Aktuelle Ausgabe Diese Ausgabe Kernthemen Suchen Abonnieren Leserforum

Aus der Neuen Solidarität Nr. 46 vom 13. November 1996

  Produktive Kreditschöpfung 
  Neues Bretton Woods
  Glass-Steagall
  Physische Wirtschaft
  Kernenergie
  Eurasische Landbrücke
  Transrapid
  Inflation
  Terror - Cui bono?
  Südwestasienkrise
  11. September und danach
  Letzte Woche
  Aktuelle Ausgabe
  Ausgabe Nr. ...
  Heureka!
  Das Beste von Eulenspiegel
  Erziehungs-Reihe
  PC-Spiele & Gewalt 
  Diskussionsforum
  Wirtschaftsgrafiken
  Animierte Grafiken

Wladimir Woytinsky, der Revolutionär aus St. Petersburg

Kurzbiographie. Wer ist dieser Wladimir Woytinsky, auf den das Arbeitsbeschaffungsprogramm des Allgemeinen Deutschen Gewerkschaftsbundes von 1931-32 maßgeblich zurückgeht?


Woytinskys ökonomisches Denken

Das bewegte Leben des Wladimir Saweljewitsch Woytinsky (12. Nov. 1885 - 11. Juni 1960) ist nicht leicht in wenigen Worten zu umreißen. Sein Vater war Mathematikprofessor in St. Petersburg, die Familie jüdischer Herkunft. Als 17jähriger Gymnasiast verfaßte er sein erstes Buch über Ökonomie, das gar nicht marxistisch ausgerichtet war, sondern vielmehr von der Entstehung der Marktpreise handelte. Ohne sein Alter anzugeben, schickte der junge Verfasser es einem angesehenen Wirtschaftsprofessor. Dieser fand es gut, versah es mit einem Vorwort und ließ es drucken.

Als Student trat Woytinsky 1905 der sozialistischen Bewegung bei und nahm aktiv an der ersten russischen Revolution gegen das verkommene zaristische Feudalregime teil. Er war Vorsitzender des Studentenrates und später Präsident des Rates der Arbeitslosen in St. Petersburg. In dieser Zeit hatte Graf Sergej Witte, ein überzeugter Anhänger Friedrich Lists, der die industrielle und infrastrukturelle Entwicklung Rußlands vorangetrieben hatte, das "Oktobermanifest" durchsetzen können - eine Art Verfassung, die eine konstitutionelle Monarchie, mehr Rechte für das Parlament etc. in Aussicht stellte. Woytinsky bekennt in seiner Autobiographie Stormy Passage (Stürmische Reise), daß er diesem Manifest äußerst skeptisch gegenüberstand und Witte durchaus als Gegenspieler, eben auf der Seite des Regimes, betrachtete. Er berichtet aber auch, daß es ihm als Präsident der Arbeitslosen gelang, mit Wittes Leuten auszuhandeln, daß eine große Zahl von Arbeitslosen gegen zufriedenstellende Bezahlung bei öffentlichen Infrastrukturprojekten (z.B. Brückenbau) eingesetzt wurde. Dies endete alles mit der Niederschlagung der Revolution und Wittes Entlassung.

1908 wurde Woytinsky verhaftet und wegen Mitgliedschaft in der Sozialdemokratischen Arbeiterpartei Rußlands (SDAPR) zu vier Jahren schwerer Zwangsarbeit und lebenslanger Verbannung nach Sibirien verurteilt. 1912 wurde er aus der Haft entlassen und begab sich mit einem Freund erst einmal auf eine Entdeckungsreise durch das kaum besiedelte Sibirien. In der Verbannung lernte er auch seine Frau Emma kennen, und im Juli 1917 heirateten sie. Die Oktoberrevolution beendete die Verbannung, und das junge Ehepaar kehrte nach St. Petersburg zurück.

Woytinsky unterstützte den Umsturz gegen das Feudalregime, wollte es aber durch eine demokratische parlamentarische Ordnung ersetzt sehen, wie der Menschewist Tseretelli sie forderte. Deshalb kam es 1917 nicht nur zum Bruch mit Lenin, sondern Woytinsky organisierte bewaffneten Widerstand von Teilen der Armee gegen Lenins bolschewistischen Staatsstreich. Nach der Niederlage kam er erneut in Haft, konnte jedoch nach einigen Monaten aus dem Lager entfliehen und nach Georgien entkommen, wo er die kurzlebige demokratische Regierung als Redakteur der Zeitung Borba und Wirtschaftsberater der georgischen Gesandtschaft in Italien (1919-20) und Mitglied der georgischen Gesandtschaft in Paris (1920-21) unterstützte.

1922 kamen die Woytinskys nach Berlin. Wladimir schrieb Artikel für mehrere Zeitungen über wirtschaftliche Themen. Emma war seine wissenschaftliche Partnerin und widmete sich ganz dieser Aufgabe, denn Kinder hatten sie nicht. 1923 begann die Arbeit an dem großen statistischen Almanach Die Welt der Zahlen, die Woytinskys Ruf als ernstzunehmender Wirtschaftswissenschaftler festigte. 1929 wurde er Leiter der Statistischen Abteilung des ADGB und gehörte künftig dem Vorstand des ADGB an. "Woytinsky blieb buchstäblich bis zum allerletzten Lebenstag der Deutschen Gewerkschaftsbewegung auf seinem Posten", schrieb Alfred Braunthal von der Federation of Free Trade Unions 1960. "Als der ADGB-Vorstand beschloß, sich der Forderung der Nazis nach Beteiligung der Gewerkschaften an der Kundgebung zum 1. Mai 1933 zu beugen, stimmte Woytinsky als einziger gegen diese Entscheidung. Der Freiheitskämpfer, der vom zaristischen Regime und vom bolschewistischen Regime aus den gleichen Gründen eingesperrt worden war und das Land seiner Geburt verlassen hatte, weil er in der Knechtschaft nicht leben konnte, war ebensowenig zu Kompromissen mit dem Faschismus bereit. An dem Tag, als er gegen den Kompromiß mit den Nazis stimmte, legte er sein Amt nieder und bemühte sich um Asyl in der demokratischen Schweiz."1

Nach Zwischenstationen in Zürich, Paris und Genf, wo er für das International Labor Office arbeitete (1933-35), wanderte er dann mit seiner Frau 1935 in die Vereinigten Staaten aus, deren Staatsbürgerschaft er 1941 erhielt.

Er kam in das Amerika unter Präsident Franklin Delano Roosevelt und war begeistert von dessen Persönlichkeit und der entschlossenen, wenn auch pragmatischen Art, wie dieser die Probleme der Weltwirtschaftskrise anging und meisterte. Was er in seiner Autobiographie über "F.D.R." berichtet und hervorhebt, sagt mindestens ebensoviel über Woytinskys innere Einstellung aus.2 So zitiert er die abschließenden Worte aus Roosevelts Antrittsrede: "Das einzige, was wir fürchten müssen, ist die Furcht selbst - den namenlosen, gedankenlosen und ungerechtfertigten Terror, der die notwendige Anstrengung, den Rückzug in Vormarsch zu verwandeln, lähmt." Woytinsky stellt dies in den Zusammenhang mit folgender Stelle aus der Rede, an der Roosevelt am Tage seines Todes arbeitete: "Wir müssen weiterhin alles in unserer Macht stehende tun, um den Zweifel und die Ängste zu besiegen... Das einzige, was die Verwirklichung unserer Pläne für morgen begrenzt, sind unsere heutigen Zweifel." Belustigt erzählt Woytinsky über den Besuch des britischen Königspaares in den USA. Die Zeitungen hätten berichtet, daß der Präsident zum König gesagt habe: "Nennen Sie mich Franklin, Ich werde Sie George nennen." Das war sehr populär.

Natürlich vergleicht Woytinsky Roosevelts Wirtschaftspolitik mit der Deflationskatastrophe der Weimarer Republik: "Baute F.D.R. seine Nation nicht ebenso effektiv auf, wie Brüning die Weimarer Republik zerstört hatte? Einfache Leute, mit denen wir in allen Landesteilen zusammentrafen, betrachteten Roosevelt als ihren Präsidenten."

In den USA war Woytinsky zunächst für den Central Statistical Board (1935), für verschiedene sozialpolitische Ausschüsse und mehrere Jahre (1942-47) für den Social Security Board tätig, wo er half, ebendie Systeme der Renten- und Arbeitslosenversicherung aufzubauen, welche die "Konservative Revolution" heute zerstören will. Anschließend arbeitete er an verschiedenen wissenschaftlichen Projekten der Rockefeller Foundation, der Johns Hopkins University und des Twentieth Century Fund. Zwei lange Vortragsreisen führten ihn durch den Fernen Osten und Iberoamerika, bevor er am 11. Juni 1960 in Washington starb.

Woytinskys ökonomisches Denken

Woytinsky wird häufig in die Schublade der "Keynesianer" eingeordnet. Abgesehen davon, daß ihm dies bestimmt nicht recht gewesen wäre, stimmt es auch nicht. Erstens hatte Woytinsky seinen eigenen Kopf und entwickelte sein Konzept einer aktiven Konjunkturpolitik mehrere Jahre, bevor Keynes' Allgemeine Theorie der Beschäftigung, des Zinses und des Geldes 1936 erschien. Zweitens unterscheidet sich Keynes' deficit spending (Vermehrung der Staatsschulden) grundsätzlich von Woytinskys Konzept zusätzlicher Kaufkraft durch staatliche Kreditschöpfung zu produktiven Zwecken. Und drittens hätte Woytinsky niemals vorgeschlagen, Leute völlig unproduktiv "Löcher graben und wieder zuschütten zu lassen", nur um deren Kaufkraft zu sichern. Woytinsky forderte vielmehr großzügige Infrastrukturprojekte für den "Wiederaufbau Europas".

Obwohl Woytinsky auch in der Physik ausgebildet war, ist sein Metier weniger die Wissenschaft der physischen Wirtschaft, wie Lyndon LaRouche sie entwickelt hat und welche die nichtlinearen Zusammenhänge zwischen wissenschaftlicher Entdeckung, technischer Anwendung, Lebensstandard und Bevölkerungspotential untersucht. Aber er repräsentiert gewissermaßen die soziale Seite der physischen Wirtschaft, die ein vitales Interesse an der technischen Weiterentwicklung von Industrie- und Landwirtschaft hat und diese als unverzichtbares Mittel zur Erreichung besserer Lebensbedingungen für die breite Masse der Bevölkerung betrachtet.

Woytinsky würde sich wohl auch nicht als "Listianer" bezeichnet haben, obwohl er Mitglied der Friedrich-List-Gesellschaft war und genau wie List in der Wirtschaftspolitik auf eine Kombination aus freiem Unternehmertum und einer wichtigen Leitfunktion des Staates setzte. Auch die Rolle von Erziehung und Kultur für die wirtschaftliche Leistungsfähigkeit eines Staates betonte Woytinsky immer wieder.

Woytinsky gilt vor allem als "Statistiker", nicht zuletzt wegen des großen Werks Die Welt in Zahlen, das in sieben Bänden wirtschaftliche und politische Daten, Tabellen, erläuternde Texte und knappe Analysen über die wichtigsten Länder der Erde lieferte. Dabei ersetzte das Team Wladimir und Emma ein ganzes Heer von Experten, die normalerweise für solche umfassenden Werke herangezogen werden.

Woytinsky verrät übrigens in einem Artikel über die "Limits of Mathematics in Statistics"3, was das eigentliche Geheimnis erfolgreicher statistischer Prognosen ist - die richtige Hypothese: "In Wirklichkeit, ob man nun die Verbrauchsfunktion oder irgendeine andere Kristallkugel der Wirtschaftsprognose anwenden will, muß man eine bestimmte Meinung darüber haben, wie die Dinge sich entwickeln werden. Trifft diese Meinung zu, dann besteht auch eine gute Chance, daß man sich eine Formel aussucht, die später bestätigt wird; hat man aber die Entwicklung falsch eingeschätzt, wird man auf die falsche Formel setzen."

Woytinskys Geringschätzung für die "Magie der Mathematik" geht noch weiter. Er hält nämlich das, was den Inhalt der Statistik ausmacht, die Welt der Wirtschaft und der menschlichen Beziehungen, für überhaupt nicht mathematisch beschreibbar, weil es sich um etwas Lebendiges handele: "Immer, wenn wir die Erscheinungen dieser Welt zu messen versuchen, entdecken wir, daß alle lebendigen Dinge sich der präzisen Messung entziehen... und dennoch können wir sie ohne quantitative Analyse nicht verstehen und einschätzen. Man braucht mathematische Instrumente bei dieser Arbeit, aber die mathematischen Gesetze, die das Euklidische Universum beherrschen, lassen sich nicht auf die menschlichen Beziehungen ausdehnen. Deren quantitative Analyse erfordert mehr als mathematische Fertigkeiten sowie eine genaue Kenntnis des Bereichs, aus dem die Daten stammen. Sie erfordert Vorstellungskraft und Intuition. Eine solche Analyse ist mehr eine Kunst als eine Wissenschaft."

Bei seinen Prognosen ließ Woytinsky sich ebensowenig wie LaRouche von anderslautenden Meinungen der Fachwelt einschüchtern. Die Fachwelt sagte voraus, nach Kriegsende werde es durch das Ende der Kriegswirtschaft Massenarbeitslosigkeit, Mangel an Nachfrage und ein Absinken des Lebensstandards geben. Woytinsky war der einzige, der schon lange vor Kriegsende einen anhaltenden Nachkriegsaufschwung ansagte, weil er sah, welche wirtschaftlichen Kräfte durch Roosevelts Kriegsmobilisierung und die strukturellen Änderungen im Rahmen des New Deal freigesetzt worden waren.

Man kann es sich denken: Woytinsky liebte seine Wahlheimat Amerika, und an den Amerikanern schätzte er genau das - ihre freiheitliche Kultur, Tatkraft, geistige Beweglichkeit und den Willen zur Veränderung - , was die USA in den 50er und 60er Jahren zur führenden Wirtschaftsmacht der Erde aufsteigen ließ.

Es ist leicht zu erkennen, daß Woytinsky ganz und gar nicht in die heutige Agenda der herrschenden Finanzelite von "Globalisierung" und "Abbauwahn" hineinpaßt. Deswegen haben wir ihn nun zum Thema gemacht. Unsere Regierung ebenso wie die Opposition in Bonn sollten sich folgenden Ausspruch Woytinskys eine Warnung sein lassen: "Eine Gesellschaft, die es nicht schafft, normale Arbeitsmöglichkeiten für einen großen Anteil ihrer Mitglieder bereitzustellen, hat ihre Existenzberechtigung verwirkt, und selbst wenn sie diese Berechtigung behielte, sie hätte nicht die Kraft, sich gegen die Zerreißkräfte von innen und von außen zu wehren."4

Gabriele Liebig


Anmerkungen

1. Alfred Braunthal, Adviser of the European Labor Unions, in: Emma S. Woytinsky, So Much Alive, New York 1961, S. 85f.

2. W. Woytinsky, Stormy Passage, New York 1961, S. 499ff.

3. W. Woytinsky, Limits of Mathematics in Statistics, The American Statistician, Washington D.C., Februar 1954, 6 S.

4. W. Woytinsky, Three Sources of Unemployment, International Labour Office, Genf 1935, 166 S., 41 graphische Darstellungen.

 

Aktuelle Ausgabe Diese Ausgabe Kernthemen Suchen Abonnieren Leserforum