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Die Antwort darauf kann kurz und knapp lauten: Weil wir das Humboldtsche Bildungssystem zerstört haben, und zwar gründlich. Es galt lange Zeit als eines der besten weltweit, und nicht zufällig sind unzählige Erfinder und Wissenschaftler daraus hervorgegangen. Zwar genießen wir immer noch dank fleißiger und gut ausgestatteter Vorfahren einen gewissen Wohlstand, aber ich möchte behaupten, daß wir die Fähigkeit, zukünftigen Wohlstand zu erzeugen, bereits verloren haben.
Ohne weitere überflüssige Behauptungen anzubringen, wird Ihnen folgendes Beispiel verdeutlichen, was gemeint ist: Thema „grüner Stahl“. Da schon länger davon geredet wird, daß unsere energieintensive Stahlproduktion mit ihren Hochöfen das Klima bedroht, gibt es seit kurzem ein Projekt bei Thyssen Krupp und der Salzgitter AG, das statt schmutzigen Kohlestaubs sauberen Wasserstoff für die Produktion benutzen mochte. Dazu sagt der Projektleiter, Dr. Volker Hille von der Salzgitter AG:
„Technisch gesehen könnten wir in Salzgitter sofort loslegen, in einer ersten Phase bis 2025 bis zu 26 Prozent CO2 einsparen und bis 2050 die Klimavorgaben mit 95 Prozent weniger CO2 spielend erfüllen. Woran hapert es also? Zum einen steht die benötigte Menge Wasserstoff auf dem Markt noch nicht zur Verfügung. Für die vollständige Dekarbonisierung ihrer Produktion bräuchte allein die Salzgitter AG Elektrolyseure mit einer Leistung von knapp 1.700 Megawatt – bei einer Leistung von drei Megawatt pro moderner Windanlage kein Pappenstiel.“1
Was sagt er da? Um im Elektrolyseverfahren – wohlgemerkt nur im Werk Salzgitter! – genügend Wasserstoff herstellen zu können, bräuchte man eine elektrische Leistung von 1700 Megawatt. Man bräuchte also 566 Windmühlen dazu. Stellen Sie sich bitte 566 Windmühlen rund um das Werk vor, dazu die bisweilen eintretende Windstille. Minister Altmeier ist aber der Meinung, Deutschland werde sich ausgerechnet mit dieser Wasserstoff-Strategie zum Weltmeister machen.
Wissen Sie, was ich meine? Dieses jüngste Beispiel ist kein Einzelfall. Studien von der EU, aus Ministerien, aus Denkfabriken und NGOs sind voll mit ideologischen Behauptungen und Phrasen, die auch durch ständiges Wiederholen kein bißchen richtiger werden. Warum redet man ständig von Effizienz und Versorgungssicherheit, wenn man gerade dabei ist, beides gründlich zu beseitigen?
Der Humanist, Bildungsreformer und Staatsmann Wilhelm von Humboldt (1766-1835) ehrte den Menschen, auch den Ärmsten. Im Gegensatz zur landläufigen Meinung zielte das von ihm geschaffene Humboldtsche Bildungssystem nicht auf die Ausbildung irgendwelcher Eliten. Der wesentliche Erfolg dieses Bildungssystems bestand in dem weitreichenden Auftrag der Elementarschulen, die man heute Hauptschulen nennt. Der heutige Zustand selbiger läßt erahnen, daß das ganze Fundament unseres Bildungssystems mehr als morsch geworden ist. Wilhelm von Humboldt war nämlich der Meinung, daß eine gute Bildung für alle Bürger, egal aus welchen Verhältnissen kommend, über das Wohlergehen der Gesellschaft entscheidet. Die rasante wissenschaftliche und industrielle Entwicklung in Deutschland im 19. Jahrhundert gab ihm nicht nur Recht, sondern sorgte für große Anerkennung in der ganzen Welt.
Wir brauchten nicht erst PISA, um den mangelhaften Zustand heutiger Verhältnisse zu erkennen, aber die so schwer gewordene Diskussion um die Lösung beinhaltet die tiefschürfende Frage: Was ist eine gute Ausbildung? Oder: Ist eine gute Ausbildung heute anders als gestern? Hier ein Zitat Humboldts über die Güte der Lehrer:
„Nichts ist so wichtig bei einem höheren Staatbeamten, als welchen Begriff er eigentlich nach allen Richtungen hin von der Menschheit hat, worin er ihre Würde und ihr Ideal im Ganzen setzt, mit welchem Grade intellektueller Klarheit er es sich denkt, mit welcher Wärme er empfindet; welche Ausdehnung er dem Begriff der Bildung gibt, was er darin für notwendig, was nur gewissermaßen für Luxus hält; wie er sich die Menschheit in concreto vorstellt, welchen Grad der Achtung oder Nichtachtung er für die niederen Volksmassen hegt, wie er bürgerlich gesinnt ist, den Menschen mit Gleichgültigkeit in der Staatsform untergehen, oder im Gegenteil diese sich in der Freiheit der Individuen auflösen sieht... Dadurch bestimmt es sich, ob ein Mensch konsequent oder inkonsequent, hoher oder gemeiner Natur, borniert oder liberal, einseitig oder vielseitig ist, und zuletzt, ob es ihm mehr auf den Gedanken oder mehr auf die Wirklichkeit ankommt, oder ob er, was die Ansicht des großen Staatsmannes ist, von der Überzeugung durchdrungen wird, daß das Ziel nur dann erreicht ist, wann der erstere der Stempel des letzteren geworden ist.“2
„Woah!!!!!!“ würde man heute sagen. Der wichtigste Unterschied zu damals ist wohl der, daß sich der Begriff der Menschheit geändert hat. Die Vorstellungen von Ideal und Würde sind fast ganz verschwunden, und an allen Ecken und Enden unserer Kultur kommt Barbarisches zum Vorschein – der Mensch bedrohe den Planeten, verschmutze alles, sei zu zahlreich und überhaupt sei der Rückschritt jetzt attraktiver. Wir haben den Wohlstand satt, bevor wir dem Rest der Menschheit davon nur einen Anteil gönnen, und diese Verwilderung führt schließlich dazu, daß man lieber zu Eseln redet als zu Menschen.
Vielleicht gab Humboldt gerade aus diesem Grund der Charakterbildung eine so große Bedeutung in der Elementarbildung. Sie sollte ein Fundament sein für alles, egal ob der Schüler seinen Weg zum Krankenpfleger, Handwerker, Ingenieur oder Professor nehme. Intellektuelle Klarheit, Ehrlichkeit, Verantwortlichkeit, Gemeinschaftsfähigkeit, Wissensbegierde, Anstand, Disziplin und Ausdauer - alles Eigenschaften, deren Voraussetzungen in jungen Jahren geschaffen werden.
Wenn Humboldt von vollständiger Menschenbildung sprach, meinte er mehr als rechnen, schreiben und lesen zu lernen, aber ausdrücklich keinerlei Spezialbildung mit Blick auf irgendwelche Berufe. Alles zielte darauf ab, daß verstanden wird, was man liest und versteht, was man sagt, und daß die Urteilsfähigkeit geschärft werde:
„... daß es wenigstens in jeder größeren Stadt eine oder einige so vorzügliche Elementarschulen gebe, daß es für keinen Nachteil angesehen werden kann, wenn auch viele Bürger allein sie und nie eine andere Schule besuchen. Und wenn man bedenkt, daß der Elementarunterricht, wie er jetzt hier genommen wird, alles in sich faßt, wovon die Klarheit und Bestimmtheit der Begriffe abhängt, worauf, wie auf einem Fundament, die höchste Mathematik ruht, und was die Einbildungskraft zu den beiden Hauptgattungen der Kunst, der bildenden und musikalischen, anregt und daß dies alles auf eine die Empfindung stark bewegende Weise behandelt wird, so dürfte man gewiß in Versuchung geraten, diese Erziehung der auf manchen unserer berühmten Gymnasien vorzuziehen.“3
In der Tradition des Philosophen, Wissenschaftlers und Staatsmannes Gottfried Wilhelm Leibniz (1646-1716), der an den russischen Zaren Peter den Großen einmal schrieb, daß er den Himmel als sein Vaterland betrachtet und alle wohlwollenden Menschen als seine Bürger, dachte sich Wilhelm von Humboldt sein Erziehungskonzept für alle Menschen und im Prinzip auch für alle Zeiten:
„Wenn wir eine Idee bezeichnen wollen, die durch die ganze Geschichte hindurch in immer mehr erweiterter Geltung sichtbar ist, wenn irgend eine die vielfach bestrittene, aber noch vielfacher mißverstandene Vervollkommnung des ganzen Geschlechts beweist, so ist es die Idee der Menschlichkeit: das Bestreben, die Grenzen, welche Vorurteile und einseitige Ansichten aller Art feindselig zwischen die Menschen gestellt, aufzuheben und die gesamte Menschheit, ohne Rücksicht auf Religion, Nation und Farbe als einen großen, nahe verbrüderten Stamm, als ein zur Erreichung eines Zweckes, der freien Entwicklung innerlicher Kraft bestehendes Ganzes zu behandeln. Es ist dies das letzte, äußerste Ziel der Geselligkeit und zugleich die durch seine Natur selbst in ihn gelegte Richtung des Menschen auf unbestimmte Erweiterung seines Daseins...“4
Anmerkungen
2. Wilhelm von Humboldt, Werke in 5 Bänden, J.G. Cotta`sche Buchhandlung. „Gutachten über die Organisation der Ober-Examinations-Kommission“, Kap. 4, S. 83.
3. Wilhelm von Humboldt, Werke in 5 Bänden, J.G. Cotta`sche Buchhandlung. „Königsberger Schulplan“, S. 173.
4. Wilhelm v. Humboldt, zitiert von seinem Bruder Alexander im Kosmos, für die Gegenwart bearbeitet von Hanno Beck, Brockhaus, Stuttgart 1978.