zu sein und die Frucht vom Baum der Erkenntnis zu essen...
Gott gab Satan recht und erkannte an, daß der Teufel Adam und Eva nicht betrogen hatte, als er ihnen Erkenntnis und Freiheit versprach als Belohnung des Ungehorsams, zu dem er sie verleitet hatte; denn sobald sie von der verbotenen Frucht gegessen hatten, sagte Gott zu sich (siehe die Bibel): ,Sieh' da, der Mensch ist ist wie einer von Uns geworden, er kennt das Gute und das Böse; hindern wir ihn also, die Frucht des ewigen Lebens zu essen, damit er nicht unsterblich werde wie Wir.'
Lassen wir jetzt die fabelhafte Seite dieses Mythos beiseite und betrachten wir seinen wirklichen Sinn. Dieser ist sehr klar. Der Mensch hat sich befreit, er hat sich von der tierischen Natur getrennt und sich als Mensch gebildet; er begann seine Geschichte und seine eigentliche menschliche Entwicklung mit einem Akt des Ungehorsams und der Erkenntnis, das heißt mit der Empörung und dem Denken."
Hören wir dazu Paulus, der aufgrund seines großen Engagements für die frühen christlichen Gemeinden als der eigentliche Begründer der Kirche gelten kann:
Wir könnten ihnen erwidern, daß die Materie, von welcher die Materialisten sprechen - eine spontane, ewig bewegliche, tätige, produktive Materie, chemisch und organisch bestimmt und in Erscheinung tretend entsprechend den ihr eigenen mechanischen, tierischen und intelligenten Eigenschaften oder Kräften - , nichts mit der niedrigen Materie der Idealisten gemein hat. Letztere, ein Produkt ihrer falschen Abstraktion, ist tatsächlich ein dummes, unbelebtes, unbewegliches, zu allem unfähiges Ding, ein toter Rückstand, eine häßliche Einbildung, jener schönen Einbildung gegenübergestellt, die sie Gott, das höchste Wesen nennen, demgegenüber die Materie, die Materie der Idealisten, von ihnen selbst all dessen beraubt, was ihre wirkliche Natur ausmacht, notwendig das höchste Nichts darstellt. Sie nahmen der Materie die Intelligenz, das Leben, alle bestimmenden Eigenschaften, tätigen Beziehungen oder Kräfte, selbst die Bewegung, ohne welche die Materie nicht einmal Gewicht hätte, und ließen ihr nur die Undurchdringlichkeit und die unbedingte Bewegungslosigkeit im Raum; sie legten all diese Kräfte, Eigenschaften und natürlichen Äußerungen dem von ihrer abstrahierenden Phantasie geschaffenen eingebildeten Wesen bei; dann nannten sie, mit Vertauschen der Rollen, dieses Produkt ihrer Einbildung, dieses Phantom, diesen Gott, der das Nichts ist, ,das höchste Wesen', und erklärten mit notwendiger Konsequenz, daß das wirkliche Wesen, die Materie, die Welt des Nichts sei. Und dann sagen sie uns mit ernster Miene, daß diese Materie unfähig sei, etwas hervorzubringen, ja nicht einmal fähig sei, sich von selbst in Bewegung zu setzen, und daß sie folglich von ihrem Gott erschaffen sein müsse."
Einsteins Relativitätstheorie stellt eine sehr gute Illustration für die materialistische Sichtweise dar, denn Raum und Zeit sind keine absoluten, von der Materie unabhängigen ideellen Objekte, sondern untrennbar mit der Materie verbunden, ja sie entstehen überhaupt erst aus der Anwesenheit von Materie. Auch die Monaden von Leibniz sind eigentlich eine materialistische Vorstellung, jedoch versucht sich Leibniz (natürlich vergeblich) an dem Spagat, einen Schöpfergott in sein Weltbild zu integrieren.
Die Trennung von Materie und Geist hängt unmittelbar mit der Religion, dem Konstrukt eines Schöpfergottes, zusammen:
Das Christentum ist gerade die Religion par excellence, weil es in seiner Ganzheit die Natur, das eigentliche Wesen jedes religiösen Systems ausdrückt und äußert, nämlich die Verarmung, die Versklavung und die Vernichtung der Menschheit zum Vorteil der Gottheit.
Da Gott alles ist, sind die wirkliche Welt und der Mensch nichts. Da Gott die Wahrheit, die Gerechtigkeit, das Gute, das Schöne, die Macht und das Leben ist, ist der Mensch die Lüge, das Schlechte, das Übel, die Häßlichkeit, die Ohnmacht und der Tod. Da Gott der Herr ist, ist der Mensch der Sklave. Der Mensch ist unfähig, die Gerechtigkeit, die Wahrheit und das ewige Leben selbst zu finden, und kann sie nur durch göttliche Offenbarung erlangen. Wer aber Offenbarung sagt, sagt auch Offenbarer, Erlöser, Propheten, Priester und Gesetzgeber, die Gott selbst erleuchtete, und sobald diese einmal als Vertreter der Gottheit auf der Erde anerkannt sind, als die heiligen Lehrer der Menschheit, die Gott selbst auserwählte, um die Menschheit auf den Weg des Heils zu leiten, müssen sie notwendigerweise absolute Macht ausüben. Alle Menschen schulden ihnen unbegrenzten und demütigen Gehorsam; denn gegenüber der göttlichen Vernunft gibt es keine menschliche Vernunft, und vor der Gerechtigkeit Gottes bleibt keine irdische Gerechtigkeit bestehen. Als Sklaven Gottes müssen die Menschen auch Sklaven der Kirche und des Staates sein, insoweit als der Staat von der Kirche geheiligt ist. Dies begriff von allen bestehenden und vergangenen Religionen das Christentum am besten, nicht ausgenommen selbst die alten orientalischen Religionen, welche übrigens nur bestimmte und bevorrechtete Völker umfaßten, während das Christentum den Anspruch hat, die ganze Menschheit zu umfassen, und von allen christlichen Sekten hat der römische Katholizismus allein dies mit strenger Konsequenz verkündet und verwirklicht. Deshalb ist das Christentum die absolute Religion, die letzte Religion, und die römisch-apostolische Kirche die einzig konsequente, rechtmäßige und göttliche.
Ob es also den Metaphysikern und religiösen Idealisten, Philosophen, Politikern oder Dichtern gefällt oder nicht: Die Gottesidee enthält die Abdankung der menschlichen Vernunft und Gerechtigkeit in sich, sie ist die entschiedenste Verneinung der menschlichen Freiheit und führt notwendigerweise zur Versklavung der Menschen in Theorie und Praxis."
Sie war nicht nur die Verneinung aller politischen, sozialen und religiösen Einrichtungen des Altertums, sondern der unbedingte Umsturz des gesunden Menschenverstandes, aller menschlichen Vernunft. Das wirklich existierende Wesen, die wirkliche Welt, wurden von jetzt ab als das Nichts betrachtet; das Produkt der menschlichen Abstraktionsfähigkeit, die letzte und höchste Abstraktion, in welcher diese Fähigkeit nach Überschreitung aller existierenden Dinge, der allgemeinsten Bestimmungen des lebenden Wesens wie der Ideen von Zeit und Raum sogar, nach denen nichts zu überschreiten übrigbleibt, in der Betrachtung ihrer Lehre und absoluten Unbeweglichkeit ruht - diese Abstraktion also, dieser tote Rückstand, jeden Inhalts leer, das wahre Nichts, Gott, wird zum einzigen wirklichen, ewigen, allmächtigen Wesen proklamiert. Das wirkliche All wird als Nichts erklärt und das absolute Nichts als All. Der Schatten wird Körper! und der Körper verschwindet wie ein Schatten.
Es war eine unerhörte Kühnheit und Sinnlosigkeit, das wahre Ärgernis des Glaubens, der Sieg der gläubigen Dummheit über den Geist, für die Massen und für einige wenige der triumphierende Spott eines ermüdeten, verdorbenen, enttäuschten Geistes, den das ehrliche und ernste Suchen der Wahrheit anekelte, das Bedürfnis, sich zu betäuben und zu verdummen, wie es sich oft bei abgestumpften Geistern findet: Credo quia absurdum ("Ich glaube nicht nur an das Unsinnige; ich glaube daran gerade und hauptsächlich, weil es das Unsinnige ist.") So glauben viele ausgezeichnete und aufgeklärte Geister in unseren Tagen an den tierischen Magnetismus, den Spiritismus, das Tischerücken, - aber warum so weit gehen? - sie glauben noch an das Christentum, an den Idealismus, an Gott."
Es läßt sich jedoch in der Entwicklung des religiösen Denkens auch ein gegenläufiger Trend beobachten, nämlich die allmähliche Verlagerung des göttlichen Einflusses hin zu den Menschen. Der Kontrast zwischen Paulus und den Denkern der Renaissance verdeutlicht dies sehr gut. Paulus sieht den Menschen als einen Sklaven entweder der Sünde oder Gottes ohne persönliche Freiheit. Der Humanismus der Renaissance war zwar auch noch religiös begründet, ließ jedoch aktives Eingreifen der Menschen in die Entwicklung des Kosmos zu, betrachtete uns als eine Art Werkzeuge Gottes, die in Harmonie mit dessen Gesetzen die Welt vervollkommnen. Durch den "göttlichen Funken" haben wir Teil an der Schöpfung, die nicht wie im Alten Testament nach sieben Tagen abgeschlossen war, sondern ein stetiger Prozeß ist.
Den nächsten entscheidenden Schritt gingen dann die Materialisten und Atheisten, die von der Idee, daß wir bloß ewig unvollkommene Abbilder eines vollkommenen Gottes sind, abgestoßen waren und erkannten, daß wir zwar nicht perfekt sind (denn wir sind ein kleiner Teil des Kosmos, der nur als Ganzes vollkommen ist), jedoch nicht von einem gedachten äußeren Einfluß zu menschlicher Größe gebracht werden. Diese Würde und Größe ist im Gegenteil unser eigentliches Wesen, das, was uns zu Menschen macht. Die Metapher vom Mikrokosmos beschreibt das sehr schön; der Makrokosmos ist selbstverständlich nicht etwa Gott, sondern eben der ganze Kosmos, den wir auf gewisse Weise in uns tragen. Erst der Materialismus war demnach die theoretische Grundlage für den Sprung in unsere eigene Größe, für die Überwindung der Angst, von der Mandela spricht.
Paulus hingegen liefert eine lupenreine Herrschaftsideologie für Oligarchen, verpackt in metaphysische Phrasen. Dazu Bakunin:
Dies ist in wenigen Worten ihre ganze Philosophie, eine Philosophie von Gefühlen, nicht von wirklichen Gedanken, eine Art metaphysischer Pietismus. Dies scheint unschuldig, ist es aber durchaus nicht, und die sehr genaue, enge und trockene Lehre, die sich unter dem unfaßbar Weiten dieser poetischen Formen versteckt, führt zu denselben verderblichen Ergebnissen wie alle positiven Religionen: zur vollständigen Verneinung der Menschenfreiheit und Menschenwürde.
Wenn man alles, was man Großes, Edles, Schönes in der Menschheit findet, als göttlich preist, erkennt man damit an, daß die Menschheit allein nicht imstande gewesen wäre, es hervorzubringen; dies kommt auf dasselbe hinaus, wie wenn man sagte, daß sie, sich selbst überlassen, ihrer eigenen Natur nach elend, ungerecht, niedrig und häßlich ist. Dadurch kommen wir zum Kern jeder Religion, der Herabsetzung der Menschheit zum größeren Ruhm der Gottheit. Und sobald man die natürliche Minderwertigkeit des Menschen und seine fundamentale Unfähigkeit, sich aus sich selbst heraus, außerhalb aller göttlichen Erleuchtung, zu gerechten und wahren Ideen zu erheben, zugibt, wird es nötig, auch alle theologischen, politischen und sozialen Folgerungen der positiven Religionen zuzugeben. Sobald Gott, das vollkommene und höchste Wesen, sich der Menschheit gegenüberstellt, entstehen von überall göttliche Vermittler, Auserwählte, von Gott Erleuchtete, um das Menschengeschlecht in seinem Namen zu leiten und zu regieren.
Kann man nicht annehmen, daß alle Menschen in gleicher Weise von Gott erleuchtet sind? Dann brauchte man allerdings keine Vermittler. Aber diese Annahme ist unmöglich, weil ihr die Tatsachen zu sehr widersprechen. Man müßte dann der göttlichen Erleuchtung alle Sinnlosigkeiten und Irrtümer, alle Greuel, Schändlichkeiten, Erbärmlichkeiten und Dummheiten, die in der Welt der Menschen vorkommen, zuschreiben. Es gibt also auf der Welt nur wenige göttlich erleuchtete Menschen. Dies sind die großen Männer der Geschichte, die tugendhaften Genies, wie der ausgezeichnete italienische Bürger und Prophet Giuseppe Mazzini sagt. Unmittelbar von Gott selbst erleuchtet und auf allgemeine, durch das Volksstimmrecht ausgedrückte Zustimmung gestützt - Dio e Popolo - , sind sie berufen, die menschlichen Gesellschaften zu regieren."
Jawohl, der theoretische Idealismus hat den niedrigsten Materialismus in der Praxis zur notwendigen Folge, nicht für die, die ihn guten Glaubens predigen - für diese ist die Unfruchtbarkeit all ihrer Bemühungen das gewöhnliche Ergebnis - , aber für die, die ihre Lehren im Leben für die ganze Gesellschaft zu verwirklichen sich bemühen, solange sich diese von den idealistischen Lehren beherrschen läßt.
Es fehlt nicht an geschichtlichen Beweisen für diese allgemeine Tatsache, die zuerst sonderbar erscheinen mag, die sich aber natürlich erklärt, sobald man sie näher betrachtet.
Man vergleiche die beiden letzten Kulturen der antiken Welt, die griechische und die römische. Welche von beiden ist die materialistischere, in ihrem Ausgangspunkt natürlichere und menschlich idealere? Die griechische Kultur. Welche dagegen ist die an ihrem Ausgangspunkt abstrakt idealere, die die materielle Freiheit des Menschen der idealen Freiheit des Bürgers opfert, vertreten durch die Abstraktion des juristischen Rechts und die natürliche Entwicklung der menschlichen Gesellschaft zur Abstraktion des Staates, und welche ist die in ihren Konsequenzen brutalere? Ohne Zweifel die römische. Die griechische Kultur war zwar, wie alle antiken Kulturen, die römische einbegriffen, ausschließlich national und hatte die Sklaverei zur Grundlage. Aber trotz dieser beiden ungeheuren historischen Fehler faßte und verwirklichte sie nichtsdestoweniger als erste die Idee der Menschheit; sie veredelte und idealisierte wirklich das Leben der Menschen; sie verwandelte die Menschenherden in Vereinigungen freier Menschen; sie schuf die Wissenschaften, Künste, eine unsterbliche Dichtkunst und Philosophie und die ersten Begriffe der Menschenachtung durch die Freiheit. Mit der politischen und sozialen Freiheit schuf sie das freie Denken. Und am Ende des Mittelalters, zur Zeit der Renaissance, genügte es, daß einige griechische Emigranten einige ihrer unsterblichen Bücher nach Italien brachten, um das Leben, die Freiheit, das Denken, die Menschheit, die in dem finsteren Kerker des Katholizismus vergraben waren, zur Wiedererstehung zu bringen. Die menschliche Befreiung, das ist der Name der griechischen Kultur. Und der Name der römischen Kultur? Eroberung mit all ihren brutalen Folgen. Und ihr letztes Wort? Die Allmacht der Cäsaren. Das ist die Herabwürdigung und Sklaverei der Nationen und Menschen."
Es mag zwar durchaus sein, daß das Christentum in seiner Interpretation durch Augustinus und seine Nachfolger ein notwendiger Schritt hin zur Befreiung der Menschen war, indem es alle Menschen gleichermaßen als Abbilder Gottes definierte. In der Theorie waren damit alle Privilegien abgeschafft, im praktischen Leben jedoch merkte man davon so gut wie nichts. Folgerichtig muß der nächste Schritt sein, sich von der Idee eines Schöpfergottes ganz zu trennen und die Aussage des Protagoras - "der Mensch ist das Maß aller Dinge" - in ihrer ganz konkreten Bedeutung anzuerkennen.
Bakunin beklagt sich denn auch über die Romantiker, die mit ihrem Idealismus die geistige Grundlage für Metternich und seine reaktionäre Bande lieferte:
Die von dieser Schule geschaffene Literatur war das wahre Reich der Geister und Gespenster. Sie vertrug das Tageslicht nicht und konnte nur im Halbdunkel leben. Ebensowenig vertrug sie die brutale Berührung der Massen; es war die Literatur der zarten, feinen, ausgezeichneten Seelen, die dem Himmel, ihrer Heimat, zustrebten und wie gegen ihren Willen auf der Erde lebten. Sie verachtete und verabscheute die Politik, die Tagesfragen; wenn sie aber zufällig von ihnen sprach, zeigte sie sich offen reaktionär und nahm die Partei der Kirche gegen die Unverschämtheit der Freidenker, die Partei der Könige gegen die Völker und die Partei der Aristokratie gegen das elende Straßengesindel. Übrigens herrschte in dieser Schule, wie ich soeben sagte, beinahe vollständige Gleichgültigkeit gegenüber politischen Fragen vor. In den Wolken, in denen sie lebte, konnte man nur zwei wirkliche Punkte unterscheiden: die rasche Entwicklung des Bourgeois-Materialismus und die zügellose Entfesselung persönlicher Eitelkeit."
Ja, wir sind unbedingt die Sklaven dieser Gesetze. Aber es liegt nichts Erniedrigendes in dieser Sklaverei oder vielmehr, es ist gar keine Sklaverei. Denn Sklaverei setzt einen äußeren Herrn, einen Gesetzgeber voraus, der sich außerhalb desjenigen befindet, dem er gebietet; diese Gesetze liegen aber nicht außer uns, sie sind uns eigen, bilden unser Wesen, unser ganzes körperliches, geistiges und moralisches Wesen; wir leben, atmen, handeln, denken und wollen nur durch sie. Außerhalb ihrer sind wir nichts, existieren wir nicht. Woher käme uns also die Macht und der Wille, uns gegen sie zu empören?
Den Naturgesetzen gegenüber ist für den Menschen nur eine Freiheit möglich: sie zu erkennen und sie immer mehr seinem Ziel der kollektiven und individuellen Befreiung oder Humanisierung entsprechend anzuwenden. Sind diese Gesetze einmal erkannt, üben sie eine von der Masse der Menschen nie erörterte Autorität aus. Man muß zum Beispiel ein Narr oder ein Theologe oder wenigstens ein Metaphysiker, Jurist oder Bourgeois-Ökonom sein, um sich gegen das Gesetz, daß zwei mal zwei gleich vier ist, zu empören. Man muß Glauben besitzen, um sich einzubilden, daß man im Feuer nicht verbrennt und im Wasser nicht ertrinkt, außer man nimmt zu irgend etwas Zuflucht, das auch wieder auf einem anderen Naturgesetz beruht. Aber diese Empörungen oder vielmehr diese Versuche oder tollen Einbildungen einer unmöglichen Empörung bilden nur eine seltene Ausnahme; denn im allgemeinen kann man sagen, daß die Masse der Menschen im täglichen Leben beinahe unbedingt vom gesunden Menschenverstand, das heißt von der Summe der allgemein anerkannten Naturgesetze, geleitet wird.
Das große Unglück ist, daß eine große Menge von der Wissenschaft schon anerkannter Naturgesetze den Volksmassen unbekannt bleibt dank der Sorgfalt der bevormundenden Regierungen, die bekanntlich nur zum Besten der Völker da sind. Ein anderer Nachteil ist, daß der größte Teil der auf die Entwicklung der menschlichen Gesellschaft bezüglichen Naturgesetze, die ebenso notwendig, unveränderlich, unvermeidlich sind wie die die physische Welt regierenden Gesetze, noch nicht von der Wissenschaft hinreichend festgestellt und erkannt ist.
Sobald sie einmal von der Wissenschaft erkannt und aus der Wissenschaft durch ein großes System der Volkserziehung und des Volksunterrichts in das Bewußtsein aller übergegangen sein werden, wird die Frage der Freiheit vollständig gelöst sein.
Die verbissensten Verfechter der Autorität müssen zugeben, daß dann politische Organisation, Leitung und Gesetzgebung nicht mehr nötig sein werden, drei Dinge, die, mögen sie dem Willen des Herrschers oder den Abstimmungen eines vom allgemeinen Stimmrecht gewählten Parlaments entspringen und mögen sie selbst dem System der Naturgesetze entsprechen, stets auf gleiche Weise der Freiheit der Massen verhängnisvoll und feindlich sind, weil sie ihnen ein System äußerlicher und daher despotischer Gesetze aufzwingen.
Die Freiheit des Menschen besteht einzig darin, daß er den Naturgesetzen gehorcht, weil er sie selbst als solche erkannt hat und nicht, weil sie ihm von außen her von irgend einem fremden Willen, sei er göttlich oder menschlich, kollektiv oder individuell, auferlegt sind."
Es klingt hier ferner schon die wichtige Erkenntnis an, daß Bildung die notwendige Voraussetzung für eine Gesellschaft freier Menschen ist, während Privilegien der Feind aller Freiheit sind, was sich immer wieder in der Geschichte bestätigt hat und auch heute bei jedem "Marsch durch die Institutionen" beobachtet werden kann:
Wir erkennen die unbedingte Autorität der Wissenschaft an, aber wir weisen die Unfehlbarkeit und Universalität der Vertreter der Wissenschaft zurück. In unserer Kirche - man erlaube mir einen Augenblick, dieses Wort zu gebrauchen, das ich im übrigen verabscheue; beide, Kirche und Staat, sind mir unausstehlich - , in unserer Kirche wie in der protestantischen Kirche haben wir ein Oberhaupt, einen unsichtbaren Christus, die Wissenschaft, und wie die Protestanten, sogar konsequenter als die Protestanten, wollen wir in derselben weder Papst, noch Konzile, noch Versammlungen unfehlbarer Kardinäle, noch Bischöfe und selbst keine Priester dulden. Unser Christus unterscheidet sich vom protestantischen und christlichen Christus darin, daß letzterer ein persönliches Wesen und unserer unpersönlich ist; der christliche Christus, der schon in einer ewigen Vergangenheit zur Vollendung gelangte, stellt sich als vollkommenes Wesen dar, während die Vollendung und Vollkommnung unseres Christus, der Wissenschaft, immer in der Zukunft liegen, was soviel heißt, als daß sie nie zur Verwirklichung gelangen wird. Wenn wir nur die unbedingte Autorität der absoluten Wissenschaft anerkennen, setzen wir also in keiner Weise unsere Freiheit aufs Spiel.
Ich verstehe unter ,absoluter Wissenschaft' die wirklich universelle Wissenschaft, die das Universum, das System oder die Zuordnung aller sich in der beständigen Entwicklung der Welten äußernden Naturgesetze, in seiner ganzen Ausdehnung und all seinen unendlichen Einzelheiten ideal wiedergeben würde. Es ist klar, daß diese Wissenschaft, das erhabenste Ziel aller Anstrengungen des menschlichen Geistes, nie in absoluter Vollständigkeit verwirklicht werden wird. Unser Christus wird also ewig unvollendet bleiben, was den Stolz seiner bevorrechteten Vertreter unter uns bedeutend vermindern muß. Gegen diesen Sohn Gottes, in dessen Namen sie uns ihre unverschämte und pedantische Autorität aufzulegen die Anmaßung haben würden, werden wir uns auf Gott den Vater berufen, der die wirkliche Welt, das wirkliche Leben ist, von denen jener nur der allzu unvollkommene Ausdruck ist und deren unmittelbare Vertreter wir selbst sind - die lebenden Wesen, die wir leben, arbeiten, kämpfen, lieben, streben, genießen und leiden."
Auf diese natürliche Beschaffenheit gründen sich die unbestreitbaren Rechte und die große Aufgabe der Wissenschaft, aber auch ihre tiefe Ohnmacht und selbst ihre schädliche Wirkung, sobald sie durch ihre offiziellen, patentierten Vertreter sich das Recht anmaßt, das Leben zu beherrschen. Die Aufgabe der Wissenschaft ist folgende: Durch Feststellung der allgemeinen Beziehungen der vorübergehenden und wirklichen Dinge, durch Erkennen der der Entwicklung der Erscheinungen der physischen und sozialen Welt eigenen allgemeinen Gesetze stellt sie sozusagen unveränderliche Markzeichen des Vormarsches der Menschheit auf, indem sie den Menschen die allgemeinen Bedingungen zeigt, deren strenge Beobachtung notwendig und deren Unkenntnis oder Vergessen verhängnisvoll sind. Mit einem Wort, die Wissenschaft ist der Kompaß des Lebens, aber sie ist nicht das Leben. Sie ist unabänderlich, unpersönlich, allgemein, abstrakt, gefühllos wie die Gesetze, deren ideale, gedachte, das heißt im Gehirn existierende Wiedergabe sie ist - im Gehirn, um uns zu erinnern, daß die Wissenschaft selbst nur ein materielles Produkt eines materiellen Organs des materiellen Organismus des Menschen, des Gehirns, ist. Das Leben ist ganz flüchtig und vorübergehend, aber auch ganz vibrierend von Wirklichkeit und Individualität, Gefühl, Leiden, Freuden, Streben, Bedürfnissen und Leidenschaften. Das Leben allein schafft freiwillig die Dinge und alle wirklichen Wesen. Die Wissenschaft schafft nichts, sie konstatiert und erkennt nur die Schöpfungen des Lebens. Und jedesmal, wenn die Männer der Wissenschaft, ihre abstrakte Welt verlassend, sich in die lebende Schöpfung in der wirklichen Welt hineinmischen, ist alles, was sie vorschlagen oder schaffen, arm, lächerlich, abstrakt, ohne Blut und Leben, totgeboren, dem von Wagner, dem pedantischen Schüler des unsterblichen Doktor Faust, geschaffenen Homunkulus gleich. Daraus ergibt sich, daß die einzige Aufgabe der Wissenschaft die ist, das Leben zu erhellen, nicht, es zu leiten...
Die Wissenschaft kann die Sphäre der Abstraktionen nicht verlassen. In dieser Beziehung steht sie unendlich tief unter der Kunst, die zwar auch nur mit allgemeinen Typen und Situationen zu tun hat, dieselben aber durch einen ihr eigenen Kunstgriff in Formen zu verkörpern weiß, die zwar nicht im Sinn des wirklichen Lebens lebendig sind, aber trotzdem in unserer Einbildung das Gefühl oder die Erinnerung dieses Lebens hervorrufen; die Kunst individualisiert gewissermaßen die von ihr erfaßten Typen und Situationen und erinnert uns durch diese Individualitäten ohne Fleisch und Knochen, deren Schaffung in ihrer Macht liegt, die deshalb bleibend und unsterblich sind, an die lebenden, wirklichen Individualitäten, die vor unseren Augen erscheinen und vergehen. Die Kunst ist also in gewissen Grade die Rückkehr von der Abstraktion zum Leben. Die Wissenschaft ist dagegen die beständige Opferung des flüchtigen, vorübergehenden, aber wirklichen Lebens auf dem Altar der ewigen Abstraktionen.
Die Wissenschaft kann ebensowenig die Individualität eines Menschen wie die eines Kaninchens erfassen. Das heißt, sie steht beiden gleich uninteressiert gegenüber. Nicht, daß ihr das Prinzip der Individualität unbekannt wäre. Sie erfaßt es vollständig als Prinzip, aber nicht als Tatsache. Sie weiß sehr gut, daß alle Tierarten, die Gattung Mensch inbegriffen, nur wirklich existieren als unbestimmte Zahl von Individuen, die geboren werden und sterben und neuen, ebenso vorübergehenden Individuen Platz machen. Sie weiß, daß mit dem Aufsteigen der Tierarten zu höheren Arten das Prinzip der Individualität mehr hervortritt und die Individuen vollständiger und freier werden. Sie weiß endlich, daß der Mensch, das letzte und vollendetste Tier auf der Erde, die vollständigste und beachtenswerteste Individualität zeigt wegen seiner Fähigkeit, das allgemeine Gesetz zu erfassen, zu verwirklichen und es gewissermaßen in sich selbst, in seiner sozialen und privaten Existenz, zu verkörpern. Wenn sie nicht durch theologischen oder metaphysischen, politischen oder juristischen Doktrinarismus oder durch eng wissenschaftlichen Hochmut verdorben und nicht für die natürlichen Instinkte und Strebungen des Lebens taub ist, weiß sie, und das ist ihr letztes Wort, daß die Achtung des Menschen das oberste Gesetz der Menschheit ist und daß das große, das wahre, das einzig rechtmäßige Ziel der Geschichte die Humanisierung und Befreiung, das heißt die wirkliche Freiheit, das wirkliche Wohl, das Glück jedes in der Gesellschaft lebenden Individuums ist. Denn schließlich, wenn man nicht in die freiheitstötende Fiktion, daß der Staat das Gemeinwohl vertrete, verfallen will, eine Fiktion, die stets auf die systematische Opferung der Volksmassen gegründet ist, muß man anerkennen, daß kollektive Freiheit und kollektives Wohlbefinden nur existieren, wenn sie die Summe der Freiheit und des Wohlbefindens der Individuen darstellen.
Die Wissenschaft weiß das alles, aber sie geht nicht weiter und kann nicht weiter gehen. Da die Abstraktion ihre wahre Natur bildet, kann sie wohl das Prinzip der wirklichen und lebendigen Individualität erfassen, aber sie kann nichts mit den wirklichen und lebenden Individuen zu tun haben. Sie beschäftigt sich mit den Individuen im allgemeinen, aber nicht mit Peter und mit Jakob, nicht mit diesem oder jeden Individuum, die für sie nicht existieren, nicht existieren können. Ihre Individuen sind, nochmals bemerkt, nur Abstraktionen.
Nicht diese abstrakten Individualitäten aber, sondern die wirklichen, lebendigen, vorübergehenden Individuen machen die Geschichte. Abstraktionen haben keine Füße, sie gehen nur, wenn sie von wirklichen Menschen getragen werden. Für diese wirklichen Wesen, die nicht nur in der Idee, sondern in Wirklichkeit aus Fleisch und Blut bestehen, hat die Wissenschaft kein Interesse. Sie betrachtet sie höchstens als Material zu geistiger und sozialer Entwicklung. Was liegt ihr an den besonderen Verhältnissen und dem zufälligen Schicksal von Peter und Jakob? Sie würde sich lächerlich machen, abdanken und sich selbst aufheben, wollte sie sich damit anders befassen als mit einem Beispiel zur Stütze ihrer ewigen Theorien. Und es wäre lächerlich, ihr deshalb böse zu sein; denn dies ist nicht ihre Aufgabe. Sie kann das Wirkliche nicht erfassen, sie kann sich nur in Abstraktionen bewegen. Ihre Aufgabe ist die Beschäftigung mit der Lage und den allgemeinen Daseins- und Entwicklungsbedingungen der Menschheit im allgemeinen oder einer bestimmten Rasse, eines Volkes, einer Klasse von Individuen, mit den allgemeinen Ursachen ihrer Wohlfahrt oder ihres Verfalls und den allgemeinen Mitteln, auf jede Weise den Fortschritt zu fördern. Wenn sie nur diese Aufgabe in weitem, vernünftigem Sinn erfüllt, hat sie ihre ganze Pflicht getan, und es wäre wahrhaft lächerlich und ungerecht, mehr von ihr zu verlangen.
Aber es wäre ebenso lächerlich und unheilvoll, ihr eine Aufgabe anzuvertrauen, die sie unfähig ist durchzuführen. Da ihre eigene Natur sie zwingt, das Dasein und das Schicksal von Peter und Jakob zu übergehen, darf man ihr nie erlauben, daß sie selbst oder jemand in ihrem Namen Peter und Jakob beherrscht. Denn sie wäre wohl imstande, sie beinahe so zu behandeln, wie sie die Kaninchen behandelt. Oder vielmehr, sie würde fortfahren, sie außer acht zu lassen, ihre patentierten Vertreter aber, die durchaus nicht nur abstrakte, sondern sehr lebendige Männer mit sehr wirklichen Interessen sind, würden dem verderblichen Einfluß nachgeben, den jedes Vorrecht unvermeidlich auf die Menschen ausübt, und würden die Menschen im Namen der Wissenschaft schinden, wie die Priester, die Politiker aller Farben und die Advokaten im Namen Gottes, des Staates und des juristischen Rechts sie bis jetzt geschunden haben.
Was ich predige, ist also, bis zu einem gewissen Grade, die Empörung des Lebens gegen die Wissenschaft oder vielmehr gegen die Herrschaft der Wissenschaft, nicht um die Wissenschaft zu zerstören - dies wäre ein Verbrechen an der Menschheit - , sondern um sie an ihren Platz zu weisen, den sie nie wieder verlassen sollte. Bis jetzt war die ganze Geschichte der Menschheit nur ein beständiges und blutiges Opfern von Millionen armer menschlicher Wesen für irgendeine unerbittliche Abstraktion: Götter, Vaterland, Staatsmacht, nationale Ehre, geschichtliche Rechte, juristische Rechte, politische Freiheit, öffentliches Wohl. Solcher Art war bis jetzt die natürliche, freiwillige, unvermeidliche Bewegung der menschlichen Gesellschaften. Wir können nichts daran ändern; wir müssen es, was die Vergangenheit betrifft, annehmen, wie wir alles natürliche Unheil annehmen. Man muß glauben, daß dies der einzig mögliche Weg zur Erziehung des Menschengeschlechts war. Denn man darf sich nicht täuschen: Selbst wenn man den machiavellistischen Künsten der herrschenden Klassen den größten Anteil zuschreibt, müssen wir anerkennen, daß keine Minderheiten mächtig genug gewesen wären, all diese schrecklichen Opfer den Massen aufzulegen, wenn es nicht in diesen Massen selbst eine freiwillige, schwindelartige Bewegung gegeben hätte, die sie dazu trieb, sich immer von neuem einer dieser verzehrenden Abstraktionen zu opfern, die, wie die Vampire der Geschichte, sich immer von menschlichem Blut nährten."
Noch einmal: Die einzige Aufgabe der Wissenschaft ist, den Weg zu erhellen. Aber nur das von allen Regierungs- und doktrinären Fesseln befreite, der Fülle seiner natürlichen Tätigkeit wiedergegebene Leben kann schöpferisch tätig sein."
Da aber die Entwicklung jeder Sache, folglich auch die der Erziehung, die allmähliche Verneinung des Ausgangspunkt bildet, muß sich das Autoritätsprinzip gradweise mit dem Fortschritt der Erziehung und des Unterrichts der Kinder vermindern und ihrer wachsenden Freiheit Platz machen. Jede vernünftige Erziehung ist im Grunde nichts anderes als diese fortschreitende Opferung der Autorität zum Nutzen der Freiheit, da der Endzweck der Erziehung kein anderer sein soll als der, Menschen zu bilden, die frei sind und die Freiheit anderer achten und lieben. So muß der erste Schultag, wenn die Schule Kinder niedrigen Alters aufnimmt, die kaum einige Worte zu stammeln vermögen, der Tag der größten Autorität und beinahe vollständiger Abwesenheit der Freiheit sein, der letzte Schultag aber der der größten Freiheit und der absoluten Beseitigung jeder Spur des tierischen oder göttlichen Prinzips der Autorität."
Man verfällt ja nicht automatisch in plattesten Positivismus und Vulgärmaterialismus, wenn man die Existenz eines Schöpfergottes abstreitet. Lediglich der Schritt vom allgemeinen Schöpfungsprinzip zum Schöpferwesen, das dann Gott genannt wird, ist unzulässig. Damit verlegt man das Gute, Wahre und Schöne aus dem materiellen Kosmos in eine abgehobene Sphäre, den Himmel, unerreichbar für uns Menschen, und macht uns damit zwangsläufig zu den niedrigsten und erbärmlichsten Kreaturen überhaupt, die der (göttlichen) Führung bedürfen. Mit Humanität und Freiheit hat das nichts zu tun.
Wir müssen ein für allemal als Grundsatz anerkennen, daß Glauben der Feind der Vernunft ist, daß Glauben und Denken sozusagen zwei verschiedene Betriebsmodi des Gehirns sind, und wenn es einmal vom Glauben zum Denken umgeschaltet hat, ist eine Umkehr unmöglich, weil wir das bisher nur Geglaubte dann als wahr oder falsch wissen. Und ich weiß inzwischen, daß Gott nur ein Hirngespinst war, das mich von meinem persönlichen Wachstum und dem Einsatz für die leidenden Menschen dieser Welt abhalten sollte - denn auch diese werden angeblich erlöst, wenn sie nur brav an die Dogmen der Religion glauben. Der Glaube an ein Paradies und die dortige Vereinigung mit dem Schöpfer nach dem Tod verhindert, sich jetzt für eine Verbesserung der Lebensverhältnisse aller Menschen einzusetzen.
Lieber Timo,
Dein Text über Bakunins Ansichten über Mensch und Gott, Autorität und Wahrheitssuche gibt durchaus interessante Einblicke in das Denken des russischen Revolutionärs - und auch in Deines (obwohl Du gelegentlich verraten solltest, worin Du nicht mit B. übereinstimmst; aber ich kenne das aus eigener Erfahrung: Wenn man über jemanden arbeitet und ihn anderen nahebringen möchte, dann läßt man Dinge, die einem selbst nicht gefallen, am liebsten weg). Einige Gedanken und Beobachtungen B.s sind sehr treffend, wie z.B. die Charakterisierung der Romantiker, anderes ist merkwürdig widersprüchlich wie etwa die Stelle über die Wissenschaft als "unseren Christus", gegen die er dann, als Metapher, "Gott, den Vater, der die wirkliche Welt, das Leben ist" auf den Plan ruft...
Sicherlich könnte man einiges sagen zum politischen Anarchismus und wie er regelmäßig von schlauen Oligarchen für ihre Zwecke eingesetzt wurde und wird - siehe Genua 2001 - ; aus Platzgründen soll auch der Apostel Paulus hier unverteidigt bleiben. Ich muß mich auf das Wesentliche beschränken.
Du hast Dir ein gewisses Welt- und Menschenbild zurechtgelegt und versuchst nun auszutesten, zu welchem Grade es sich im Einklang oder im Konflikt z.B. mit dem unsrigen befindet. Dabei ist zu berücksichtigen, daß wir eine ökumenische Bewegung sind, in der Menschen ganz verschiedener Konfessionen aktiv sind - ein lebendiger Dialog der Kulturen sozusagen. Dabei bedient sich jeder mehr oder weniger der ihm gewohnten Ausdrucksweise - d.h. hier in Europa eher der christlichen als etwa der konfuzianischen Begrifflichkeit. Aber die größte Freude ist, wenn man solche universellen Ideen findet, die verschiedene Kulturen auf einer höheren, weniger äußerlichen Vernunftebene vereinen.
Natürlich schließt der Dialog der Kulturen auch den Atheismus ein. LaRouche hat oft betont, daß man wesentliche Ideen der Physischen Wirtschaft oder der Kultur auch ohne Rückbezug auf Gott als Autorität ausdrücken können muß, damit auch Atheisten sie verstehen. Allerdings gehört zu diesem ökumenischen Dialog eine gewisse Toleranz - nicht aus Gleichgültigkeit, sondern aus dem Wissen, daß es nicht darauf ankommt, welche Worte, Begriffe, Namen der andere verwendet, sondern welche Idee er damit ausdrücken will. Und um diese Idee zu erfassen, muß man von diesen Namen absehen können. Mit anderen Worten, einem vernünftigen Atheisten sollte nicht gleich die Galle überlaufen, wenn jemand vielleicht etwas unreflektiert von Gott oder Monotheismus spricht.
LaRouche hat seine Weltanschauung früher oft als "Hypothese der höheren Hypothese" bezeichnet. Und ich dächte, der weise Atheist sollte seine Ansicht auch grundsätzlich als Hypothese betrachten, wobei er davon ausgeht, mit ihr bessere Resultate im Denken und im Handeln zu erzielen und größere Weisheit zu erlangen als mit einer nach seiner Ansicht durch irgendwelche Glaubensartikel eingeschränkte positive Religion. Ein solcher Wahrheitssucher würde dann wohl mit einigem Staunen lesen, was Nikolaus von Kues schrieb: "Gott erfaßt man nicht wie etwas Erkennbares, dem man dann, wenn man es erkannt hat, einen Namen gibt. Vielmehr sehnt sich das Denken nach dem Unbekannten; aber da es das nicht fassen kann, nennt es dieses Unerkannte das Eine, worin sich die Ahnung ausdrückt, daß es dieses Eine ist, wonach das Denken sich sehnt."
Auch mit dem, was Du über die Zusammengehörigkeit von Geist und Materie schreibst, stimmt Nikolaus von Kues grundsätzlich überein. Nicht erst Einstein sieht Raum und Zeit nur als Ordnung des neben- bzw. nacheinander Existierenden, auch Nikolaus von Kues und Leibniz sind sehr nachdrücklich dieser Ansicht - im Gegensatz zu Descartes, Newton usw. In dem Sinne, wie Du Wernadskij einen "Materialisten" nennst, könnte dies für den Cusaner ebenfalls gelten, der übrigens ausdrücklich verneint, daß Gott räumlich außerhalb oder zeitlich vor dem existierenden All des Existierenden zu denken sei (Die belehrte Unwissenheit, Globusspiel).
Wenn Du glaubst, daß Religion in der Dir bekannten Form Dich von "Deinem persönlichen Wachstum und dem Einsatz für die leidenden Menschen dieser Welt" abhält und der Gedanke an ein Jenseits Dich hindert, Dich "jetzt für eine Verbesserung der Lebensverhältnisse aller Menschen einzusetzen", dann hast Du recht, diese Fesseln abzulegen. Die Frage ist aber, warum empfindest Du die Idee "Schöpfergott" als Zumutung, als etwas, das Dich kleinmachen soll, während sie mich z.B. überhaupt nicht behindert, sondern im Gegenteil in meinem Menschsein bestärkt?
Bei Bakunin kann ich es einigermaßen verstehen, denn man muß sich die Verhältnisse im zaristischen Rußland vor Augen führen: widerwärtigster Absolutismus, ein bogomilisch verkorkstes Christentum, eine verkommene Priesterkaste, Kirchen, in denen die Gläubigen stehen oder knien mußten und sogar der Altar in einem anderen Raum stand, Leibeigenschaft, ein dummstolzer Adel, der (mit Ausnahmen natürlich) Schulen und Bildung nicht nur als Zumutung, sondern auch als Bedrohung betrachtete, Hungersnöte und eine Leidensfähigkeit des armen Volkes, die tatsächlich zum großen Teil durch den Glauben an ein besseres Leben nach dem Tode bedingt war. Wie soll man sich dagegen nicht empören? Aber warum gegen Gott? Liegt das vielleicht daran, daß B. eine ganz andere Idee von Gott hat als Nikolaus oder Leibniz?
Hier und heute herrschen ganz andere Verhältnisse. Die Kirchen sind beinahe zu Randgruppen geworden, Atheismus ist gang und gäbe. Vielleicht muß man unterscheiden zwischen Atheismus aus Nachlässigkeit und einem prinzipiellen Atheismus, der den Begriff Gottes aus ähnlichen Gründen ablehnt wie B. (obwohl das heute nicht mehr besonders revolutionär ist)? Woher kommt dieser Atheismus, bzw. diese andere Vorstellung von Gott als von außen drückender Gewalt?
Ich vermute, es hat mit der Denkmethode zu tun. Der Gedanke kam mir bei B.'s Beschreibung der Wissenschaft als Reich der Abstraktion, die gefühllos und unlebendig immer nur Gegebenheiten feststellt und nie etwas schafft. Halte dagegen LaRouches Physische Ökonomie, die Veränderung der physischen Umwelt durch die materielle Wirkung von Ideen. Bei Nikolaus gibt es das noch nicht, im Ansatz aber bei Leibniz. B. weiß davon nichts, oder ignoriert es. Sein wiederholtes Betonen des Abstrahierens als Denkart der Wissenschaft - mehr als seine Angriffe auf die Idealisten (befaßt hat er sich wohl hauptsächlich mit Fichte und Hegel, nicht mit Leibniz oder Schiller) - legen nahe, daß er im Prioritätsstreit zwischen Ideen und Dingen, zwischen der Auffassung des Platon oder des Aristoteles implizit letzerem den Vorzug gab.
Das ist des Pudels Kern: das aristotelische Primat der Dinge über die Ideen! Besonders deutlich habe ich dieses Problem bei Nikolaus von Kues in "Der Laie über den Geist" erklärt gefunden. Die Schule des Aristoteles behauptet, zuerst existieren die Dinge, und der Mensch macht sich dann, indem er alles Besondere von ihnen abstrahiert, eine allgemeine Idee von ihnen. Nehmen wir z.B. Häuser: Flachdach-Bungalow, Einfamilienhaus, Lehmhütte, Prachtvilla, Blockhaus usw. Den verstandesmäßigen Prozeß des Abstrahierens kann man sich wohl wie ein Computerprogramm vorstellen, bei dem die einzelnen Häuser in ihre wesentlichen Bestandteile zerlegt werden und dann untersucht wird, welche Elemente davon all diesen Häusern gemeinsam sind: Wände, Dach, Tür, Fenster. Deren Ensemble ergibt die Abstraktion Haus, darstellbar als Strichzeichnung. Manchmal heißt eine solche Abstraktion auch "allgemeine Idee". Die Abstraktion ist also nur ein Schatten der sichtbaren Dinge, und darin unterscheidet sie sich grundsätzlich von Platons Idee.
Die Frage ist aber, wenn Ideen angeblich nur infolge von bereits vorhandenden Dingen zustande kommen, woher kam dann die Idee des ersten Hauses? Oder überhaupt neue Ideen, Erfindungen, die erst wenn sie praktisch angewandt werden, eine ganze Reihe völlig neuer, nie dagewesener Gegenstände hervorbringen? Um nicht zugeben zu müssen, daß der menschliche Geist Ideen direkt hervorbringen kann, behaupten eingefleischte Aristoteliker gern, Erfindungen wie das erste Haus seien ganz zufällig, ohne zu denken, zustandegekommen. Und als sie dann da waren, habe man daraus durch Verallgemeinerung die abstrakte Idee abgeleitet. Was spricht aber dagegen, daß die Idee des ersten Hauses als etwas zum Drinwohnen, ein Dach mit vor Wind und Kälte schützenden Wänden, eine Art künstliche Höhle konzipiert wurde? Würde so ein Konzept unseren frühen Vorfahren nicht zur Ehre gereichen?
Und war es nicht so, daß die Idee "Haus" in den verschiedensten Umständen, Zeitaltern und technischen Möglichkeiten die verschiedensten konkreten Formen annahm und noch weiter annehmen wird, die man chronologisch oder nach anderen Kriterien geordnet als unendliche Mannigfaltigkeit (Cantor) auffassen kann? Die Idee "Haus" ist das Erzeugungsprinzip, der Typus oder Gattungsbegriff der geordneten unendlichen Menge der vielen verschiedenen Häuser. Die vielen Häuser vereinigt das eine Urbild, oder ihr Inbegriff.
Der Mathematiker Georg Cantor entwickelte aus diesem Gedanken eine allgemeine Mannigfaltigkeitslehre und eine Theorie der transfiniten Zahlen. Die kleinste transfinite Zahl ist diejenige, welche das Erzeugungsprinzip der unendlichen Reihe 1, 2, 3, ... n angibt. Diese Reihe entsteht, indem man jeweils ein neues Glied hinzufügt, das gegenüber dem letzten um eins vergrößert worden ist. Es gibt aber noch unendlich viele andere transfinite Zahlen, die auch wieder geordnet werden können. Cantor hat auch nachgewiesen, daß nicht alle unendlichen Mengen gleich groß sind, sondern daß ihr Typus unterschiedliche Mächtigkeit haben kann. Es gibt also Erzeugungsprinzipien oder transfinite Zahlen oder Ideen unterschiedlicher bzw. aufsteigender Mächtigkeit.
Cantor war ein Zeitgenosse Bakunins. Die Aristoteliker seiner Zeit wollten Cantor den Umgang mit solchen unendlichen Mengen nicht erlauben. Bertrand Russell war nach Cantors Tod der prominenteste Gegner seiner Mannigfaltigkeitslehre, die so präzise den Primat der einen Idee vor den vielen Gliedern der Reihe darstellbar machte. Wenn sie sich auf breiterer Ebene hätte durchsetzen können, wäre dies das Ende aller syllogistischen Spiegelfechtereien und empiristischen Dummheiten gewesen, die man heute immer noch aufgetischt bekommt.
Z.B. im Zusammenhang mit der Debatte um die Stammzellenforschung bzw. die Frage, ob befruchtete Eizellen Embryonenschutz genießen sollen, oder nicht. Man erkennt die Absurdität schon an der Frage: Ab wann ist der Mensch ein Mensch? Weder mit willkürlichen Definitionen (erst ab der Einnistung) noch mit empirischen Sinneseindrücken (wenn der Embryo menschliche Form annimmt) kommt man hier weiter, und die Debatte zeigt, daß besonders die Neodarwinisten die Cantorsche Idee "Mensch" nicht verstehen oder nicht verstehen wollen. Zur Idee "Mensch" gehört offensichtlich die ganze unendliche Reihe der Entwicklungsstationen eines menschlichen Potentials: Zygote, Einnistung, Beginn des Zentralen Nervensystems, sichtbar menschliche Form, typische Bewegungen im Mutterleib, dann der große Einschnitt der Geburt, womit die eigentliche Entfaltung des individuellen menschlichen Potentials erst wirklich beginnt: Auf die Säuglings-, Kleinkind- und Schulkindphase sollte nicht nur die Geschlechtsreife, sondern auch die geistige Reife zu selbständiger Arbeit folgen, die Erarbeitung eigenen Wissens, die Bewährung in Beruf, Familie und Verantwortung für das Gemeinwohl, und zugleich das immer fortgesetzte An-sich-Arbeiten mit dem Ziel zunehmender Weisheit, Gerechtigkeit und echter Autorität gegenüber anderen, für die man Verantwortung trägt.
Die Vervollkommnung kann und soll immer weitergehen; das Potential des Menschen ist demnach nicht begrenzt, die Reihe unendlich. Dies ist ein wichtiger Aspekt der menschlichen Freiheit. In jeder Phase aber ist der Mensch Mensch. Das Potential macht den Menschen zum Menschen, nicht der Grad, zu dem es sich erfüllt.
Auf diese Art und Weise kann man die ganze Evolution erfassen und nachvollziehen: die unbelebte Materie mit ihren Elementen und deren Zusammensetzungen, die elektromagnetische Strahlung, sowie jener Teil der unbelebten Materie, der aus lebender Materie entstanden ist; dann die belebte Natur von den Einzellern über die Pflanzen, die niederen und höheren Tiergattungen bis hin zum Menschen; dann die vom menschlichen Denken geprägte Noosphäre mit allen Veränderungen aufgrund menschlicher Geistestätigkeit. Jeder Teilaspekt dieser aufsteigenden Reihe ist selbst eine unendliche Reihe, die definiert ist von einem Erzeugungsprinzip, einer transfiniten Zahl. Und diese Reihe transfiniter Zahlen mit ansteigender Mächtigkeit gehorcht notwendig selbst einem Erzeugungsprinzip noch höherer Ordnung. LaRouche nannte es "Hypothese der höheren Hypothese". Du nanntest es "Schöpfungsprinzip". Mehr braucht es eigentlich nicht - solange klar ist, daß dieses Prinzip nicht in "Selektion und Anpassung" besteht, sondern ein mächtiges Wirkprinzip ist, das ein Abbild hat im menschlichen schöpferischen Geist.
Halte dagegen das Weltbild Newtons und der Materialisten - die eben leider nicht dachten wie Cusanus oder Wernadskij: Paarweise Beziehungen zwischen Teilchen im (fiktiven) leeren Raum, ein entropisches, mechanisches Universum, das von Zeit zu Zeit einen Uhrmacher oder "deus ex machina" braucht! Hier hast Du den fiktiven, von außen wirkenden Gott, über den Goethe sich im Gedicht "Prooemium" lustig macht. Es ist der Gott Newtons, nicht der von Cusanus, Leibniz, Lessing, Goethe oder Schiller. Deren Gott ist nicht außerhalb der Welt, sondern wirkt in ihr. Wie Schiller am Ende des Gedichts "Die Worte des Wahns" sagt: "...Es ist nicht draußen, da sucht es der Tor; es ist in Dir, Du bringst es ewig hervor."
Der Fehler des "deus ex machina" beginnt bereits mit dem Primat der Dinge über die Ideen. Statt auf das Hervorbringen neuer Ideen konzentriert sich das Denken auf das Abstrahieren: Es versucht, das Gegebene zu zergliedern und es mechanisch, auf mathematisch-deduktive Weise beschreibbare Weise wieder zusammenzusetzen. Im Extremfall führt das zudem Versuch, den Inhalt eines Buches durch die Analyse der Buchstaben zu erfassen, oder in der Behauptung, der menschliche Geist ließe sich durch einen intelligenten Computer ersetzen. Erkenntnis wird mit Darstellbarkeit im Rahmen des deduktiven Systems der herkömmlichen Mathematik verwechselt. Wernadskijs Prinzip des Lebens und der Noosphäre, geschweige denn LaRouches "Hypothese der Hypothese" sind damit nicht zu erfassen. Kant nennt dieses mit dem deduktiven Verstand nicht Erfaßbare "Ding an sich", andere sagen dazu "Hirngespinst". Da das Prinzip des Lebens aber unstreitig existiert und wirkt, desgleichen der menschliche Geist, liegt bei der aristotelischen Denkweise eine unnötige und unzulässige Beschränkung vor. Und nur aufgrund dieser Beschränktheit erscheint es so, als läge das schöpferische Prinzip irgendwo außerhalb und unerreichbar.
Damit ist nun eigentlich genug gesagt. Nur noch eine Anmerkung zu Bakunins Menschenbild vom Tier, das denken und sich empören kann. Ich finde es vor allem unvollständig, vermisse die Fähigkeit zu Freude, Liebe (Agape) und auch zum Humor. Wie zum Denken und zur Empörung finden wir bei den Tieren auch dazu zwar eine gewisse Anlage und Vorstufe, aber erst beim Menschen die höhere, geistige Form. Und außerdem: Wer nur denken und sich empören kann, ist zwar ein Mensch, aber kein glücklicher, sondern ein "idealer" im schlechtesten Sinne. Er ist nur ausgedacht und kommt im wirklichen Leben zum Glück nicht vor.
Gabriele Liebig
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