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Neue Solidarität
Nr. 19, 13. Mai 2021

Das Erhabene in der Tragödie oder über das „Umwenden der Seele“

Von Christa Kaiser

Wer könnte abstreiten, daß wir uns in einer Kulturkrise befinden, wofür die Korruptionsskandale in Politik, Kirche und Wirtschaft nur die Schatten sind? Ein anderes deutliches Beispiel ist die „Bewegung zur Abschaffung der Kultur“ in den USA, die sich „Cancel Culture“ nennt. Befremdet sehen wir, wie Statuen bedeutender Amerikaner vernichtet werden und das Wissen von „toten Weißen“ in den Schulen nicht mehr gelehrt werden soll. Gehört die eigene Geschichte nicht zur Seele einer Nation?

Auch bei uns treten das Internet und die Filmserien an die Stelle der humanistischen Kultur. Wo ist unsere Seele geblieben? Finden wir sie auf TikTok oder in den Filmen von Netflix, wenn eine Staffel die andere jagt und wir „dranbleiben müssen“?

Die digitalen Medien sind längst zu Tyrannen geworden, die unsere Sinne beherrschen und mit Hilfe von Algorithmen aushorchen wollen. Freimütig erklärt der Gründer von Netflix, Reed Hastings: „Wir konkurrieren mit dem Schlaf.“ Beherrschen sie also nicht nur das Denken und Empfinden, sondern auch die tiefsten seelischen Vorgänge?

Ist das nicht die „Schöne Neue Welt“ von Aldous Huxley, ein goldener Käfig, wo uns statt Freiheit Scheinfreiheit angeboten wird? Die Palette der Angebote ist vielfältig. Es locken Soaps, Krimis, Thriller oder Sexfilme. Sie konditionieren unsere Reflexe gleich Pawlowscher Hunde und stumpfen uns ab. Es ist eine Massenkultur, die uns der Kreativität und Verantwortung für die Zukunft beraubt, uns zu Barbaren macht. Schon längst sind die Gewaltvideos und die Internetsucht der Kinder zum Schreckgespenst der Eltern geworden.

Schon das Römische Reich litt unter einem ähnlichen Verfall der Sitten, wie der Hl. Augustinus etwa 400 n. Chr. beklagte. Zu seiner Zeit holte man sich die Kampfarenen, wo Tiere und Menschen geopfert wurden, nicht ins Wohnzimmer, sondern man ging selbst dorthin.

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© Wikimedia Commons/Sailko/cc-by-sa 3.0
Abb. 1: Pentheus wird von Mänaden zerrissen. Römisches Fresko von der Nordwand des Tricliniums in der Casa dei Vettii in Pompeji [oben].
Abb. 2: Büste des Solon von Athen, Farnese-Sammlung, jetzt Neapel.
Abb. 3: Das Dionysos-Theater in Athen [unten].
Illustration aus: Pierers Konversationslexikon (1891)

Er schrieb, die Jugend könne zwar sinnlich verführt und gleich den Tieren abgerichtet werden, aber den menschlichen Geist ließen die Ausschweifungen unerquickt. Man müsse daher die höhere Ebene im Menschen ansprechen: die Freude an der Tätigkeit des Geistes. Diese lasse sich nur erreichen, wenn man durch eine Art Feuerwand gehe, mit anderen Worten „der alte Adam“ überwunden würde.

Im antiken Griechenland setzte die Oligarchie auf den Kult des Gottes des Weins, Dionysos. Er stellte mit den rasenden Frauen (Mänaden) eine Gefahr für die Staatsordnung dar. Ordnungsbedrohend war das Irrationale, das ihn auszeichnete. In der dionysischen Ekstase wollte man mittels Musik, Tanz und Rauschmitteln aus der Rationalität ausbrechen; ein anderer Weg war die Sexualität. Der Phallus war das Symbol des Dionysos. In orgiastischer Tanzwut, vielleicht den Veitstänzen des Mittelalters vergleichbar, drehten sich die Mänaden wirbelnd im Tanz, bis sie berauscht in Verzückung zu Boden sanken und in höchster Verzückung ein Tier ergriffen, es in Stücke rissen und das rohe Fleisch verschlangen. In seinem Stück Die Bakchen beschreibt der Tragödiendichter Euripides (480-407 v.Chr.), daß selbst der Staatsführer Pentheus in orgiastischen Riten in Stücke gerissen wird (Abbildung 1). Es war ein Hinübertreten ins Animalische oder wie man christlich sagen würde, ins Satanische. Auch die Masken und Verkleidungen, die mit dem Kult einhergingen, wie Reh- oder Ziegenfelle, bezeugten den Wunsch nach Aufgabe der menschlichen Individualität.

Diese staatsbedrohenden Umtriebe konnten auf Dauer nicht toleriert werden. Mehrere Versuche, den Kult zu verbieten oder zu unterdrücken, scheiterten. Man konnte ihn nur zügeln, was schließlich zur Entstehung des Theaters führte.

Solons humanistischer Weg

Nun ist die Entstehung der Tragödie ohne die damalige politische Entwicklung nicht denkbar. Ab dem 6. Jh. v.Chr. zerbrach die alte Adelsherrschaft in Griechenland. Vielerorts fanden sich starke Persönlichkeiten, die z.T. vom Volk gestützt die Alleinherrschaft errangen, die sog. Tyrannen.

Aber durch die Staatsführung Solons (Abbildung 2) entging Athen vorerst der Tyrannei, weil er eine Verfassung schuf, die das Staatswesen mit den universellen göttlichen Gesetzen in Einklang zu bringen versuchte. Für ihn war Gerechtigkeit ein höheres Prinzip, das er „der Gottheit dienen“ nannte. Er schuf eine demokratische Verfassung, die außerordentliche politische Macht und Verantwortung in die Hände des Volkes legte.

Solons revolutionäre Bemühungen, dem Volk Moral in die Seele einzupflanzen, zahlten sich im Überleben Athens aus. Ohne diese höhere Qualität hätte es Athen an der inneren Kraft gefehlt, das größte damalige Reich, Persien, zweimal zu besiegen.

Dieses hatte eine völlig gegensätzliche Kultur: Knechtschaft war seine natürliche Ordnung, und Freiheit und freies Geistesleben waren Fremdworte. Darin glich es Sparta, dem Konkurrenten Athens unter den Griechen, das nicht den Freiheitswillen zum Kampf gegen Persien mobilisierte.

So rettete Athen die griechischen Völker vor dem orientalischen Joch. Darüber hinaus schuf es die Voraussetzung für eine einzigartige Blütephase, die griechische Klassik, die später Vorbild für das Christentum, die italienische Renaissance und unsere modernen Verfassungsstaaten wurde.

An diesen griechischen Freiheitskriegen nahmen auch die späteren Tragödiendichter Aischylos und Sophokles teil. Sie sahen die Schwäche der Athener, die zwar im Krieg Großes leisteten, zu Hause aber im Frieden ihre Freiheit der Wut, dem Zorn und der Habgier opferten. Aischylos sah darin eine Gefahr für das Staatswesen, weil die Athener in jeder Weise manipuliert werden konnten, sei es durch den persischen Feind, der Athen unterwanderte, sei es durch die Oligarchie und ihre Kulte.

Da er um die bessere Natur seiner Landsleute und ihre Liebe zum Vaterland wußte, wollte er ihre Tugenden stärken. Ihm bot sich die Möglichkeit, Theaterstücke bei den jährlichen Feiern des Dionysos-Kultes einzureichen. In dem Versuch, den Kult zu bändigen, entstanden nämlich die Festspiele, die sportliche Wettkämpfe und Theateraufführungen umfaßten (Abbildung 3). Diese „Dionysien“ in Athen waren ein Magnet für alle griechischen Völker, die Gesandtschaften schickten und die kulturellen Leistungen Athens bewunderten. Es dauerte aber etwa 20 Jahre, bis die Stücke von Aischylos den ersten Preis errangen, denn sein höherer Anspruch war „das „Umwenden der Seele“ – die Griechen aus dem Brei der Barbarei ans Licht der Vernunft zu ziehen, wie es später Platon sagte.

Es war eine große Leistung von Aischylos, daß er zwar den Ritus der kultischen Dionysos-Feste einhielt, aber genial umgestaltete. Nach den Regeln war der Tragödiendichter verpflichtet, einen Mythos aus der griechischen Geschichte heranzuziehen, so daß der Zuschauer mit dem Stoff vertraut war, aber jeder war gespannt, wie dieser neu gestaltet würde. Es war keine Frage des Was, sondern des Wie. Ähnlich wie Solon sieht Aischylos sich als Ratgeber der Bürgerschaft. Es ging ihm nicht um Kunst um der Kunst willen, sondern er wollte der Gemeinschaft beistehen, wie ein guter Arzt oder eine Hebamme. Seine Stücke zielten nicht auf Unterhaltung, wie die anderen trivialen Aufführungen, sollten aber auch nicht belehren wie z.B. das Polittheater Berthold Brechts.

Die ästhetische Erziehung

Wollten die Athener ihrer Verantwortung und Vorbildrolle im attisch-delischen Seebund gerecht werden, an dessen Spitze sie nach den Siegen über Persien standen, so verlangte dies ein Staatskonzept, das wieder an Solon anknüpfte. Ohne Gerechtigkeit würden sie ihre tonangebende Rolle bald verspielen. War es nicht verlockend, „Macht ist Recht“ auszuspielen und schonungslos Tribut von den Verbündeten zu erpressen? Nach wenigen Jahren als Führung aller griechischen Stadtstaaten vergaßen sie die dringliche Mahnung Solons, Gerechtigkeit heiße „der Gottheit dienen“. Was lag also näher, als die Frage des Rechts und Unrechts zum Thema der Dramen zu machen?

Gemälde von Pierre Narcisse Guérin (1817)
Abb. 4: Ägisthos und Klytaimestra ermorden den schlafenden Agamemnon.
Gemälde von William-Adolphe Bouguereau (1862)
Abb. 5: Orest wird von den Erinnyen verfolgt.

In der Orestie greift Aischylos den Mythos des Adelsgeschlechts der Atriden auf, die den ungerechten Krieg gegen Troja auslösten. Agamemnon, der oberste Heerführer der Griechen, kehrt nach zehn entbehrungsreichen Kriegsjahren siegreich in seine Heimatstadt Argos zurück. Aber er findet keinen jubelnden Empfang, schließlich mußte um Helena, eines Weibes willen, das Volk bluten. Seine Gemahlin, Klytaimestra, harrt seiner Rückkehr, aber nicht aus Liebe, sondern sie treibt leidenschaftlicher Haß, an ihm ihre Rache zu nehmen, da er ihr gemeinsames Kind Iphigenie den Göttern zum Opfer brachte.

Um ihre Pläne zu verheimlichen, verbannt sie ihren Sohn Orest auf eine andere Insel. Mit geheuchelter Freundlichkeit empfängt sie ihren Mann und seine Kriegsbeute Kassandra und lockt beide in den Palast. Nun schreitet das Verbrechen fort. Agamemnon und Kassandra werden mit dem Beil erschlagen (Abbildung 4). Der Todesschrei Agamemnons löst beim Chor, der auf der Bühne das Volk vertritt, unschlüssige Verwirrung aus. In frevelhafter Überheblichkeit tritt Klytaimestra vor den Chor und bekennt sich zu ihrer Tat.

Die Ermordung Agamemnons weist auf eine Kette von fortwährenden Verbrechen hin, von der Ermordung Iphigenies, zum blutigen Krieg um Troja, zur Zerstörung der Polis Troja und zur Rache Klytaimestras. Ihr Sohn Orest setzt die Blutrache fort und mordet schließlich mit „drachenwilder Empörung“ seine Mutter. Er hat damit zwar gemäß dem herrschenden Gesetz der Blutrache den Mord an seinem Vater gerächt, ist aber wiederum als Mörder schuldig geworden. Die Rachegeister, die Erinnyen, drohen ihn in den Wahnsinn zu treiben (Abbildung 5).

Für den Zuschauer ist das grauenhafte Morden entsetzlich, es empört, es schmerzt, es widerspricht dem Sittengesetz. Aber auch das Leiden der Verstrickten ist furchtbar. Klytaimestra wird nachts nach der Mordtat durch einen Alptraum aus dem Schlaf gerissen. Sie hat Todesahnungen, ihr Gewissen peitscht sie. Sie läßt mitten in der Nacht alle Lichter anzünden, um die Rachegeister zu vertreiben.

Aber es ist nicht nur ein individuelles Leiden, was sie quält. Der Dichter zeigt vielmehr, daß ein obwaltendes höheres Recht existiert, das die selbstherrliche Mörderin zu Fall bringt. Die Rachegeister sind nur Ausdruck einer allgemeinen Sittenordnung. Auch der Zuschauer empfindet die Leiden. Aber es ist ein anderes Leiden als im Horrortrip der Gewaltvideos. In der Tragödie existiert das Prinzip der Gerechtigkeit. Die Bestialität kann sich nicht ungestraft ausleben.

Das Gesetz der Blutrache zwang Orest, seine Mutter zu ermorden, aber er ist dadurch wiederum als Mörder schuldig geworden. Wie kann man aus der endlosen Kette – auf das zu sühnende Unrecht folgt Unrecht – ausbrechen? Gibt es einen Ausweg?

Aischylos deutet die Lösung an, das wilde Ungeordnete der ewigen Rache durch eine bessere Ordnung zu überwinden. Es ist sein kreativer Eingriff, indem das Recht, an Solon anknüpfend, zu einem Teil des Guten wird. Er wandelt die mächtigen blutrünstigen Erinnyen in sinngebende Mächte der Wohl-Gesonnenen um, die zielgerichtet das Gute schaffen: die Eumeniden. Diese Verwandlung wirkt beglückend, ja befreiend für den Zuschauer.

Die Erinnyen wurden vorher noch in der Orestie als „fährtesuchende hetzende Hunde“ beschrieben, die erst nach langem Sträuben durch einen gewissen „Deal“ ihren Ehrenplatz auf dem Areopag, dem obersten Gerichtshof, beziehen. In einer Gerichtsszene bringt die Schutzgöttin Athens, Athene, die Erinnyen dazu, die Missetäter nicht länger nach den Verbrechen zu verfolgen, sondern vom Verbrechen abzuhalten. Ihr neues Lied lautet:

Vorher wurden sie mißachtet und gefürchtet, jetzt hochverehrt, weil sie nicht länger das Böse, sondern das Gute wirken. Die Irrationalität ist der Rationalität gewichen. An die Stelle des barbarischen Rechts der alten Erdgottheiten (Erinnyen), die zu dem urtümlichen Götterglauben gehörten, setzt Aischylos ein den Göttern wohlgefälliges Recht. Darüber hinaus wird die Orestie nicht nur zum Loblied auf die schöpferische Vernunft, sondern zum Loblied auf Athen, denn es war schließlich die ehrwürdige Rolle des Areopag, des Gerichtshofes, der die Umwandlung der Rachegeister in Wohl-Gesonnene wirkte.

Aischylos war nicht nur Dichter, sondern auch Gestalter der Polis, bekleidete er doch wichtige politische Ämter. Dadurch kannte er die Gefahren, die überwunden werden mußten.

Folgende drei Leitgedanken finden sich in allen seinen Dichtungen wieder:

Aber folgende Frage ist noch ungeklärt:

Warum wurde der schwere Stoff der Tragödie vom Volk angenommen? Warum zogen die Zuschauer das Mitleiden und das Furchtbare des Schicksals dem ausschweifenden, erotischen Treiben der alten Götter vor, das jeder Sittlichkeit spottete? In gewisser Weise waren die Dionysien den Vergnügen der Rockkonzerte heute, des Rauschs, der sexuellen Freizügigkeit oder den Netflix-Produktionen vergleichbar. Was war der Unterschied? Anders gefragt, welche Absicht hatte Aischylos im Unterschied zu Mr. Reed, dem Erfinder von Netflix? Will Mr. Reed seine Zuschauer verbessern? Hat er eine Idee des Guten? Weiß er überhaupt, was wohl-gesonnen ist? Kennt er den prinzipiellen Unterschied zwischen Mensch und Tier?

Für die Griechen, die gerade einen Kampf auf Leben und Tod mit dem persischen Imperium gewonnen hatten, waren solche Fragen von höchstem Interesse. In der Tragödie entdeckten sie die Tugend wieder. Es war eine eigentümliche Kraft, die im Menschen existierte, aber im täglichen Leben übersehen wurde. Sie sicherte ihm eine Art innere Freiheit zu, die ihm ermöglichte, sich der Macht der politischen Tyrannei wie auch der Macht der sinnlichen Leidenschaften zu widersetzen. Dieses innere „Palladium der Freiheit“ nannten die Griechen hypsos, das Erhabene. Es soll in der Antike Abhandlungen über die hohe Kunst, das Erhabene zu erwecken, gegeben haben, die aber verschollen sind. Nur mit der „hohen Gesinnung“ des Dichters sei sie zu erlangen, denn „Ernst und Würde“ müsse das „Große“ beschreiben, dürfe aber nicht in Pomp und Schwulst oder Sentimentalität und Lächerlichkeit abgleiten. Der Dichter müsse also alles, was in ihm nicht Menschheit ist, abstreifen.

© Wikimedia Commons/Sailko/cc-by-sa 3.0)
Abb. 6: Büste des Aischylos, Archäologisches Museum, Florenz.
Giovanni Dall‘ Orto
Abb. 7: Maske eines Schauspielers im antiken griechischen Theater, um 250 v. Chr.

In einem Aphorismus beschreibt Aischylos (Abbildung 6), was für ihn hypsos war:

Friedrich Schiller erkannte in hypsos das Umwenden der Seele. In verschiedenen Aufsätzen beschrieb er die Methode, das Erhabene zu erzeugen. Dazu bedürfe es, trivial gesagt, eines Schocks, oder des Leidens, „denn nur im Widerstand gegen die Gewalt der Gefühle macht sich das freie Prinzip in uns kenntlich“. Man müsse also dem Helden eine geballte Ladung Leiden geben, weil es sonst immer fraglich ist, ob sein Widerstand dagegen wirklich Kraft besitzt. „Das Erhabene liegt also nicht in den Sinnen, sondern im Geist und muß erzeugt werden“, denn nur im Leid könne das Vernunftwesen seine Unabhängigkeit kund tun.1

Der Dichter im Dialog mit dem Zuschauer

Es wäre falsch, sich die Dionysien als reines Volksfest vorzustellen. Vielmehr wurden bei der Anreise der verschiedenen hellenischen Delegationen Handelsabschlüsse getätigt und die Kontakte zu den Geschäftspartnern gepflegt. Neugierig wie die Griechen waren, inspizierten sie die neuen Bauten, Hafenanlagen und Erfindungen. Eine Erfindung war das Amphitheater am Abhang der Akropolis.

Sie war der geniale Einfall eines Architekten und verdankte die Entstehung einem Unglück. Unter der Last der Zuschauer war die künstliche Theatertribüne zusammengebrochen und wurde nun durch eine natürliche ersetzt, die in den Abhang der Akropolis gebaut wurde, weil man sich dadurch größere Sicherheit für die Zuschauer versprach. Der erste Theaterbau der Geschichte war sozusagen eine Schutzmaßnahme.

Zwei Tage vor den Festspielen kam die Theaterleitung der Neugier des Volkes entgegen. Die drei Dichter – es gab drei Tage hintereinander Schauspiele - stellten ihre Schauspieler dem Publikum vor und erläuterten den Inhalt, was sie natürlich mit Werbung für ihr Stück verbanden. Dennoch staunen wir über die Begeisterung der Griechen für die Theaterabende, da das Theater jeglicher Bequemlichkeit entbehrte, aber eine lange Konzentration von drei bis vier Stunden verlangte. In festlichen Kleidern drängte das Volk herein, der Uraufführung beizuwohnen. Wie gelang es dem Dichter, eine Vorstellungswelt zu schaffen? Es gab weder Vorhang noch Bühnenbild, keine Beleuchtungstechnik oder Drehbühne, nur die nackte Orchestra (Bühne) mit einer Bretterwand.

Die Vorstellungskraft erzeugte der Dichter mittels der Sprache des Chores und seiner Schauspieler: Sie holten den Zuschauer auf die Ebene der Vorstellungskraft, was einen Bruch mit der täglichen Erfahrungswelt der Sinne bedeutete. Es traten höchstens drei Schauspieler auf, die verschiedene Figuren darstellten und deren Gesichter hinter starren Masken verborgen waren (Abbildung 7). Dennoch sah der Zuschauer dieselben Masken einmal lachen und einmal weinen. Wie konnte das sein? Nur in der Vorstellungskraft konnte die Maske lebendig werden und menschliche Empfindungen ausdrücken.

Der Chor – man sollte sich dabei keinen Männergesangverein vorstellen – war kein Außenseiter, sondern eine mächtige beeindruckende Gestalt von teilweise bis zu hundert Sprechern, die durch ihre Stimmgewalt und die verschiedenen Versrhythmen der Fantasie Raum gaben und zur hohen Stimmung beitrugen. Er war das Fundament der Handlung, durch ihn sprach der Dichter. Die Handlungen führten die Figuren aus, die Hoheit und Würde besaßen, aber mit ihren Leidenschaften die Konflikte auslösten. Der Chor unterbrach die Handlung, indem er warnte, klagte, tadelte und seine Überlegenheit über die handelnde Person ausdrückte. So trat er einerseits in den Dialog mit der Figur auf der Bühne, aber zugleich in einen Dialog mit dem Zuschauer, provozierte dessen Passivität und regte seine Kreativität an. Aber das Wichtigste war, er behielt Ruhe auch in den heftigsten Passionen und gab so dem Zuschauer seine Freiheit zurück.

Nur so konnte der Zuschauer der schaffenden Einbildungskraft des Dichters folgen. Auf der Bühne sah er die Schauspieler, aber inwendig, nicht vor seinen Augen, sah er die Figuren Klytaimestra und Orest. In dieser Vorstellungswelt war er frei zu jubeln, wenn Verzweiflung und Selbstverdammnis die Mörder ergreift, weil Reue nimmermehr empfunden werden könnte, wenn nicht tief in der Brust des Verbrechers ein Gefühl für Recht und Unrecht wachte, wie Schiller schreibt.

Nach Schiller besteht in dieser vom Dichter geprägten Imagination die ästhetische Verbesserung. „Die Wahrheit ist nichts, was so, wie die Wirklichkeit oder das sinnliche Dasein der Dinge von außen empfangen werden kann; sie ist etwas, das die Denkkraft selbsttätig und in ihrer Freiheit hervorbringt.“ Deshalb behauptete er, daß der Zuschauer verbessert aus dem Theater herausgehen könne, als er hineingegangen sei, obwohl sich äußerlich nichts an ihm geändert habe.2

Aber wie kann das Handeln eines anderen Subjektes unser Subjekt verbessern und unsere Kraft vermehren? „Es ist bloß das Vermögen, was wir mit ihm teilen, aber indem wir in seinem Vermögen auch das unsere wahrnehmen, fühlen wir unsere geistige Kraft erhöht.“

Und Schiller fährt fort: „Die poetische Wahrheit besteht nicht darin, daß etwas wirklich geschehen ist, sondern darin, daß es geschehen konnte, also in der inneren Möglichkeit der Sache.“

Wirkung auf Jahrhunderte

Nach dem selbstverschuldeten Untergang Athens folgten Kriegswirren, die militärische Besatzung durch Rom und die Christianisierung. Dennoch strahlte die griechische Hochkultur weiter, so daß spätere Epochen immer wieder auf sie zurückgriffen.

Die italienische Renaissance des 15. Jahrhunderts erwuchs aus der Antike. Ohne das Studium der Originalschriften Homers, Platons und Plotins u.a. wäre der Aufbruch aus der Schwarzen Pest und wirtschaftlichem Niedergang nicht möglich gewesen. Die griechische humanistische Kultur inspirierte auch Lessing und Moses Mendelssohn und leitete die deutsche Klassik mit Friedrich Schiller, Johann Wolfgang Goethe und Wilhelm von Humboldt ein.

Schiller sah sich nach der gescheiterten Französischen Revolution besonders herausgefordert, hatte er doch anfangs die Hoffnung, die oligarchische Fürstenherrschaft zu überwinden, die auf dem Rücken des Volkes Mätressenwirtschaft, ausschweifende Hofhaltung und sogar den Verkauf ihrer Untertanen betrieb. Im Gegensatz zu den deutschen Biedermännern glaubte er nicht, daß das Volk zur Freiheit unfähig sei.

Aber er sah im Jubel des französischen Volkes für das „Direktorat“ in Paris und seine Tausenden von Hinrichtungen einen Mangel charakterlicher Veredelung. Er gab auch René Descartes und seiner Schule der „Aufklärung“, die heute zur Informationsgesellschaft ausgeufert ist, ein gehöriges Maß an Mitschuld. Eine Verbesserung des Menschen müsse durch das Herz und nicht durch den Verstand gehen, erklärt Schiller in den Ästhetischen Briefen.

Illustration aus der Zeitschrift Minerva (1809)
Abb. Abb. 8: Die Kraniche des Ibykus

Durch seine Tragödien und Balladen prägte er eine Volkskultur des Schönen und Erhabenen. Ein Volksdichter habe die Aufgabe, sowohl die Fassungskraft des großen Haufens zu befriedigen als auch den Beifall der gebildeten Klasse zu gewinnen – dieser Abstand zwischen beiden Parteien könne und müsse durch die Größe der Kunst aufgehoben werden.

Durch sein Studium der griechischen Tragödie konnte er die Ballade zu einer kleinen Tragödie erweitern. Zusammen mit Goethe begann er einen Balladen-Wettbewerb unter Freunden. Das Volk sollte spielerisch mit Würde und Sittlichkeit unterhalten werden. Für sein Anliegen bot ihm die griechische Dichtung viel Stoff. Seine Balladen fanden schnell Eingang in die Herzen von Jung und Alt, weil er Spannung, Fantasie und Überraschung in ihnen vereinte.

In seiner Ballade Die Kraniche des Ibykus begegnet uns das Erhabene.

Schiller läßt den Hörer gleichsam im Amphitheater Platz nehmen (Abbildung 8). Vor den Augen des Lesers entsteht die Versammlung der verschiedensten Völkerschaften Griechenlands. Der Chor der Erinnyen tritt auf, der schauerlich des Theaters Rund umwandelt und jeden die Anwesenheit der Gottheit ahnen läßt.

In diesem Moment fragen sich die Zuhörer: Werden die Rachegeister den Mörder unseres geliebten Dichters Ibykus aufspüren? Die Mörder selbst aber halten es für klug, im Gewühl des Volkes unterzutauchen. Da sie rauhe sinnliche Kerle sind, die Theater als Hokuspokus verachten, sitzen sie auf den oberen Stufen und schauen gelangweilt in die Ferne. Da will es der Zufall, daß ein Kranichheer über das Theater fliegt. Weil sie erhöht sitzen, sehen sie sie als erste.

Gepackt vom Affekt ruft ein Mörder seinem Komplizen zu: „Sieh da, sieh da Timotheus, die Kraniche des Ibykus.“ Als rohe Kerle haben sie nicht gelernt, Affekte zu beherrschen. Jetzt ist es zu spät, den Ausruf ungeschehen zu machen. Mit dem Namen des Dichters Ibykus haben sie sich selbst verraten. Unfreiwillig, freiwillig richten die Mörder sich selbst. Aus scheinbar eigenem Antrieb rennen sie ins Netz des Verderbens. Der Zuhörer ist betroffen und froh zugleich.

Eine bohrende Frage bleibt dem Leser: Wie kam es, daß sie sich verrieten? Hatten die Eumeniden Gewalt über die Mörder? Woher kam die richtende Kraft? Das Gedicht ergreift den Leser, erschüttert ihn und läßt ihn nicht los. Unsere Fantasie, unser Herz und unser Geist, alle werden angeregt.

Auch andere deutsche Dichter griffen die neue Kunst der Ballade auf, wie Adalbert von Chamissos Die Sonne bringt es an den Tag oder Conrad Ferdinand Meyers Die Füße im Feuer. So pflanzte sich die Entdeckung des Erhabenen bis in die Neuzeit fort. Besonders für junge Menschen ist es wichtig, eine höhere Ebene der Erfahrung als im täglichen Leben kennen zu lernen, statt durch oligarchisch gesteuerte Kulte zu verrohen. Wie einfach wäre es, eine neue Renaissance zu beginnen, die Klassik, die Idee der Schönheit ins Zentrum der Kultur und Erziehung zu setzen. Dies würde unserer Gesellschaft ihre Seele wiedergeben, die die verrohende „Freizeitgesellschaft“ verschüttet hat.


Fußnoten

1. Friedrich Schiller, „Über das Pathetische“, https://www.projekt-gutenberg.org/schiller/pathos/pathos.html

2. Friedrich Schiller, „Über das Erhabene“, https://www.projekt-gutenberg.org/schiller/erhaben/erhaben.html