Produktive Kreditschöpfung 
  Neues Bretton Woods
  Glass-Steagall
  Physische Wirtschaft
  Kernenergie
  Eurasische Landbrücke
  Transrapid
  Inflation
  Terror - Cui bono?
  Südwestasienkrise
  11. September und danach
  Letzte Woche
  Aktuelle Ausgabe
  Ausgabe Nr. ...
  Heureka!
  Das Beste von Eulenspiegel
  Erziehungs-Reihe
  PC-Spiele & Gewalt 
  Diskussionsforum
  Wirtschaftsgrafiken
  Animierte Grafiken
» » » Internetforum mit Helga Zepp-LaRouche « « «
Neue Solidarität
Nr. 26, 1. Juli 2021

Eine Tianxia-Zivilisation anstelle der Geopolitik

Von Bernhard Priesmeier

Zhao Tingyang, „Alles unter dem Himmel – Vergangenheit und Zukunft der Weltordnung“, suhrkamp taschenbuch wissenschaft 2282, Berlin, 5. Auflage 2021 (1. Auflage 2020), 272 Seiten, 22 €. Zhao Tingyang ist Professor für Philosophie an der Chinesischen Akademie der Sozialwissenschaften in Beijing. Diese Rezension enthält Zitate zu grundsätzlichen Fragen der Geopolitik aus dem Buch „Die Tragödie der Ukraine – Ein geopolitisches Tagebuch“ von Nikolai Starikow, Eschwege (Werra) 2015.

„Die Geopolitik ist ein Kampf der Großmächte um Ressourcen, darin liegt der ganze Sinn. Dieser Kampf ist endlos, er hat weder einen Anfang noch ein Ende. Es ist ein kolossales Schachspiel, in dem die Schachzüge mit Armeen, Parteien und Währungskursen vollzogen werden. Menschenleben wurden in diesem Spiel noch nie geachtet.“ So der russische Historiker Nikolai Starikow (S. 11), der seinen Grundgedanken um eine Überlegung ergänzt: Entweder man schafft es, aktiv als Spieler in diesem großen Spiel mitzumachen, oder man wird zu einem Ball, mit dem andere spielen.

Unser chinesischer Autor stimmt dem als Beschreibung des Ist-Zustandes unseres Planeten sicherlich zu, lehnt aber die Auffassung ab, dieser Zustand habe weder Anfang noch Ende. Auch hält er Geopolitik nicht für Politik. In Umkehrung der Definition von Clausewitz, der Krieg sei die Fortsetzung der Politik mit anderen – nämlich militärischen – Mitteln, glaubt Zhao, bislang sei alle „Politik“ nur eine Fortsetzung des Krieges aller gegen alle mit nichtmilitärischen (diplomatischen, wirtschaftlichen, kulturellen und sonstigen zivilen) Mitteln. Eine derartige „Politik“ sei in Wahrheit das Gegenteil von Politik (S. 26).

Wahre Politik ist für Zhao die „Kunst des Zusammenlebens“ und nicht die „Technik des Herrschens und Dominierens“. Einige Zeilen weiter fordert er, Politik müsse „zur Kunst des Guten werden und Politik als Technik des Bösen überwinden“ (S. 48). Das klingt nicht nur idealistisch (im philosophischen Sinne), das ist es und soll es auch sein. Allerdings sieht der Autor sein idealistisches Postulat als materielle Notwendigkeit.

Die menschliche Gesellschaft sei heute eine globale Gemeinschaft, die ihre „inneren“ Probleme der Wirtschaft, Gesellschaft und der drohenden Selbst-Auslöschung durch Nuklearwaffen und der Einbettung in ihre „äußere“ Umwelt bewältigen müsse. Dazu seien die bisherigen Handlungskonzepte individueller (incl. nationaler) Nutzenmaximierung ungeeignet. Deshalb müsse „das Monopol individueller Rationalität ins Gegenteil verkehrt und in ‚relationale (beziehungsorientierte) Rationalität‘ überführt werden“ (S. 40).

Das Ziel von Politik soll sein, alles, was unter dem Himmel ist (Tianxia 天下), als alles einschließende Einheit zu verstehen und zu behandeln, die Beziehungen zwischen den Elementen dieses Systems mit relationaler Rationalität zu gestalten und nur noch ein Innen zu kennen. Da es kein Außen mehr gibt, kann es auch nichts und niemand mehr geben, der „außerhalb“ sein könnte. Es gäbe nur eine Menschheit mit einem gemeinsamen Schicksal (Xi Jinping). In einem derartigen Kontext macht Nutzenzuwachs nur als Win-Win-Operation, als „konfuzianisches Optimum“ Sinn, da ansonsten die Harmonie und die Stabilität des Tianxia vermindert und damit auch der Nutzen aller im Endeffekt gefährdet würde.

Tianxia fordert, die Welt ausgehend von der großen Einheit allen Seins zu denken (die Welt als Subjekt), anstatt sich von einem egoistischen Standpunkt aus Gedanken über die Welt zu machen (die Welt als Objekt). Das verwirklichte Tianxia ist eine Koexistenz und Kooperation aller Nationen und Ideologien unter dem Himmel, die sich als Elemente des Tianxia begreifen und handeln. Das Tianxia ist eine Welt, die nur ein Innen, aber kein Außen kennt.

Das Tianxia-Konzept geht auf die Herzöge (Könige) von Zhou zurück. Es ermöglichte ihnen, im letzten Jahrtausend v.u.Z. ein Reich aus Staaten mit völlig unterschiedlichen sozialen Systemen und Ideologien aufzubauen und über Jahrhunderte lebensfähig zu halten. Das Konzept hat folgende Quellen:

Es handelt sich also nicht um einen marxistischen Theorieansatz, gleichwohl können Methoden und Erkenntnisse des Marxismus-Leninismus helfen, die über zweitausend Jahre alten Grundsätze des Tianxia auf die heutige Lebenswirklichkeit anzuwenden und daraus politische Handlungsoptionen abzuleiten.

Ich komme zurück auf Nikolai Starikow. Für ihn gleicht Geopolitik einer „Straßenschlägerei“ (S. 68) und stellt somit einen Gegensatz zur Zivilisiertheit dar. Die Nichtzivilisation sei das Recht des Stärkeren, während die Zivilisation die Stärke des Rechts sei (S. 76). Die Voraussetzungen zur Entstehung einer Tianxia-Zivilisation sieht Zhao „in den wirklich einflußreichen Mechanismen des globalen Finanzsystems, der Systeme der Hochtechnologie und den sozialen Medien“ (S. 196). Durch Netzwerkbildung (Belt and Road!) sollen sich Organe einer „Weltsouveränität“ herausbilden (keine Weltregierung!), die der Souveränität der Nationalstaaten übergeordnet ist und ihr Schranken setzt. In diesem Kontext können auch die Vereinten Nationen eine wichtige Rolle spielen. „Alle Angelegenheiten, die das kollektive Schicksal der Menschheit berühren, unterliegen der Jurisdiktion der Weltsouveränität“ (S. 33). Nur auf diesem Wege könne man „eine technologische Diktatur imperialistischer Hegemonialmächte oder globaler systemischer neuer Mächte verhindern… Hierin liegt die Bedeutung des neuen Tianxia-Systems.“ (S. 227)

Bernhard Priesmeier ist Diplom-Sozialwirt, Mitglied der Deutsch-Chinesischen Gesellschaft Schaumburg