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Neue Solidarität
Nr. 7, 16. Februar 2017

Wie man die französische Industrie erneuern kann

Von Jacques Cheminade

Jacques Cheminade bewirbt sich in diesem Jahr erneut für die französische Präsidentschaft. Einer seiner Hauptprogrammpunkte ist, neben der Kooperation mit Rußland, China und der Neuen Seidenstraße, die Erneuerung Frankreichs als moderne Industrienation. Er hat diese Frage in einem seiner regelmäßigen Bürgerforen erläutert; im dritten „Dialog mit der Nation“ am 25. November 2015 fragte ihn ein Hörer, was er zur Rettung der französischen Industrie vorschlage. Hier ist seine Antwort:

Es ist wahr, daß wir dabei sind, unsere Industrie zu verlieren. Von einem Anteil von mehr als 20% am Bruttoinlandsprodukt vor 40 Jahren ist ihr heutiger Anteil auf ungefähr 10-12% gefallen.

Frankreich wird zu einem Land der Dienstleistungen und des Tourimus. Ich habe mich mit vielen Bürgermeistern getroffen, die mir sagten: „Wir lassen uns hier viel einfallen, um Touristen anzuziehen.“ Überall, auch in Regionen ohne Tourismus, gibt es jetzt ein Schwimmbad, eine Mediathek, Kanus und Kajaks, um flußabwärts zu paddeln oder sich auf anderen Gewässern fortzubewegen. Es gibt so viel davon, daß man gar nicht mehr weiß, welcher Sache man sich als erster widmen soll. Es entsteht eine Gesellschaft, die nicht mehr mit beiden Beinen auf dem Boden der Güterproduktion steht. Die eigentliche Frage ist nicht, daß die Industrie verschwindet, sondern daß es keine Gesellschaft mehr gibt, der die Produktion von Gütern etwas bedeutet.

Der zweite Faktor, der mit dem ersten zusammenhängt, ist der, daß die Finanziers kein Geld mehr zu riskieren brauchen, wie es bei einer langfristigen Industrieinvestition der Fall ist. Früher gab es Michelin, Peugeot usw. Ich will sie gar nicht auf einen Sockel heben, aber zumindest dachten sie langfristig und kümmerten sich um ihre zwar abhängig beschäftigten, aber gut bezahlten Arbeiter, und sie arbeiteten für die Zukunft. Clermont-Ferrand1 und die konfliktgeladenen Beziehungen Michelins zu den gewählten Politikern kenne ich ganz gut. Der beste Freund meines Vaters war niemand anderes als der sozialistische Bürgermeister der Stadt. Seine Beziehung zu Michelin war der Klassenkampf, aber alle teilten die gleiche Idee des Fortschritts, gewiß mehr oder weniger gerecht, aber jedenfalls des Fortschritts.

Heutzutage sind die, die dort das Sagen haben - die Arnaults, Pinaults und andere dieser Art -, keine Industriellen. Sie sind Finanziers, die in Begriffen von Finanziersmacht denken und die Industrie wie ein Nebenprodukt ihrer Finanzmacht behandeln. Und das ist durchaus nicht dasselbe. Sie denken höchstens zehn Jahre im voraus und oft noch viel weniger. Für diejenigen, die an der Börse spekulieren, geht es um ein paar Monate oder ein paar Jahre. Sie denken nicht in Begriffen der „Dynastie“, wie die Michelin oder Peugeot, die in Bezug auf industrielle Erfindungen hundert Jahre im voraus dachten und mit der physischen Wirklichkeit der Welt verbunden waren.

Auf die Finanziers trifft das nicht zu. Da heißt es vielmehr: „Laßt uns dieses Unternehmen kaufen oder die Kontrolle über jenes Start-up-Unternehmen übernehmen, es wieder verkaufen, aber nicht ohne vorher seinen Börsenkurs hochzutreiben, indem es seine eigenen Aktien zurückkauft... und sich dafür Geld leiht.“ Früher war es so, daß ein Michelin 20- bis 40mal so viel verdiente wie einer seiner Arbeiter, aber heute verdient ein großer Firmenchef, z.B. Carlos Goshn [der Vorstandsvorsitzende von Renault-Nissan], 300-400mal so viel wie einer seiner nach dem Mindestlohn bezahlten Arbeiter. Es gibt also enorme Einkommensunterschiede, die deshalb entstanden sind, weil man sehr schnell große Gewinne vorweisen muß. Und das, was man so schnell verdient hat, versucht man sich in wenigen Jahren in die Tasche zu stecken.

Dieses Problem wird noch verschärft durch die sogenannte Wirtschaft der Zukunft, den Eintritt der Wirtschaft in das digitale und Roboterzeitalter, was große Auswirkungen auf den Arbeitsmarkt haben wird. Eine in Oxford erstellte Studie und eine weitere der Roland-Berger-Stiftung sagen voraus, daß 42% der Arbeitsplätze in Frankreich und 48-52% in den Vereinigten Staaten verschwinden werden. Und zwar in den kommenden zehn Jahren. Vorausgesetzt, daß alles glatt läuft und es keinen Krieg oder Finanzkrach gibt, was ein noch größeres Chaos hervorrufen würde, wird eine Wirtschaft entstehen, in der die repetitiven Arbeitsplätze abgeschafft werden.

Ich halte die Abschaffung der repetitiven Arbeitsplätze für eine wundervolle Neuigkeit: Man wird nicht mehr diese stumpfsinnigen Aufgaben ausführen müssen, bei denen man ständig das gleiche tut. In den Supermärkten wird es kein Personal mehr geben, das als „Kassierer“ ausgebeutet wird, sondern Maschinen, die uns bedienen. Schluß also mit dem „poinçonneur des Lilas2, wenn es auch nett war, mit ihm zu diskutieren.

Freizeit, die den Namen verdient

Wo ist das Problem dabei? Das Problem ist, daß wir eine Ökonomie haben, die Arbeitsplätze vernichtet, ohne neue zu schaffen. Und auch ohne Freizeit zu schaffen, die diese Bezeichnung verdient. Man sollte sich über den Stellenwert der Freizeit Gedanken machen, um eine schöpferische Freizeit zu gestalten, mit Inspiration durch das, was Leo Lagrange unter der Volksfront schuf, oder was Malraux und Jean Villard in Nachfolge der Volksfront auf diesem Gebiet verwirklichten, indem sie dem Volk Poesie, Musik und Wissenschaft gaben!

Heutzutage ist das ganz anders, man verliert sich in Videospielen und völlig abgehobenen künstlerischen Aktivitäten. Die sollen bizarr wirken und schockieren. Da ist vielleicht ein Raum für Videokunst, in den wird ein Kamel gestellt, und daneben ein Skelett. Man durchquert den Raum auf einem Förderband und hört dabei entsetzliche Geräusche, z.B. von Maschinengewehren, und schließlich steht ein Hund vor Ihnen und bellt Sie an. - Sie sehen, ich bin gar nicht so schlecht im Erfinden von Dingen! Ich habe viel Phantasie, aber das ist nicht Kunst. Das sind Effekte, mit denen man wohl Erfolg haben kann, aber in der sich entwickelnden Wirtschaft der Zukunft brauchen wir eine Freizeit, die den menschlichen Geist erhebt.

Ich habe mich einmal mit einem Bürgermeister getroffen und mich gefragt, was ihn eigentlich an uns interessiert. Es dauerte nicht lange, da erzählte er mir, daß er viermal im Monat nach Paris fährt, um klassische Konzerte zu hören. Und siehe da, ein ganz anderer Mensch kam zum Vorschein: jemand, der in seiner Region Chöre organisiert, der sich für die Freizeitgestaltung interessiert, für Fußball und andere Aktivitäten mit Gemeinschaftsgeist. Jemand, den die Japaner nicht als „nationalen“, sondern, in seinem Fall, als „regionalen Schatz“ bezeichnen würden. Das sind die Leute, die ein Land wieder in Ordnung bringen können. Die Frage der Freizeitgestaltung sollte von diesem Gesichtspunkt aus angegangen werden.

Neue Arbeitsplätze schaffen

Für diejenigen, deren Arbeitsplätze durch digitale Verfahren und Roboter vernichtet werden, müssen neue Beschäftigungsmöglichkeiten gefunden werden, sei es in der Pflege, im Wiederaufbau der Infrastruktur oder der Entwicklung von Zukunftsindustrien sowie der Länder des Südens.

Diese Zukunft findet man auch in der Raumfahrt, wo es interessant zu sehen ist, wie intellektuelle und körperliche Arbeit sich wieder einander annähern. Ein Astronaut muß ein guter Handarbeiter sein! Man konnte das in dem Film Der Marsianer sehen, wo ein Astronaut auf der Grundlage menschlicher Abfälle Kartoffeln wachsen läßt. Gleichzeitig mit der Erfindungsgabe (das ist ein bißchen an den Haaren herbeigezogen, zugegeben!) braucht er für seine Vorgehensweise ein wissenschaftliches Herangehen: Das ist es, was wir unseren Kindern wieder geben müssen.

In Frankreich hat sich die Bewegung „La main à la pâte“ sehr dafür interessiert, wie man den Kindern dieses Prinzip der Entdeckung wieder geben kann. Sie nehmen einen Gegenstand und zeigen, wie er funktioniert. Wenn man nur sagt: „Seht, das hier ist eine Batterie“, läßt das die Kinder kalt. Wenn man ihnen aber sagt, daß das etwas ist, womit man einen Elektromotor betreiben kann, der wiederum alle möglichen Dinge in Gang setzen kann, und daß man ihnen beibringen wird, wie man das baut, dann werden sie aufmerksam. Man kann sie eine Batterie wie die von Volta bauen lassen, mit Löschpapierblättern, Apfelessig, Scheiben aus Zink und Kupfer sowie mit Salz. So entdecken sie ein Prinzip und werden „Voltarianer“, d.h. Mitglieder einer Gemeinschaft, wo Dinge entdeckt werden, die man zuvor nicht verstand.

In der Hinsicht können sich manche Leute als völlig stupide erweisen. Man nehme nur jemanden wie Claude Allègre [er war von 1997-2000 franz. Bildungs- und Forschungsminister], der sagte, es sei der Mühe nicht wert, die Prinzipien der Dampfmaschine zu verstehen, denn das sei Vergangenheit, der Beginn der Industrialisierung. Das wichtige ist aber das Prinzip! Wie wurde entdeckt, daß man die senkrechte Bewegung der Kolben dafür benutzen könnte, eine Lokomotive oder einen Mähdrescher in der Horizintale zu bewegen?

Anstatt sich also auf irgendwelche Gegenstände zu fixieren, können die Kinder Prinzipien entdecken, die zu beherrschen der Mensch fähig war. Wenn sich der Mensch nicht mehr mit diesen Prinzipien auseinandersetzt, wozu soll er denn dann leben? Schließlich sind die Bonobos sympathische Tiere, die manchmal viel lustigere Dinge als die Menschen machen. Man kommt dann zu folgendem Thema, das mit der Frage von Industrie und Landwirtschaft verbunden ist: Worin besteht der Unterschied zwischen Mensch und Tier? Bei Videospielen oder bei Flipper sind Tiere sehr erfolgreich. Die Bonobos haben sehr schnelle Reflexe.

Worin besteht also der Unterschied? Er besteht darin, daß der Mensch Prinzipien begreifen kann, während der Bonobo Techniken nur anwenden kann. Hier ist also einen Bereich, den wir für unsere Epoche klären müssen, denn heute wird beständig „wissenschaftliches Prinzip“ mit „Technologie“ verwechselt und „Entdeckung“ mit „Neuerung“. Heutzutage gibt es unaufhörlich Neuerungen, doch große Entdeckungen sind Mangelware... Fortschritt würde bedeuten, das Prinzip der Kernfusion zu meistern. Diese Entdeckung würde es möglich machen, Technologien zu entwickeln, die es dem Menschen erlauben würden, sich sehr viel einfacher im Weltraum fortzubewegen.

Das bringt uns wieder zur Frage der Industrie. Warum benutzte man am Ende des 18.Jahrhunderts den Begriff „Arts & Metiers“ (Künste und Gewerbe) und nicht „Industrie“? Weil es das Gewerbe [métier] gab, das die Kenntnis der Arbeitsweise beinhaltete, und die „Kunst“ [art], bei der es sich um die Kenntnis des wissenschaftlichen Prinzips handelte, das man beherrschen mußte, um ein bestimmtes Gewerbe auszuüben. Das bezeichnete man als „industrielle Urteilskraft“.

Das Schlimmste ist nicht der Verlust einer Industrie, sondern der Verlust des Prinzips, das es erlaubt hätte, neue Industrien zu erfinden (...).


Anmerkungen

1. In Clermont-Ferrand (Zentralfrankreich) ist der Hauptsitz von Michelin, des zweitgrößten Reifenherstellers der Welt. Im September 2015 hieß es, daß die Entlassung von 500 Beschäftigten (Ingenieure und Verwaltung) bevorstünde.

2. Titel eines bekannten Chansons von Serge Gainsbourg (1958) über den Fahrkartenknipser der Metro-Station des Pariser Vororts „Les Lilas“, der den ganzen Tag nichts anderes tut, als Löcher in Fahrkarten zu knipsen.