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Neue Solidarität
Nr. 24, 16. Juni 2010

Robert und Clara Schumann und ihr Lehrer Johann Sebastian Bach
Von Michelle Rasmussen - Zweiter und letzter Teil

Robert und Clara Schumann gaben die Bach-Studien nach den „Flitterwochen“ 1840 nicht auf, sondern nutzten sie beständig weiter als Quelle kreativer Einsichten. Besonders das Jahr 1845 wurde für beide zu einer Periode intensiver Bach- und Kontrapunktstudien, nachdem Robert aus Rußland, wohin er Clara begleitet hatte, mit einer schweren Nervenstörung zurückkehrte: „Ich verlor jede Melodie wieder, wenn ich sie eben erst im Gedanken gefaßt hatte, das innere Hören hatte mich zu sehr angegriffen.“42 Was tat er, um seine schöpferischen Kräfte zu regenerieren? Er ging wieder zurück zur Quelle seiner Inspiration, zu Bach. Aus Roberts Tagebuch vom Januar 1845, dem Beginn des Jahres seiner „Fugenpassion“, erfahren wir, daß sie ihre Fugenstudien (zu denen auch eine Abhandlung über den Kontrapunkt von Luigi Cherubini gehörte) fleißig fortsetzten. Clara schreibt in ihrem Tagebuch:

„Heute begannen wir kontrapunktische Studien, was mir trotz der Mühe viel Freude machte, denn ich sah, was ich nicht möglich geglaubt, bald eine selbst gemachte Fuge und sah bald mehrere, da wir die Studien regelmäßig alle Tage fortsetzten. Ich kann Robert nicht genug danken für seine Geduld mit mir und freue mich doppelt, wenn mir etwas gelingt, das er dann doch als sein Werk ansehen muß. Er selbst geriet aber auch in eine Fugenpassion.“43

Schumann war sich bewußt darüber, daß diese Periode der Fugenpassion auch eine „völlig neue Art des Komponierens“ in ihm bewirkte, wie er in seinem Tagebuch schreibt. Zuvor hatte er seine Inspiration aus seinen Improvisationen am Klavier bezogen, und daher „machen auch die Tonstücke, in denen die thematische Arbeit nahezu ausgeschlossen bleibt, mehr den Eindruck einer geistvollen Improvisation am Klavier, als einer aus- und durchgeführten Komposition, und gewiß ist hier die Gewohnheit Schumanns, bis op. 50, alles an diesem Instrumente zu komponieren, nicht ganz ohne Einfluß auf die Gestaltung seiner Schöpfungen geblieben.“44

Nun hingegen gewöhnte er sich an, seine musikalischen Ideen in einem reflexiven Gedankenprozeß zu erzeugen, bevor er sich ans Klavier setzte:

„Erst vom Jahr 1845 an, von wo ich anfing, alles im Kopf zu erfinden and auszuarbeiten, hat sich eine ganz andere Art zu komponieren zu entwickeln begonnen“,45 schrieb er 1846 in seinem Tagebuch. Und dem Musikkritiker Debrois van Bruyck in Wien schrieb er 1852: „Das Wichtigste ist, daß der Musiker sein inneres Ohr klärt.“46

Daverio beschreibt die musikalische Wirkung dieser neuen Form des kreativen Prozesses, den Schumann als Folge seiner Kontrapunktstudien entwickelt: „Einfach gesagt, tritt die lineare Entwicklung eines melodischen Gebildes zurück, zugunsten eines reichen Gewebes gleichzeitig entwickelter motivischer Kombinationen.“47 Diese Beschreibung weist auch auf das Wesen von Bachs Genie, durch dessen Verständnis Schumann seine eigene Schöpferkraft entwickeln konnte - die Fähigkeit, einen schönen, sich dynamisch verändernden und dennoch einheitlichen musikalischen Prozeß zu erzeugen, eine horizontale musikalische Entwicklung der verschiedenen Stimmen und des Ganzen in der Zeit, wobei die Stimmen untereinander in Wechselwirkung stehen wie die Charaktere in einem Bühnendrama.

Diese Veränderung von Schumanns Kompositionsmethode, vom Improvisieren am Klavier hin zur Arbeit mit den musikalischen Ideen als Gedankendinge, spiegelte sich auch in seiner Kunstauffassung wider. So hatte Schumann noch 1832 in sein Mottobuch geschrieben: „Ich glaube, daß, je mehr ein Künstler Imagination besitzt, desto mehr ist er ein Künstler, je mehr Reflexion, desto weniger ist er es. Miltitz.“ 15 Jahre später, etwa 1846, schreibt er ironisch hinter diesen Satz: „Da müßte Bach eine schlechte Natur sein!“48

Um sich ganz auf das Nacherleben der Bachschen Methode der kontrapunktischen Komposition zu konzentrieren, komponierte Robert dazu eine Reihe spezieller Werke. Im Februar und im März schrieb er im Tagebuch der Familie, den „Haushaltsbüchern“, wieder über die „Fugenpassion“. Nach einem Jahr enttäuschender Kompositionsversuche komponierte er seine „Vier Fugen“, gefolgt von ehrgeizigeren Musikprojekten. In der Einleitung zur Henle-Edition seiner Werke für Orgel oder Pedalklavier steht folgendes:

„Zu Beginn des Jahres 1845 nahm Robert Schumann zusammen mit Clara in Dresden intensive kontrapunktische Studien auf. Die vollkommene Beherrschung der polyphonen49 Schreibweise war für ihn von jeher ein Ziel, das er unablässig verfolgte. Sein Anspruch, höchste künstlerische Maßstäbe in der Gestaltung der kontrapunktischen Formen anzulegen, erwuchs aus einer lebenslangen tiefen Verehrung für Johann Sebastian Bach. Das musikalische Ergebnis zeigte sich in der Entstehung mehrerer Werkgruppen innerhalb eines relativ kurzen Zeitraums ab 1845: den sechs Studien in kanonischer Form Opus 56 für Pedalflügel, den vier Skizzen Opus 58 für Pedalflügel, den sechs Fugen Opus 60 für Orgel oder Pedalflügel sowie den vier Fugen Opus 72 für das Pianoforte.“50

Clara zufolge war Robert überzeugt, er habe mit diesen Kompositionen etwas „völlig neues“ geschaffen. Und siehe da: Das letzte Stück der Sammlung trägt den Titel „Sechs Fugen über den Namen Bach, Opus 60“. In der Einleitung heißt es dazu:

„Die sechs Fugen über B-A-C-H Opus 60 entstanden zwischen dem 12.3. (,Abends Bach-Fugen-Gedanken’) und dem 22.11.1845 (,Beendigung m. 6. Fuge’)... Welch große Bedeutung Schumann selbst seinen B-A-C-H-Fugen beimaß, geht aus einem Brief hervor, den er an seinen Verleger schrieb: ,Es ist dies eine Arbeit, an der ich das ganze vorige Jahr gearbeitet, um es in etwas des hohen Namens, den es [sic] trägt, würdig zu machen, eine Arbeit von der ich glaube, daß sie meine anderen vielleicht am längsten überleben wird.’ Gesamtkonzeption, thematische Vorlage und äußerster Anspruch an Qualität sind durch Bach geprägt; der Fugenzyklus stellt den Endpunkt seiner Entwicklung dar, in die die Beschäftigung mit dem Bachschen Werk (die Kunst der Fuge könnte als unmittelbares Vorbild der sechs Fugen angesehen werden) und mit der Fugenform überhaupt kulminiert. Keineswegs aber handelt es sich bei Schumanns Fugen um unselbstständige, nachahmerische Stilkopien, sondern um wirkungsvolle romantische Charakterfugen. Orgelmusikgeschichtlich sind die sechs Schumann-Fugen die ersten bedeutsamen Orgelkompositionen über das B-A-C-H-Thema...“50


Die Buchstaben des Namens Bach bilden, als die Noten B-A-C-H gelesen, ein musikalisches Motiv (links), das von Bach selbst in manchen Werken quasi als „Unterschrift“ eingearbeitet, aber auch von anderen Komponisten verwendet wurde. Schumann schrieb seine sechs Fugen über B-A-C-H, um seine Verehrung für Bach zum Ausdruck zu bringen. Rechts: Beginn der 5. Fuge aus Schumanns sechs Fugen über B-A-C-H op. 60.

Obwohl Schumann glaubte, dieses Werk werde „meine anderen Schöpfungen am längsten überleben“, ist diese Komposition heute fast völlig in Vergessenheit geraten.

Die zweite und dritte Sinfonie

Wie beeinflußten seine Kontrapunktstudien und seine neue Kompositionsmethode ab 1845 seine übrigen Werke? Die erste große Komposition, die er danach schrieb, mag dem Hörer einen Eindruck davon vermitteln. Ende 1845 litt Schumann zwar immer noch an „Melancholie“51, spürte aber in sich bereits die Begeisterung, daß neue musikalische Ideen sprudelten. „Symphoniaca“ schrieb er am 14. Dezember im Haustagebuch und markierte so den Beginn dessen, was wir heute als seine 2. Sinfonie kennen.

Hören Sie sich den langsamen, bewegenden Adagio espressivo-Satz an.52 Ein Autor, der diesen Satz einen der schönsten von Schumann nennt, schreibt: „Das achttaktige Thema von großer Schönheit erinnert in seiner musikalischen Struktur an die Arie ,Erbarme Dich’53 aus J.S. Bachs Matthäus-Passion.“ Er berichtet: „Als Brahms später diesen Satz analysierte, erkannte er einen Bezug zu Bachs Musikalischem Opfer,54 - ein Zeichen der Verehrung in der klassischen Musik, wie schon die oben erwähnten Variationen über das Thema ,b-a-c-h’.“

Die Verfasserin hat keine weiteren Belege darüber, worauf Brahms sich in seiner Bemerkung im einzelnen bezieht, aber es ist gut möglich, daß er dabei an die Entwicklungen in der Mitte des Satzes dachte.55

Dort beginnt das Orchester sehr leise eine Doppelfuge, also eine Fuge mit zwei Themen, im doppelten Kontrapunkt, wo zwei Stimmen sowohl übereinander als auch untereinander stehen können. Das erste Fugenthema beginnt aufwärts mit einer Bewegung in Terzen und macht dann einen größeren Sprung abwärts, wie der erste Teil des Themas aus Bachs Musikalischem Opfer. An dieser Stelle setzt dann das zweite Fugenthema ein, das chromatisch (also in Halbtonschritten) hinabsteigt, so wie der zweite Teil des Themas im Musikalischen Opfer.


Das erste Thema der „Doppelfuge“ aus dem Adagio espressivo aus Schumanns 2. Sinfonie (rechts) ähnelt dem ersten Teil (T. 5-8) des „königlichen Themas“ aus dem Musikalischen Opfer von Bach (links), das zweite Thema dem zweiten Teil des „königlichen Themas“ (T. 9-13).

Nach 12 Takten spielen die Streicher die Doppelfuge weiter, während die Holz- und Blechbläser das espressivo bezeichnete Thema vom Beginn des Satzes wiederholen, das nun zum Kontrapunkt der Doppelfuge wird. Der Satz spannt dann im folgenden den Hörer in die dynamische Entwicklung dieser drei ineinander verwobenen Themen ein.

Schumann schafft hier, wie bei vielen anderen Beispielen seiner Arbeiten mit der Kompositionsmethode der Fuge, kein steifes, akademisch-verstaubtes Lehrstück, sondern ein bewegendes Zeugnis seiner Suche nach kreativem Ausdruck in der Musik.

Hören Sie sich nun den vierten Satz der 3., „Rheinischen“ Sinfonie an, der mit „feierlich“ bezeichnet ist und als musikalische Beschreibung des Kölner Doms verfaßt wurde.56 Hören Sie die empfindsame Fugen-Entwicklung, die mit den Posaunen beginnt, die Diminution des Themas (kürzere Notenwerte), das nun selbst zum Kontrapunkt wird und dann als Kanon ertönt; so erschafft er „für uns eine Kathedrale von Tönen - mit ihrer machtvollen religiösen Stimmung“.57

Schumann experimentierte in seinen Ritornellen Op. 65, Kanons für Männerchor aus dem Jahr 1847, auch mit kontrapunktischen Formen für die menschliche Singstimme.

Dies sind nur einige Beispiele für Schumanns neuartige Kompositionen in der Periode von 1845-52, in der manche - trotz des wundervollen Liederjahres, der früheren Klavierwerke usw. - seine kreativste sehen. In diese Zeit fallen sein Jahr der Kammermusik und andere großartige Ideen.

Lehrbuch der Fugenkomposition

Parallel zu der schon erwähnten Fugengeschichte aus dem Jahr 1837, die er in seiner damaligen Fugenpassion verfaßt hatte, schrieb Schumann ein bislang unveröffentlichtes „Lehrbuch der Fugenkomposition“, das er im September 1848 abschloß. In einem veröffentlichten Auszug beschreibt er kurz den Ursprung des Begriffs der Fuge und betont, daß die Kompositionsprinzipien der Fuge von wesentlicher Bedeutung für sämtliche Meisterwerke sind, ob diese nun die Form einer Fuge haben oder nicht: „...und in Wahrheit, wie sie aus dem tiefsten Verständnis der Kunstform hervorgegangen, so lassen sich auch fast alle Meisterwerke selbst freierer Art auf die Fugenform zurückführen.“58

Dann beschreibt er, wie man eine Fuge komponiert, und wie wichtig es ist, ein gutes Thema zu wählen.

Man findet nicht nur Fugen und Fugato-Abschnitte in Schumanns veröffentlichten Werken, die Skizzenbücher zu seinen späteren Werken zeigen auch, daß er sogar Themen, die in nicht-fugischen Sätzen - beispielsweise einem Walzer - verwendet werden sollten, als Teil seines Kompositionsprozesses auf ihr kontrapunktisches Potential als Fugen untersuchte.

Schumanns Verständnis, wie wichtig die Kompositionsprinzipien der Fuge für sämtliche Meisterwerke der klassischen Musik sind, ist ganz entscheidend. Die Arbeit mit der Fugenform auf der Grundlage der kontrapunktischen Entwicklung eines einzigen Themas erhöht die Fähigkeit des Komponisten, schöne Musik zu schaffen, welche beides hervorbringt: das, was Lyndon LaRouche als „einheitliche Wirkung“ oder Platon als „das Eine“ bezeichnet, und ebenso das sich ständig ändernde, ständig weiterentwickelnde in der Musik, „das Viele“.

Wie schon oben in dem Abschnitt über Schumanns neue Kompositionsmethode ab 1845 erwähnt, erschafft man eine Komposition, die einheitlich ist und dennoch in dynamischer Weise überraschende, dramatische Veränderungen enthält, indem man von einem einzelnem Thema ausgeht und es verändert, indem man es wie in einem nicht-linearen Spiegel reflektiert betrachtet, wodurch sich dieses Thema auf vielen verschiedenen, kreativen Wegen weiterentwickeln läßt; hinzu kommt dann die Gegenüberstellung anderer Stimmen, die auch selbst schön sind, aber konzipiert wurden, um gleichzeitig (als Kontrapunkt) mit dem Thema zu ertönen.59 Übergänge, sogenannte Episoden, die von Aspekten des Themas oder des Kontrapunkts angeleitet sind, oder ähnliche neue Ideen, können die Freude noch vergrößern. Alles zusammen läßt dies die Musik von Funken provokanter Paradoxa und Ironien nur so sprühen - und das ist es, was den Hörer herausfordert, selbst kreativ zu werden.

Konzentriert er sich auf die anti-entropische60 Entwicklung eines einzigen, einfachen Themas, so läßt der Entwicklungsprozeß den Hörer staunen. Wenn das Thema am Ende wieder ertönt, ist es zwar immer noch das gleiche, aber wegen der inzwischen durchlaufenen Entwicklung nicht mehr dasselbe. Diese besondere Form der Entwicklung wird zur musikalischen Idee des Werkes.

Die strenge Herausforderung, auf der Grundlage der fugischen Entwicklung eines einzigen Themas zu komponieren - wie „das Eine“ und „das Viele“ bei Platon -, schärft die Fähigkeit des Komponisten, dies auch in allen anderen, freieren Formen zu tun, ob er dazu bestimmte Entwicklungsmethoden der Fuge direkt einsetzt oder nicht. Das Potential für eine dramatische, zielgerichtete, anti-entropische Entwicklung verleiht der klassischen Musik die Fähigkeit, das Entwicklungspotential des menschlichen Geistes - das wichtigste Element des sich ständig ändernden Universums, das der Mensch kennt - ganz besonders zu reflektieren.

Das freudige Feiern der kreativen Fähigkeiten des menschlichen Geistes selbst ist das, was die klassische Musik so außergewöhnlich macht.

Clara Schumann

Und was ist mit Clara? Ihre kompositorischen Fähigkeiten waren nun so weit fortgeschritten, daß sie auch Fugen schreiben konnte - dazu verwandte sie Themen, die von Bach oder von ihrem Ehemann stammten. Im Jahr der „Fugenpassion“, 1845, schrieb Clara im Februar innerhalb weniger Tage drei bisher unveröffentlichte vierstimmige Fugen auf der Grundlage von Themen aus Bachs Wohltemperiertem Klavier (Fuge Nr. 7 in Es-Dur BWV 876, Nr. 9 in E-Dur BWV 878 und Nr. 16 in g-moll BWV 885 aus Band II). Tatsächlich beruhen zwei davon auf Bach-Fugen, die Mozart als Streichquartett gesetzt hatte, als er 63 Jahre zuvor im musikalischen Salon des Baron van Swieten von Bach lernte - Nr. 7 und Nr. 9. Die Verfasserin besitzt handschriftliche Kopien ihrer Fugen von dem niederländischen Pianisten Jozef De Beenhouwer, der eine CD mit ihren gesammelten Klavierwerken aufgenommen hat.

Stellen Sie sich ein Konzert vor, das den historischen Bogen aller Kompositionen spannt, die auf diesen Werken basieren. Ein solches Programm enthielte eine Folge von Bachs eigenen Fugen für Klavier, Mozarts Versionen für Streichquartett, in denen man den Kontrapunkt zwischen den Stimmen viel klarer hören kann, gefolgt von Clara Schumanns Fugen auf der Grundlage von Bachs Themen, mit ihrer eigenen Entwicklung. Ein wahrer Dialog zwischen Meistern und ein wunderbares Beispiel für das, was Lyndon LaRouche und andere als „Gleichzeitigkeit in der Ewigkeit“ bezeichnet haben, in der die Menschheit in der physischen Raum-Zeit und in der Ewigkeit zu einer Einheit wird!

Auf diese Fugen Claras nach Bach-Themen folgten sogleich drei weitere Fugen auf der Grundlage von Themen, die Robert für sie erdacht hatte.61 Er war so stolz auf Claras musikalische Entwicklung, daß er dafür sorgte, daß drei ihrer Fugen gedruckt wurden - als Überraschung zu ihrem Geburtstag am 13. September, wie er dem Verlag Breitkopf und Härtel schrieb. In einem früheren Brief an den Verleger C.F. Peters schrieb er, Clara sei möglicherweise die erste Frau, die „in diesem schwierigen Genre“ komponiert habe. Sie erschienen als ihr op. 16, einschließlich der Präludien, die sie jeweils vor die Fugen gesetzt hatte.

Nur wenige Monate zuvor hatte Clara ihr größtes Werk vollendet, ihr viersätziges Klaviertrio op. 17.62 Die Durchführung des letzten Satzes ist ein Fugato (eine kurze fugenartige Themenentwicklung innerhalb eines Stückes, das keine Fuge ist). Sie schrieb: „Es geht doch nichts über das Vergnügen, selbst etwas komponiert zu haben und dann zu hören“, obwohl sie nicht glaubte, daß sie das Niveau ihrer männlichen Kollegen erreicht habe: „Natürlich bleibt es immer Frauenzimmerarbeit, bei denen es immer an Kraft und hie und da an der Erfindung fehlt.“63

Trotzdem war ihr guter Freund Mendelssohn sehr beeindruckt von ihren Leistungen, und viel später schrieb ihr der große Geiger Joseph Joachim:

„Hätte ich dafür lieber Ihr Trio hören können; ich entsinne mich eines Fugato im letzten Satz -- und daß Mendelssohn einmal ... großen Spaß darüber hatte, daß ich's nicht glauben wollte, eine Frau könne so etwas komponieren, so ernst und tüchtig!“64

Es sollte ihre einzige Komposition dieses Umfangs und dieser Qualität bleiben. Vorrang hatten für sie Roberts Kompositionsarbeit65 und nach seinem Tode die Versorgung ihrer vielen Kinder durch Musikunterricht und später durch die Wiederaufnahme ihrer Konzertkarriere, daher blieb sie in der weiteren Entwicklung ihres eigenen kompositorischen Ausdrucks zurück.66 Aber sie hatte von der Süßigkeit ihrer kreativen Kräfte gekostet. Nach ihrem letztem Werk, op. 2367, 1853 komponiert, schrieb sie: „Es geht doch nichts über das Selbst produzieren, und wäre es nur, daß man es täte, um diese Stunden des Selbstvergessens, wo man nur noch in Tönen atmet.“ 68

Ihre Einsicht in die Kompositionskunst war äußerst wichtig für ihren Ehemann, aber auch für Johannes Brahms, der ihr fast alle seine Werke schickte, um ihre Meinung einzuholen, weil er ihr Urteil hoch achtete. Sie und Brahms editierten auch die Ausgabe der Werke Robert Schumanns.

Die Johannespassion

Robert Schumann förderte Bachs Erbe nicht nur durch seine eigenen Kompositionen, sondern auch auf andere Weise. 1849 enthüllt er in einem Brief, daß er eine Konzertgesellschaft dafür gewonnen habe, die vergessenen Werke Bachs und anderer aufzuführen: „Auch ich habe seit etwa Jahresfrist viel Freude an einem solchen Verein. Da erhole ich mich an Palestrina und Bach und anderen Sachen, die man sonst nicht zu hören bekommt.“69 Im selben Brief vergleicht er Bachs Johannespassion und Matthäuspassion und schreibt, er halte die Johannespassion für „um Vieles kühner, gewaltiger, poetischer als die nach Matthäus... wie gedrängt, wir durchaus genial, namentlich in den Chören, und von welcher Kunst?“69

Es erinnert daran, wie Felix Mendelssohn 1829 Bachs Matthäuspassion wiederbelebte, daß Schumann im April 1851 die erste Aufführung der Johannespassion außerhalb der meist evangelischen Leipziger Kirchen im vorwiegend katholischen Düsseldorf organisierte. In einem Brief, den er schrieb, um für dieses Werk zu werben, bezeichnete Schumann die Johannespassion als einen „über hundert Jahre wohl vergrabenen Schatz“ und sagt, es wäre „wünschenswert, das auch in weiteren Kreisen davon bekannt würde... Die gestrige Aufführung war die erste größere, die überhaupt je von dem Werk stattfand. Die Matthäuspassion ist hier und da aufgeführt (in Berlin und Leipzig, auch Breslau glaub’ ich), die Johannispassion nur einige Male in Leipzig vom Thomanerchor und dann auch nicht vollständig und überhaupt nur in kleinerer Aufführung. Daß die Aufmerksamkeit der deutschen Kunstwelt auf dieses, eins der tiefsinnigsten und vollendetsten Werke Bachs hingelenkt würde, dazu möchte auch ich beitragen.“70

Die historische Bedeutung dieser Aufführung lag darin, daß sie wesentlich dazu beitrug, Bachs sakrale Musik in die Konzertsäle zu holen, um dieses großartige Werk allen Musikliebhabern unabhängig von Glauben und Konfession zugänglich zu machen. Im Januar jenes Jahres kontaktierte er den Kantor der Leipziger Thomaskirche, deren Musikdirektor Bach 27 Jahre lang gewesen war, um dort die Orchesterstimmen auszuleihen und aufführungspraktische Hinweise zu holen. An der Aufführung wirkten wahrscheinlich 180-200 Sänger mit, darunter 50 Knaben, die die Choräle sangen.

Schumanns eigene Notizen als Dirigent, in denen er die Tempi, Wechsel der Lautstärken und seine Handhabung der Continuo-Abschnitte festhielt, sind auf den Seiten der Partitur, die er für diese Aufführung verwendete, erhalten geblieben. Dort kann man auch sehen, wie er damit umging, daß einige der geforderten Instrumente, wie z.B. die Viola da Gamba, nicht mehr in Gebrauch waren. Der frühere Direktor des Schumann-Hauses im Geburtsort Zwickau entdeckte in Schumanns Skizzen71, daß Schumann eigene Arrangements für die Blasinstrumente schrieb.72

Bachiana

Schumann nutzte auch seine Feder, um für Bach zu werben. In seiner Neuen Zeitschrift für Musik forderte er wiederholt eine Gesamtausgabe der Werke Bachs, und er diskutierte mit Mendelssohn darüber, nach welchen Grundsätzen eine solche Gesamtausgabe zusammengestellt werden müßte.

Noch 1852 schrieb Schumann an seinen Verleger und bat ihn um Noten von Barock-Kompositionen, um seine Kenntnisse dieser Werke zu vertiefen. Ende 1852 und 1853, als sich schon die Symptome seiner Nervenkrankheit zeigten, die letztlich dazu führte, daß er drei Jahre später in einer Nervenheilanstalt starb, war eine seiner letzten kreativen Leistungen ein Projekt, das er als „Bachiana“ bezeichnete: Er schrieb Klavierbegleitungen zu den sechs Sonaten Bachs für Violine solo und zu Bachs sechs meisterhaften Cello-Sonaten, gefolgt von Schumanns eigenen Fughetten für Klavier, op. 126.73 Er schrieb auch eine Begleitung zu Bachs berühmtem Meisterwerk für die Violine, die Chaconne.

Der letzte Satz

Wir haben gesehen, wie Bach die Schumanns, und vor allem Robert, durch ihr ganzes kreatives Leben hindurch begleitete. Bachs verschiedene Kompositionen und die kreativen Kompositionsprinzipien dahinter - der treibende Faktor in dem Erzeugungsprozeß, der diese einzelnen meisterhaften Kunstwerke hervorbrachte - waren eine ständige Quelle der Inspiration, aus der Robert und Clara tranken.

Auch heute in unserer Zeit stellt sich, wiewohl die großen klassischen Komponisten aus der Linie, die von Bach ausging, schon lange im Grab ruhen, ebenso wie für Robert und Clara die Frage: Kehren wir zu dieser Quelle der Kreativität zurück? Werden junge Menschen in unseren Tagen wieder ihre kreative Inspiration von Bach und seinen geistigen Nachkommen beziehen, damit wir wieder die große Freude erleben können, erstmals neue musikalische Meisterwerke zu hören, die unsere Seelen zu bewegen vermögen wie sonst nichts unter den Schöpfungen des Menschen?

Epilog

Schumann und Mendelssohn sprachen einmal über ein gerade neu entwickeltes Teleskop. Schumann berichtet: „Als ich ihm von dem großen ,Fernrohr’ mitteilte, und einer Bemerkung, die ich wo gelesen, daß wir auf unserer Erde den höheren Sonnenbewohnern, beobachteten sie uns durch ein Fernrohr, etwa wie Milben auf einem Käse erscheinen müßten [antwortete Mendelssohn:] ,Ja aber das wohltemperierte Klavier würde jenen doch wohl einigen Respekt einflößen.’“74

Vielleicht wird die inzwischen ein Jahr alte Weltraumsonde Kepler, die nach erdähnlichen Planeten sucht, eines Tages irgendwo da draußen im großen Universum Leben finden, und feststellen - daß sie Bachs Musik spielen!

 

(Die Autorin freut sich auf Ihre Fragen oder Kommentare. Sie erreichen Michelle Rasmussen unter si@schillerinstitut.dk. Auf der Internetseite des dänischen Schiller-Instituts, www.schillerinstitut.dk/drupal/schumann, finden Sie (in englischer Sprache) mehrere Anhänge zu diesem Artikel.)


Anmerkungen:

42. Wasielewski.

43. Litzmann, Clara Schumann - ein Künstlerleben, Leipzig 1905, Zweiter Band, S. 131.

44. Wasielewski.

45. Schumann, Tagebuch II 1846, S. 402.

46. 10. Mai 1852, zitiert nach Wasielewski.

47. Daverio, S. 305-306.

48. Wolfgang Boetticher, Robert Schumann, Einführung in Persönlichkeit und Werk, Berlin 1941, S.227.

49. Polyphon bedeutet, daß mehrere Stimmen kontrapunktisch miteinander verwoben sind.

50. Robert Schumann, Werke für Orgel oder Pedalklavier, Hg. Gerhard Weinberger, G. Henle Verlag, München.

51. Schumann selbst schrieb, er sei in einer depressiven Stimmung gewesen, als er die ersten beiden Sätze dieser Sinfonie schrieb, und habe sich erst wieder gesund gefühlt, als er das Finale schrieb. Der Prozeß der kreativen Konzentration, der notwendig ist, um eine Sinfonie zu schreiben, half ihm, seine geistige Gesundheit wieder herzustellen.

52. Man höre z.B. George Szells Version auf YouTube: http://www.youtube.com/watch?v=_Y0qFrngw_k.

Die Noten zu dieser Sinfonie finden Sie kostenlos ebenfalls im Internet beim International Music Score Library Project: http://imslp.org/wiki/Symphony_No.2,_Op.61_(Schumann,_Robert)

53. Die Noten für diese Arie finden Sie ebenfalls im International Music Score Library Project: http://imslp.org/wiki/St._Matthew_Passion_BWV_244_(Bach,_Johann_Sebastian)#Selections

54. Ostwald, Peter F., Schumann: The Inner Voices of a Musical Genius, Northeastern University Press, Boston 1985, S. 205.

55. Ab dem Buchstaben „O“ im Notentext.

56. Auch von diesem Satz finden Sie mehrere Aufführungen auf YouTube.

57. Alan Walker, Frank Cooper, Robert Schumann, the Man and his Music, S. 299

58: Auszug aus Lehrbuch der Fugenkomposition, zitiert nach Boetticher.

59. Eine interaktive Darstellung der verschiedenen Prinzipien des kontrapunktischen Wandels finden Sie im Internet (in englischer Sprache) in dem Aufsatz der Autorin, The Musical Offering, A Musical Pedagogical Workshop by J.S. Bach, or The Musical Geometry of Bach's Puzzle Canons unter www.schillerinstitut.dk/moweb/musical_offering.htm

60. Anti-entropisch ist ein Begriff, der von Lyndon LaRouche eingeführt wurde, um darzustellen, daß unser Universum und insbesondere die Entwicklung einer gesunden menschlichen Gesellschaft ganz und gar nicht zu einem toten Gleichgewicht oder Zusammenbruch tendiert, also das Gegenteil von entropisch ist.

61. Sie schrieb damals außerdem ihr Präludium und Fuge in fis-Moll (Reich, S. 230).

62. Reich, S, 244.

63. Zitiert nach Litzmann, S. 140.

64. Joseph Joachim, Briefe 2: 79, zitiert nach Reich S. 299.

65. Robert Schumann schrieb darüber 1843: „Klara hat eine Reihe von kleineren Stücken geschrieben, in der Erfindung so zart und musikreich, wie’s ihr früher noch nicht gelungen. Aber Kinder haben und einen immer phantasierenden Mann, und komponieren geht nicht zusammen. Es fehlt ihr die anhaltende Übung, und dies rührt mich oft, da so mancher innige Gedanke verloren geht, den sie nicht auszuführen vermag.“ (Reich, S. 298-299).

66. Eines ihrer letzten Werke, das sie 1853 schrieb, waren die Variationen auf ein Thema von Robert Schumann, op. 20. (Reich, S. 112).

67. Sechs Lieder aus „Jucunde“ von Hermann Rollett.

68. Zitiert nach Litzmann, S. 274.

69. Briefe, S. 300-301, an Direktor Georg Dietrich Otten, 2. April 1849. Hier schreibt Schumann auch: „Aber den einzeln verstreuten wahren Kunstmenschen muß ja auch etwas aufbewahrt bleiben. So ists mit Palestrina, Bach, mit den letzten Beethovenschen Quartetten etc.“ Ein weiteres Indiz, wie sehr er Bach und auch die späten Werke Beethovens schätzte, findet man in einem Brief, den Schumann 1849 an Franz Liszt schrieb, nachdem es zu einer Auseinandersetzung wegen herabsetzender Äußerungen Liszts über Mendelssohn bei einem Musikabend in Schumanns Haus gekommen war: „Und wahrlich, sie waren doch nicht so übel, die in Leipzig beisammen waren - Mendelsohn, Hiller, Bennett u.a. - mit den Parisern, Wienern und Berlinern konnten wir es ebenfalls auch aufnehmen. Gleicht sich aber mancher musikalische Zug in dem, was wir komponiert, so nennen Sie es Philister oder wie sie wollen - alle verschiedenen Kunstepochen haben dasselbe aufzuweisen, und Bach Händel und Gluck, später Mozart Haydn und Beethoven sehen sich an hundert Stellen zum Verwechseln ähnlich (doch nehme ich die letzten Werke Beethovens aus, obgleich sie wieder auf Bach deuten). Ganz original ist keiner. So viel über Ihre Äußerung, die eine ungerechte und beleidigende war. Im übrigen vergessen wir des Abends - ein Wort ist kein Pfeil - und das Vorwärtsstreben ist die Hauptsache.“ Brief an Franz Liszt vom 31. Mai 1849, Briefe, S. 305

70. Brief Robert Schumanns an Wolfgang Müller von Königswinter, Düsseldorf, 14. April 1851, zitiert nach Paul Luchtenberg, Wolfgang Müller von Königswinter, Köln 1959, Bd. I, S. 269.

71. Dr. Gerd Neuhaus fand sie unter Schumanns Skizzen für das Oratorium Der Rose Pilgerfahrt.

72. Das Material für diesen Abschnitt stammt aus: Matthias Wendt, „Bach und Händel in der Rezeption Robert Schumanns“, Referat, gehalten am „Tag der mitteldeutschen Barockmusik 2001 in Zwickau“.

http://www.schumann-ga.de/freie-texte/86-bach-und-haendel-in-der-rezeption-robert-schumanns.html.

73. Wasielewski. Schumanns Begleitungen für Bachs Violoncello-Sonaten waren noch nicht veröffentlicht, als Wasielewskis Buch entstand.

74. Robert Schumann, „Aufzeichnungen über Mendelssohn“, Musikkonzepte 14-15, S. 103.

Lesen Sie hierzu bitte auch:
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