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Der russische Präsident Wladimir Putin präsentierte in zwei Grundsatzreden seine Sicht vom Ende der unipolaren Weltordnung.
Am 20. Juli sprach der russische Präsident Wladimir Putin auf dem Forum „Starke Ideen für eine neue Zeit“, das von der russischen Agentur für strategische Initiativen (ASI) organisiert wurde. Die ASI versteht sich als Plattform für Russen, auf der sie Ideen für zivile Projekte und Initiativen einreichen können, die im Lande benötigt werden, sowie Vorschläge zur Verbesserung des Lebens in ihren Regionen oder auf nationaler Ebene. In diesem Jahr wurden rund 90.000 Vorschläge von 300.000 Russen aus 85 Einrichtungen eingereicht. „Dieser Mechanismus steht in vollem Einklang mit den Aufgaben unserer inneren Entwicklung und mit der Zeit, in der wirklich revolutionäre Umwälzungen an Schwung gewinnen und stärker werden“, sagte Putin über die Bemühungen der ASI.
Putin erläuterte dann, was er unter diesen „revolutionären Umwälzungen“ versteht:
„Nationale und globale Prozesse sind im Gange, um die Grundlagen und Prinzipien einer harmonischen, gerechteren und stärker auf Gemeinschaft ausgerichteten und sicheren Weltordnung als Alternative zur bestehenden Weltordnung oder zur unipolaren Weltordnung, in der wir leben, zu entwickeln...
Nur wirklich souveräne Staaten sind in der Lage, eine hohe Wachstumsdynamik zu gewährleisten und ein Vorbild für andere zu werden, was Lebensstandard und Lebensqualität, den Schutz traditioneller Werte und hoher humanistischer Ideale sowie Entwicklungsmodelle angeht, bei denen der Einzelne nicht Mittel, sondern das Endziel ist.
Bei der Souveränität geht es um die Freiheit der nationalen Entwicklung und damit um die Entwicklung jedes Einzelnen. Es geht um die technologische, kulturelle, intellektuelle und bildungspolitische Kreditwürdigkeit eines Staates – darum geht es. Die wichtigste Komponente der Souveränität ist zweifellos eine verantwortungsvolle, aktive, national gesinnte und national orientierte Zivilgesellschaft.
Ich bin davon überzeugt, daß wir, um stark, unabhängig und wettbewerbsfähig zu sein, die Mechanismen für die Beteiligung der Menschen am Leben des Landes verbessern und sie offener und gerechter gestalten müssen. Dazu gehören Mechanismen für die direkte Demokratie und die Beteiligung der Menschen an der Bewältigung der kritischen Probleme der Gesellschaft und der Öffentlichkeit.“
Auf der anderen Seite stehe das „Modell der totalen Dominanz der sogenannten ,Goldenen Milliarde‘ [,golden billion‘]... Warum sollte diese Goldene Milliarde, die nur einen Teil der Weltbevölkerung ausmacht, alle anderen beherrschen und ihre Verhaltensregeln durchsetzen, die auf der Illusion der Einzigartigkeit [Exzeptionalismus] beruhen? Sie spaltet die Welt in Menschen erster und zweiter Klasse und ist daher im Wesentlichen rassistisch und neokolonial. Die zugrundeliegende globalistische und pseudoliberale Ideologie ähnelt immer mehr dem Totalitarismus und hemmt kreatives Streben und freies historisches Schaffen.“
Er führte die Ausplünderung Indiens durch das britische Empire als Beispiel dafür an, wie „die Goldene Milliarde ihr Gold ... hauptsächlich durch die Ausplünderung anderer Völker in Asien und Afrika erlangt hat. Indien wurde über einen langen Zeitraum hinweg ausgeraubt. Das ist der Grund, warum die Elite der Goldenen Milliarde Angst vor anderen globalen Entwicklungszentren hat, die möglicherweise ihre eigenen Alternativen entwickeln.“
Schon am 7. Juli hatte Putin in einer Rede vor der Duma seine Sicht des Konflikts in der Ukraine dargelegt und in diesem Zusammenhang das Ende der unipolaren, vom Westen dominierten „regelbasierten“ Weltordnung verkündet.2 Nach jahrzehntelanger Ablehnung der russischen Vorschläge für „gleiche Sicherheit“ in Europa, erklärte Putin, seien schließlich ein Krieg entfesselt und Sanktionen verhängt worden. Aber:
„Sie hätten von Anfang an erkennen müssen, daß sie bei unserer Militär-Sonderoperation verlieren würden, denn diese Operation bedeutet auch den Beginn eines radikalen Zusammenbruchs der Weltordnung amerikanischer Prägung. Es ist der Beginn des Übergangs vom liberal-globalistischen amerikanischen Egozentrismus zu einer wahrhaft multipolaren Welt, die nicht auf eigennützigen Regeln beruht, die sich jemand für seine eigenen Bedürfnisse ausgedacht hat und hinter denen sich nichts anderes als das Streben nach Hegemonie verbirgt, nicht auf heuchlerischen zweierlei Maßstäben, sondern auf dem Völkerrecht und der echten Souveränität der Nationen und Zivilisationen, auf ihrem Willen, ihr historisches Schicksal mit ihren eigenen Werten und Traditionen zu leben und Zusammenarbeit an den Grundlagen von Demokratie, Gerechtigkeit und Gleichheit auszurichten.
Alle sollten verstehen, daß dieser Prozeß sich nicht aufhalten läßt. Der Lauf der Geschichte ist unaufhaltsam, und die Versuche des kollektiven Westens, dem Rest der Welt seine neue Weltordnung aufzuzwingen, sind zum Scheitern verurteilt.“
Putin betonte weiter: „Die herrschenden Klassen der westlichen Länder, deren Natur supranational und globalistisch ist, haben erkannt, daß sich ihre Politik zunehmend von der Realität, dem gesunden Menschenverstand und der Wahrheit entfernt, und sie greifen zu offen despotischen Methoden. Der Westen, der sich einst zu demokratischen Grundsätzen wie Meinungsfreiheit, Pluralismus und Respekt vor abweichenden Meinungen bekannte, ist heute in das Gegenteil verfallen: Totalitarismus. Dazu gehören Zensur, Medienverbote und die willkürliche Behandlung von Journalisten und Persönlichkeiten des öffentlichen Lebens.“
Zur Lage in der Ukraine sprach er eine deutliche Warnung aus: „Heute hören wir, daß sie uns auf dem Schlachtfeld besiegen wollen. Nun, was soll ich sagen? Sollen sie es versuchen. Wir haben schon viel darüber gehört, daß der Westen ,bis zum letzten Ukrainer‘ gegen uns kämpfen will. Das ist eine Tragödie für das ukrainische Volk, doch in diese Richtung scheint es zu gehen. Aber jeder sollte wissen, daß wir im Großen und Ganzen noch gar nichts Ernsthaftes angefangen haben. Gleichzeitig lehnen wir Friedensgespräche nicht ab, aber diejenigen, die sie ablehnen, sollten wissen, daß es für sie umso schwieriger wird, mit uns zu verhandeln, je länger es dauert.“
Was auch immer die westlichen Regierungen von Wladimir Putin und seiner Politik halten mögen, sie täten gut daran, seine Sicht, wie sich die Welt entwickelt und warum, ernst zu nehmen.
Anmerkungen