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Von Katarzyna Kruczkowski
Die folgende Rede wurde in einer Veranstaltung am 22. Februar in Zürich gehalten.
Uns begegnen immer wieder Menschen, die uns verwundert die Frage stellen, warum das Schiller-Institut der klassischen Kultur einen so hohen Stellenwert einräumt, und das inmitten der größten Krise der Menschheitsgeschichte.
Ich werde gleich darauf eingehen, daß der Hauptgrund, warum sich die Menschheit in dieser Krise befindet, in der Abkehr von den Prinzipien liegt, auf denen die klassische Kunst beruht.
Heute - und insbesondere von jungen Menschen - wird auf die Klassik geblickt als eine Epoche von vielen, wie das Altertum, Gotik, Romantik, Neuzeit, die Moderne usw.
Wie ist die Weimarer Klassik überhaupt entstanden?
Was das Werk der „klassischen“ Dichter angeht, ist es nur ein Ausdruck eines Kampfes um die Wahrheitssuche, der seit Beginn der Menschheitsgeschichte besteht.
Ich werde auf die Frage gleich wieder zurückkommen, weil sie sehr viel mit einer zweiten Frage zu tun hat, die sich jeder irgendwann mal gestellt hat - oder sich immer wieder stellt:
Kann die Menschheit sich überhaupt bessern? Gibt es Hoffnung, daß sich eine Kultur auf einen höheren Stand entwickelt? Oder ist es ein unverbesserlicher, naiver Idealismus, so zu denken? Kann die Menschheit den kulturellen Sprung machen, um mit solchen echten Herausforderungen, wie den Gefahren aus dem Universum, umzugehen?
Man hört es überall: Der Mensch ist getrieben von niederen Leidenschaften: Gier, Eifersucht, Neid, Eigeninteresse usw. - und in der Machtposition am allermeisten!
Ist es nicht auch das Bild, was sich uns tagtäglich in den Erfahrungen im Alltag zeigt, bei all dem, was heute in der Welt vor sich geht: eine sich zuspitzende Kriegsgefahr; drohende Hyperinflation; was in Griechenland vor sich geht, ist Völkermord; in Spanien werden immer mehr Menschen in die Verzweiflung getrieben; 50 Millionen Amerikaner wären ohne Nahrungsmittelmarken nicht überlebensfähig; und täglich sterben überall auf der Welt zig Kinder an Hunger. Verhungern ist eine der grausamsten Arten des Sterbens.
Aber was hören wir? „Oh, dieses Leid laß ich gar nicht an mich ran!“ „Ich schalte den Fernseher bei Nachrichten gleich aus! - Das kann man doch keinem zumuten!“ „Was soll ich denn schon ausrichten?“
Hätten wir nicht allen Grund, aufzugeben? Wenn der zahlreichere Teil der Menschheit es eigentlich besser weiß, die Technologien bestehen, um dieses Leid abzuwenden, und nichts unternommen wird, man lieber von menschengemachten Naturkatastrophen spricht, Überbevölkerung und dem Fußballergebnis?
In den ästhetischen Briefen hatte Friedrich Schiller das zu seiner Zeit sehr treffend formuliert:
„Mitten im Schoße der raffiniertesten Geselligkeit hat der Egoism sein System gegründet, und ohne ein geselliges Herz mit heraus zu bringen, erfahren wir alle Ansteckungen und alle Drangsale der Gesellschaft. Unser freies Urteil unterwerfen wir ihrer despotischen Meinung, unser Gefühl ihren bizarren Gebräuchen, unsern Willen ihren Verführungen; nur unsre Willkür behaupten wir gegen ihre heiligen Rechte. Stolze Selbstgenügsamkeit zieht das Herz des Weltmanns zusammen, das in dem rohen Naturmenschen noch oft sympathetisch schlägt, und wie aus einer brennenden Stadt sucht jeder nur sein elendes Eigentum aus der Verwüstung zu flüchten. Nur in einer völligen Abschwörung der Empfindsamkeit glaubt man gegen ihre Verirrungen Schutz zu finden, und der Spott, der den Schwärmer oft heilsam züchtigt, lästert mit gleich wenig Schonung das edelste Gefühl. Die Kultur, weit entfernt, uns in Freiheit zu setzen, entwickelt mit jeder Kraft, die sie in uns ausbildet, nur ein neues Bedürfnis; die Bande des Physischen schnüren sich immer beängstigender zu, so daß die Furcht, zu verlieren, selbst den feurigen Trieb nach Verbesserung erstickt und die Maxime des leidenden Gehorsams für die höchste Weisheit des Lebens gilt. So sieht man den Geist der Zeit zwischen Verkehrtheit und Rohigkeit, zwischen Unnatur und bloßer Natur, zwischen Superstition [Aberglauben] und moralischem Unglauben schwanken, und es ist bloß das Gleichgewicht des Schlimmen, was ihm zuweilen noch Grenzen setzt.“
Wie Sie sehen, ist der moralische Verfall in einer Gesellschaft nicht selten in der Geschichte.
Mit der Frage der Menschheitserziehung haben sich viele beschäftigt. Ein ganz bemerkenswerter Kreis von Menschen hat z.B. Mitte des 18.Jahrhunderts gelebt; mit ihren Werken und Briefwechseln haben sie die nächsten Generationen, allen voran Friedrich Schiller, inspiriert und zu dem beigetragen, was man heute als Klassik bezeichnet:
Lessing und Mendelssohn haben in einem Briefwechsel mit dem Verleger Nicolai sich damit beschäftigt, welche Rolle die Tragödie und Komödie dabei spielen.
Darin gehen sie auf die Kräfte, die auf die Seele wirken, ein und diskutieren, ob und wie diese in der Kunst zu nutzen sind, um den Menschen besser zu machen. Daß die Kunst, also das Theater eingeschlossen, eine erzieherische Aufgabe hat, ist nichts neues gewesen, aber gerade dem gehen sie wissenschaftlich auf dem Grund, und worin sie sich alle einig waren, ist, was Lessing hervorhob: daß die Tragödie „unsere Fähigkeit, Mitleid zu fühlen, erweitern muß. Wer uns also mitleidig macht, macht uns besser und tugendhafter.“ Den mitleidigsten Menschen hält er für den besten.
Was ist heute die „Aufgabe“ bzw. das Ziel der Kultur?
Sich aus der Realität ausklinken, den Phantasien freien Lauf lassen - Phantasien und Träume, die übrigens von Hollywood und anderen Denkfabriken geprägt werden - wie die gesetzten Schönheitsideale usw. usf.
Es geht ja schon lange nicht darum, unser „freies Urteil“ zu bilden, unser Gefühl für das Schöne und Wahre empfänglicher zu machen und unseren Willen gegen äußere Eindrücke zu bewahren. Und schon gar nicht, das Menschliche in uns zu rühren, zu bewegen und das Menschliche in anderen gewahr zu werden.
Aber gerade das war in Zeiten des Fortschritts, der Entwicklung, wie der Renaissance, der Weimarer Klassik usw. Leitgedanke, Inhalt und Form der Kultur.
„Da, wo der Charakter erschlafft, und sich auflöst, da wird die Wissenschaft zu gefallen und die Kunst zu vergnügen streben“, sagte Schiller einst, und das sehen wir in der Geschichte überall da, wo Degeneration, Verfall der Sitten herrschte, und das ging einher mit dem wirtschaftlichen Rückschritt.
Schiller knüpfte direkt an die Arbeit von Lessing, Mendelssohn an und entwickelte sie weiter. Er schreibt in seinen ästhetischen Briefen, daß der Weg zum Kopf durch das Herz geöffnet werden muß, und das sei die Ausbildung des Empfindungsvermögens, die Veredlung des Charakters.
Dazu stellt er zusammen mit Goethe sehr hohe Anforderungen an die Kunst und dem Künstler - diese gelten nicht allein für die „klassischen Werke“, sondern sind universal entdeckte Prinzipien, die immer gelten, egal in welcher nachgehenden „Epoche“.
Indem man diese Entwicklungen und Entdeckungen aus der Kultur genommen hat, ihre Regeln auf eine bestimmte Literaturrichtung begrenzt oder verwässert, hat man die Menschheit um mehr als zwei Jahrhunderte zurückgeworfen - und wenn ich mir die heutigen Zustände unserer Zivilisation ansehe, bin ich versucht, zu behaupten, daß es weit mehr als zwei Jahrhunderte sind.
Um so wichtiger ist es, den Menschen dieses Kulturgut wieder zugänglich zu machen; und damit meine ich nicht die Veröffentlichung und Verbreitung, denn diese Werke sind physisch zugänglich, vielleicht nicht in allen Buchhandlungen, aber man kann sie finden und lesen und studieren. Mit zugänglich meine ich also etwas anderes:
Und darauf konzentriert sich unsere Arbeit mit diesen Werken, in Studiengruppen, Schillerfesten und anderen Veranstaltungen. Auch die kommende Konferenz des Schiller-Instituts Mitte April wird einen wichtigen Beitrag dazu leisten, und es gibt eine wachsende Anzahl vor allem junger Menschen, die sich fleißig vorbereiten, weil sie eine besondere Kreativität und Leidenschaft in sich entdeckt haben, die sie weitertragen und verbreiten möchten. Sie wollen dem Anspruch Schillers an einen Künstler gerecht werden. Das vollkommenste aller Kunstwerke nennt Schiller ja „den Bau einer wahren politischen Freiheit“.
Abgesehen von seinen vielen phantastischen philosophischen Werken benutzte Schiller, inspiriert von Lessing, das Theater als Bildungsanstalt. Lessing kritisierte sein Zeitalter, das „aus Menschen Maschinen“ mache, und teilte dem Dichter die Aufgabe zu: „aus diesen Maschinen wieder Menschen zu machen“. Schiller griff diese Idee der ästhetischen Erziehung auf und schrieb selbst ein Fülle philosophischer Werke, die ästhetischen Briefe, Über Anmut und Würde oder Die Schaubühne, als moralische Anstalt betrachtet, worauf ich jetzt in diesem Rahmen nicht näher eingehen kann. Aber sehr lesenswert!
Schiller schrieb eine ganze Reihe von Dramen, darunter Don Carlos, Maria Stuart, Wallenstein, Die Jungfrau von Orleans und natürlich Wilhelm Tell.
Ich möchte das Beispiel des Wilhelm Tell herausnehmen - aus offensichtlichen Gründen. Ich nehme an, daß Sie alle mit dem Stück vertraut sind?
Es stellt außerdem ein sehr schönes Beispiel dar, wie Schiller in einem historischen Geschehen das Erhabene zur Grundlage für das Handeln macht. Das ist es, worauf wir gerade junge Menschen hinweisen, inspirieren und provozieren, diese andere Dimension selbst zu entdecken. Es handelt sich schließlich nicht nur um eine nette kleine Geschichte in der Schweiz. Es handelt sich ja um die gerechte Rebellion der Schweizer gegen die tyrannische Herrschaft der Landvögte. In dem weltberühmten Rütlischwur drücken sie ihren Kampfgeist deutlich aus: „Nein, eine Grenze hat Tyrannenmacht!“
Tell wird in eine tragische Lage gebracht von dem Landvogt (Apfelschuß), wird gefangengenommen, es gelingt ihm die Flucht, aber er muß aus den vorhergegangenen Szenen realisieren, daß die Rache des Landvogts Gessler so sicher ist wie das Amen in der Kirche. Um sich und vor allem seine Familie davor zu schützen, bleibt nur der Tod des Tyrannen.
Diese Entscheidung fällt ihm nicht einfach. Diesen inneren Kampf drückt Schiller in dem auch sehr bekannten Monolog Tells aus - die Szene, in der er dann am Schluß den Vogt erschießt.
Die Entwicklungen, einerseits mit den Bürgern, die sich immer mehr organisieren, angefangen mit dem Rütli-Schwur, und die in immer mehr Menschen den Widerstandsgeist wecken, und andererseits Tell, der anfangs ganz „unpolitisch“ war und in der reinen Selbstverteidigung sozusagen den Tyrannenmord vollzog und zum Nationalhelden wurde.
Aber wäre das möglich gewesen ohne die breite Mobilisierung in der Bevölkerung?
Denken wir an die erste Szene des Stückes. Erinnern Sie sich an die friedliche Idylle: der Fischerknabe, der Hirte, und dann das Aufziehen eines Gewitters und das Erscheinen eines verzweifelten, nach Hilfe suchenden Baumgarten, der zum Schutz seiner Frau den Vogt tötete, aber anstatt die Ungerechtigkeit beseitigt zu haben, mußte er fliehen. Und jeder, der ihm zu Hilfe kam, wurde aufs Schlimmste bestraft.
Wie würde der heutige Leser nach dieser ersten Szene denken?
„Hab ich doch gleich sagen können! Die da oben kann man nicht besiegen! Jeder Widerstand macht die Umstände nur noch schlimmer! Lieber seinen persönlichen Vorteil suchen und mitschwimmen!“
Hört man das nicht auch oft im Gespräch mit Menschen, die basierend auf einem schlechten Menschenbild zum Ausdruck bringen, jeder müsse irgendwie zusehen, wie er vorankommt, seine Schäfchen ins Trockene bringt? Nun, in allen Diktaturen, in allen Sklavensystemen der Menschheitsgeschichte gab es Menschen, die auf Kosten ihrer eigenen Würde, ihrer Menschlichkeit, sich in das herrschende System integrierten, und viele, die es gar bis zum Ende verteidigten, weil das mutige Herz fehlte! Die sogenannten Mitläufer, die Sklavenaufseher, die selbst Sklaven waren, die Stasi-Zuträger in der DDR oder die heutigen „kleine Fische“ im Finanzsystem, auch mancherorts als Politiker bezeichnet.
Um also eine echte Veränderung zu bewirken, muß sich die Geometrie der Lage verändern, indem eine höhere Idee, ein universelles Prinzip eingeführt wird. Dies erfolgte dann mit der Zusammenkunft einiger weniger mutigen Schweizer und ihrem Rütli-Schwur. Die Schweizer Unabhängigkeitserklärung - darin wird das universelle Prinzip der Gerechtigkeit und des Menschenrechts ausgedrückt, und wie von da aus dieses Prinzip und Selbstverständnis andere inspirierte, mobilisierte und mutig machte.
Man darf nicht vergessen, wie die europäischen Humanisten begeistert waren von der Amerikanischen Revolution und wie sehr Schiller damals als 17- oder 18jähriger davon geprägt war - er, der ja selbst unter der Tyrannenmacht des Herzogs Karl von Eugen in Stuttgart sehr zu leiden hatte, aber überzeugt war, daß die Möglichkeit in Europa besteht, solche republikanische Bewegungen zu entfachen.
Wenn man sich die ganzen Dramen und Dramenfragmente wie Demetrius ansieht: Alle spielen sich in anderen Ländern Europas ab, fast so, als ob Schiller jedem Volk einen Weg zur Befreiung aus der Oligarchie weisen wollte.
Er wollte aber keine Französische Revolution; das erkennt man in der vorletzten Szene, die wahrscheinlich nicht nur aus Spargründen in vielen der heutigen Aufführungen weggelassen wird. Der Neffe des Kaisers, Parricida, bringt seinen Onkel um, weil dieser ihm mit der Enterbung gedroht hatte, und flüchtet nun zu Tell in der Hoffnung, sich mit diesem zu verbünden. Angewidert schickt Tell ihn weg.
Entscheidend sind die zugrundeliegenden Emotionen, die Intention einer Handlung bin hin zum Mord: Es gilt zu untersuchen, auf welche Prinzipien sie gegründet ist. Es wird klar, daß Tells Tat nicht zum Freibrief für den Jakobinerterror der Französischen Revolution wird, sondern eine Notwehrhandlung war.
Auch heute sind beherzte, mutige Menschen notwendig, um die Geometrie der Lage zu verändern.
Es wird nicht die Mehrheit sein, die diese Qualität aufbringen wird, aber die Mehrheit war es auch nie, die entscheidend Geschichte beeinflußt hat. Es sind nur wenige. Warum?
Die meisten Menschen nehmen nicht die Mühe auf sich, sich damit zu beschäftigen, ihre Leidenschaften und ihre Vernunft in Harmonie zu entwickeln und sich damit als souveräne Persönlichkeit, als Individuum und Gattung zugleich wahrzunehmen. Es ist einfacher, das Handeln davon abhängig zu machen, wie andere reagieren, aus Angst, Unsicherheit und Bequemlichkeit.
Oder wie Schiller es vorhin ausdrückte: Die Angst, zu verlieren, erstickt den feurigen Trieb nach Verbesserung.
Doch die Erkenntnis wird kommen, daß die Zivilisation gerade dabei ist, alles zu verlieren, wenn die notwendigen Schritte nicht unternommen werden. Selbst dieser größere Teil der Menschheit wird sich mit der Zeit inspirieren lassen und dem neuen Paradigma folgen. Zuallererst muß aber die Arbeit von den wenigen mutig und schnell verrichtet werden. Die Prinzipien aus dem Rütli-Schwur sind universell gültig, für jedes Zeitalter und für jedes Volk und werden das neue Paradigma einleiten.
Ich möchte mit einem letzten Zitat von Friedrich Schiller enden:
„Der reine moralische Trieb ist aufs Unbedingte gerichtet, für ihn gibt es keine Zeit, und die Zukunft wird ihm zur Gegenwart, sobald sie sich aus der Gegenwart notwendig entwickeln muß. Vor einer Vernunft ohne Schranken ist die Richtung zugleich die Vollendung, und der Weg ist zurückgelegt, sobald er eingeschlagen ist. Gib der Welt, werde ich dem jungen Freund der Wahrheit und Schönheit zur Antwort geben, der von mir wissen will, wie er dem edeln Trieb in seiner Brust, bei allem Widerstande des Jahrhunderts, Genüge zu tun habe, gib der Welt, auf die du wirkst, die Richtung zum Guten, so wird der ruhige Rhythmus der Zeit die Entwicklung bringen. Diese Richtung hast du ihr gegeben, wenn du, lehrend, ihre Gedanken zum Notwendigen und Ewigen erhebst, wenn du, handelnd oder bildend, das Notwendige und Ewige in einen Gegenstand ihrer Triebe verwandelst. Fallen wird das Gebäude des Wahns und der Willkürlichkeit, fallen muß es, es ist schon gefallen, sobald du gewiß bist, daß es sich neigt; aber in dem innern, nicht bloß in dem äußern Menschen muß es sich neigen.“