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Von Botschafter a.D. Jack Matlock
Die folgende Rede hielt der 95jährige Botschafter a.D. Jack Matlock am 24. Mai im Rahmen der internationalen Konferenz des Schiller-Instituts „Eine schöne Vision für die Menschheit in Zeiten großer Turbulenzen!“ im ersten Panel über „Strategische Herausforderungen und die entstehende neue Ordnung“. Matlock ist wissenschaftlicher Experte für russische Geschichte und Kultur. Er ist einer der angesehensten ehemaligen Diplomaten des US-Außenministeriums und wurde 1961 zum erstenmal nach Moskau entsandt. 1987 wurde er von Präsident Ronald Reagan zum US-Botschafter in der Sowjetunion ernannt, wo er bis 1991 tätig war. (Die Rede wurde leicht bearbeitet und aus dem Englischen übersetzt, Zwischenüberschriften sind hinzugefügt.)
Es ist mir eine Freude, vor dieser Gruppe zu sprechen. Es wurde bereits so viel diskutiert, daß ich lediglich auf einige der Ursachen für die Einstellungen und die Situation eingehen möchte, in der wir uns heute befinden und in der sich die Welt befindet.
Wir sollten uns eines bewußt machen: Man kann immer sagen, wir bräuchten eine andere oder bessere Regierung. Aber jetzt müssen wir mit den Regierungen arbeiten, die wir haben. Das ist das erste. Zweitens halte ich es nicht für sinnvoll, alle Probleme einer Seite anzulasten. Damit würde man meiner Meinung nach die Komplexität der Geschehnisse aus den Augen verlieren.
Nun möchte ich auf meine eigenen Erfahrungen mit dem Ende des Kalten Krieges eingehen und einige Fehler aufzeigen, die meiner Meinung nach seitdem gemacht wurden. Als wir den Kalten Krieg beendeten, taten wir das nicht durch einen „Sieg“ über die Sowjetunion, sondern durch Verhandlungen. Während des Kalten Krieges gab es überall regionale Konflikte, von denen die meisten nicht von den beiden Seiten ausgelöst wurden, sondern lokal entstanden.
Das muß man anerkennen. Ein Großteil der Konflikte entstand aus lokalen Umständen und wurde dann durch die Einmischung anderer verschärft. Aber wir dürfen nicht vergessen, daß es nicht die Vereinigten Staaten, die Sowjetunion oder China waren, die diese Probleme des Kalten Krieges ursprünglich verursachten.
Das Problem ist jedoch, daß unsere Bevölkerung dazu neigte, das Ende des Kalten Krieges und den Zusammenbruch der Sowjetunion als ein und dasselbe zu betrachten. Das war es nicht. Der Kalte Krieg endete lange vor dem Zusammenbruch der Sowjetunion, und die Sowjetunion zerbrach nicht aufgrund von Druck von außen, sondern aufgrund innerer Probleme.
Ich denke, die NATO wurde gegründet, um Europa vor einer möglichen militärischen Einmischung aus dem von der Sowjetunion dominierten Osteuropa zu schützen. Lassen Sie uns eines klarstellen: Die Sowjetunion herrschte über Osteuropa und zwang ihm sehr undemokratische Regime auf, die theoretisch sozialistisch waren, es aber in Wirklichkeit nicht waren. Das ist eines der Probleme, wenn man bloß in umgangssprachlichen Begriffen spricht, wie „Sozialismus ist gut, Kapitalismus ist schlecht“ oder so etwas in der Art. Keiner von uns hat ein System, das rein das eine oder das andere ist. Die Politik ist viel komplizierter und fortgeschrittener.
Was hätten wir also tun sollen, als die Sowjetunion zusammenbrach? Im Kalten Krieg gab es, weil zu der Zeit die Sowjetunion wie auch China kommunistische Länder waren – obwohl beide in einer Reihe von Fragen unterschiedlicher Meinung waren, sogar bis hin zu militärischen Konflikten –, diese vorherrschende Vorstellung, daß die Sowjetunion es als ihre Pflicht ansah, das System – das, was sie Sozialismus nannten – zu verteidigen. Tatsächlich respektierte sie nur Länder, die sie beherrschte, und von Sozialismus konnte eigentlich keine Rede sein.
Aber ich glaube, am Ende des Kalten Krieges versäumten es die Vereinigten Staaten, die europäischen Länder zu veranlassen, ihre Differenzen der Vergangenheit zu begraben – so wie wir es nach dem Zweiten Weltkrieg getan hatten, als wir darauf bestanden, daß Frankreich und Deutschland das Kriegsbeil begraben und wieder zusammenarbeiten sollten; das war eine Bedingung für unsere Unterstützung in Europa. Aber statt dessen begannen die Vereinigten Staaten Ende der 1990er Jahre auf Betreiben Osteuropas mit der Erweiterung der NATO.
Man muß verstehen, daß es dabei im Grunde nicht darum ging, daß die Vereinigten Staaten die Welt beherrschen wollten. Ja, wir dachten, wir sollten dort eine Rolle spielen, aber das war eine Reaktion auf Forderungen Osteuropas, das der Meinung war, daß es in Zukunft Probleme geben könnte, weil es in der Vergangenheit von Rußland beherrscht gewesen war. Das Problem dabei war, daß mit der Erweiterung der NATO aus einem Verteidigungsbündnis plötzlich ein potentiell offensives Bündnis wurde.
Ein zweiter Punkt, den ich ansprechen möchte, ist, daß es nicht so sehr um die Erweiterung der NATO und den Schutz von Artikel V ging – der übrigens nicht besagt, daß die Vereinigten Staaten Krieg führen werden, um ein anderes Land zu schützen. Er besagt vielmehr, daß wir einen Angriff auf ein Mitglied als Angriff auf alle betrachten und überlegen, wie wir darauf reagieren. Das kann auch auf andere Weise geschehen als durch Krieg, aber das wird oft mißverstanden.
Was wirklich heikel war, war die Einrichtung ausländischer Militärstützpunkte in diesen Ländern. Das begann mit Basen in Rumänien und Polen. Dabei handelte es sich um Raketen, die angeblich der Verteidigung dienen sollten, die aber leicht zu Angriffssystemen umgebaut werden konnten. So wurde Rußland aus der Sicherheitsstruktur in Europa ausgeschlossen, obwohl der russische Staatschef Boris Jelzin für den Zerfall der Sowjetunion verantwortlich war.
Wenn Leute sagen: „Rußland ist immer ein Problem. Rußland ist immer imperialistisch“, dann ist das Unsinn. Ich halte es für falsch, ein ganzes Land und seine Bevölkerung so oberflächlich zu charakterisieren.
Die Vereinigten Staaten waren nicht immer imperialistisch, im Gegenteil, wir waren meist dagegen. Aber unsere derzeitige Politik ist – wie die der meisten anderen Länder auch – von vielen verschiedenen Tendenzen geprägt. Manchmal ist sie kooperativ, manchmal nicht. Aber sie wird, wie in jedem anderen Land auch, von der Innenpolitik bestimmt, das sollte man nicht vergessen.
Wo stehen wir also jetzt? Wir befinden uns, wie meine Vorredner bereits erwähnt haben, in einer sehr schwierigen Lage. Ich würde sagen, die Vereinigten Staaten durchleben gerade ihre größte Verfassungskrise seit dem Bürgerkrieg im 19. Jahrhundert. Wir sind heute weitgehend mit unseren eigenen innenpolitischen Problemen beschäftigt. Wir haben einen Präsidenten, der meiner Meinung nach entschlossen ist, dafür zu sorgen, daß wir uns militärisch nicht mehr so stark in der Welt engagieren wie früher. Er bedient sich dabei oft sehr rauher Methoden, und wir wissen noch nicht, welche Folgen das haben wird. Aber meiner Erfahrung nach können internationale Beziehungen plötzliche Wendungen nehmen, und ich denke, jeder von uns muß über die Probleme in seinem eigenen Land nachdenken und darüber, wie es dazu gekommen ist. Ich glaube, daß die Vereinigten Staaten wahrscheinlich nach und nach weniger militärische Gewalt einsetzen werden.
Wir haben aber auch einen Präsidenten, der in seinen Methoden deutlich „autoritärer“ ist, wie man sagen könnte. Wir wissen noch nicht, wie sich unser Oberster Gerichtshof und unser politisches System dazu verhalten werden.
Lassen Sie mich abschließend noch zwei Dinge sagen. Ich halte den Völkermord in Gaza für einen der größten moralischen Verfehlungen unserer Generation, und ich sehe hier bei meiner eigenen Regierung und den meisten westeuropäischen Regierungen ein großes moralisches Versagen.
Zweitens möchte ich sagen, daß der Krieg in der Ukraine eine Tragödie ist. Er ist eine Tragödie für die Ukraine, eine Tragödie für Rußland, eine Tragödie für Europa. Und er hätte nicht sein müssen. Ich glaube nicht, daß Rußland mit diesem Krieg seinen eigenen Interessen dient, aber meine Regierung und die westeuropäischen Regierungen hatten klare Warnungen erhalten, die NATO und ihre Basen nicht an die Grenze zu verlegen – ganz besonders nicht in die Ukraine und nach Georgien. Trotzdem begannen alle NATO-Staaten nach den [Minsker] Vereinbarungen, als der Krieg im Donbaß eigentlich beendet sein sollte, heimlich Waffen zu liefern, um die Ukraine in ihren Bemühungen zu unterstützen, den Donbaß zu „befreien“ – der rebelliert hatte, weil die ukrainische Regierung den russischsprachigen Bürgern ihre Rechte genommen hatte. Das ist ein Gebiet, in dem überwiegend Russisch gesprochen wird.
Nun hoffen wir, daß dieser Krieg bald endet. Aber er kann nur enden und Stabilität kann nur erreicht werden, wenn die Situation, die den Krieg beendet, ein gewisses Maß an Stabilität mit sich bringt. Das läßt sich nicht erreichen, indem man die Grenzen der Ukraine wiederherstellt, die von Adolf Hitler und Josef Stalin geschaffen wurden. Vergessen wir nicht, daß die Westukraine, in der überwiegend die antirussische Stimmung herrscht, die das Land gespalten hat, erst dann Stabilität finden wird, wenn es eine ukrainische Regierung gibt, die bereit ist, in Frieden mit Rußland zu leben – ohne ausländische Basen, die Rußland bedrohen könnten –, und die entweder den russischsprachigen Bürgern die volle Staatsbürgerschaft gewährt oder ihnen erlaubt, Teil von Rußland zu werden. Das ist die Realität.
Wenn ich mir diese verschiedenen Probleme anschaue, habe ich den Eindruck, daß viele der aktuellen Strategien des Westens scheitern werden. Beispielsweise bin ich überzeugt, daß dieser Versuch, China irgendwie am Wachstum zu hindern, natürlich scheitern wird. Wenn wir anfangen, den Export bestimmter Technologien zu verbieten, werden sie ihre eigenen entwickeln. Wie werden es erleben. Insofern denke ich, daß sich einige dieser Strategien, die wir verfolgen, sehr schnell von selbst korrigieren werden.
Abschließend möchte ich sagen: Wir befinden uns zwar in einer sehr gefährlichen Phase, aber hoffen wir, daß sich etwas ändern wird. Das kommt wahrscheinlich nicht so plötzlich, aber auf lange Sicht werden sehr viele der heutigen Maßnahmen nicht wirklich funktionieren. Versuchen wir, einen klaren Kopf zu behalten und nicht einfach die eine oder andere Seite für alles verantwortlich zu machen. Wir alle müssen darüber nachdenken, wieviel stärker China wäre, wenn es Hongkong eine gewisse Autonomie gewährt hätte. Das hätte auch eine friedliche Wiedervereinigung mit Taiwan ohne die Androhung militärischer Maßnahmen erleichtert, denn ein Versuch, Taiwan militärisch zu erobern, hätte enorme Folgen. China mag damit Erfolg haben, aber zu welchem Preis? Warum denken alle Seiten immer nur daran, wer die Probleme mit militärischer Gewalt lösen kann? Das ist unmöglich.
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