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Die Schöpfungen des Menschen

Von Lyndon LaRouche
- 1. Teil -

Diese Schrift, die wir in mehreren Teilen veröffentlichen, erschien auf englisch im Juni 2005 im Nachrichtenmagazin Executive Intelligence Review (EIR).


Vorwort
1. Wirtschaft als Kunst und Naturwissenschaft

In der Musik

Vorwort

Kürzlich erinnerte mich meine Frau Helga Zepp-LaRouche daran, daß Kardinal Nikolaus von Kues betont hatte, die Entdeckung universeller Naturprinzipien durch den Menschen verändere das Universum in dem Sinne, daß neue wirkende Kräfte erzeugt werden. Man sollte anmerken, daß Helga sich seit etwa drei Jahrzehnten, unterschiedlich intensiv, mit dem Werk des Kusaners befaßt. Sie begann Mitte der 70er Jahre, von mir nachdrücklich ermutigt, als sie häufig den damals weltweit führenden Kues-Experten, Prof. Haubst von der Cusanus-Gesellschaft, konsultierte.1

In unserem innerfamiliären Dialog haben wir Kues' Gedankengang unterschiedlich dargestellt, aber wir hatten beide Recht. Die Erklärung dieses scheinbar paradoxen Punktes wird für die internationale LaRouche-Jugendbewegung (LYM) und andere von Interesse sein, deshalb liefere ich hiermit die entsprechende Erklärung.

Wie ich im folgenden betone, hat jede nachweisbare Entdeckung eines universellen Prinzips des physischen Universums zwei Aspekte. Dies betrifft, als wirkende physische Prinzipien, auch jene wahren Prinzipien der klassischen künstlerischen Komposition, mit denen sich unsere Vereinigung in den letzten Jahrzehnten befaßt hat - beispielsweise die Bedeutung der Stimmung c'=256 Hz für die Komposition und Aufführung von Musik mit Wohltemperierung und Florentiner Belcanto-Gesang. Der erste Aspekt jeder nachweisbaren Entdeckung eines universellen Prinzips ist, wie der Geist des betreffenden Entdeckers ein schon existierendes universelles Prinzip in seinem Ausdruck als Potential erkennt. Aber dann benötigen wir, als zweites, einen experimentellen Beweis dieses Potentials, welches, wenn der Mensch es entdeckt und anwendet, der Menschheit dann in einer Art und Weise dient, die das Universum verändert. So vergrößert also eine neue Entdeckung eines Prinzips, zumindest indirekt, die Macht des Menschen im und über das Universum. Nikolaus von Kues behandelt in seinem Werk beide Aspekte des Entdeckungsprozesses, aber, wie Helga zurecht betont hat, hebt der Kardinal den zweiten, die Rolle des Menschen als Schöpfer in der heiligen Ebenbildlichkeit des Schöpfergottes, besonders hervor. Nikolaus von Kues tat dies auf eine Art und Weise, die ihn heute in der Rückschau zu dem bedeutendsten unter den Renaissance-Denkern macht, denen wir die allgemeinen Grundgedanken zu verdanken haben, auf denen die besonderen Errungenschaften der neuzeitlichen europäischen Zivilisation im Vergleich zu früheren Zeiten beruhen.

So liegt das Eigentümliche der Entdeckung eines Prinzips durch den Menschen darin, daß eine allgemeine Implikation des existierenden Universums entdeckt wird - ein Potential, das bis dahin dem Wissen der Menschheit verborgen geblieben war. Indem der Mensch auf der Grundlage dieses entdeckten Potentials handelt, verändert er das Universum, er versetzt es in einen neuen dynamischen Zustand. Dies bestätigt wieder einmal die Sicht Heraklits und Platons, daß es im Universum keine Ausnahme von der ständigen qualitativen Veränderung als grundsätzlicher ontologischer Realität der Vorgänge gibt.2 Das Universum ist kein Bereich, in dem manchmal Änderungen der Prinzipien erlaubt werden. Das Universum wird ständig auf diese Weise verändert, ändert sich ständig selbst, wie es beispielsweise Heraklit und Platon, aber auch W.I. Wernadskij in seiner Ausarbeitung der Vorstellung von Biosphäre und Noosphäre betont haben.

Deshalb hatten wir, Helga und ich, beide recht.

Dies sollte unser aller Aufmerksamkeit auf den Begriff des "Realisierens" oder "Verwirklichens" lenken: auf die Frage, wie wir diesen Begriff in der wissenschaftlichen Praxis anwenden sollten. Das betrifft natürlich auch das Fach, in dem ich eigene Entdeckungen gemacht und außergewöhnliches Fachwissen angesammelt habe, das Fachgebiet der angewandten Wirtschaftswissenschaft als Naturwissenschaft, wie Gottfried Wilhelm Leibniz sie als erster in seinen betreffenden Arbeiten zwischen 1671-1716 definierte.

Seit ich in der Wochenzeitschrift Executive Intelligence Review am 3. Juni 2005 meinen Aufsatz über "Wernadskij und das Dirichlet-Prinzip" veröffentlichte, haben meine Mitarbeiter, insbesondere die LaRouche-Jugend, dem Thema der "Dynamik" vermehrt Aufmerksamkeit gewidmet. Bruce Director, Dr. Jonathan Tennenbaum und Mitglieder der LaRouche-Jugendbewegung haben ihre wissenschaftliche Bildungsarbeit beschleunigt, da die moderne Lehre in der Volkswirtschaft und anderen Fächern für die heutige und zukünftige Praxis der Menschheit allgemein vom Standpunkt der Riemannschen Theorie der Abelschen Funktionen neu definiert werden muß.

Dabei ist zu betonen, daß wir in diesem Bericht den Begriff der Kraft immer in dem Sinne verwenden, wie ihn Leibniz verwendete - sowohl bei seiner Gründung der physischen Wirtschaftswissenschaft als auch bei seiner Neudefinition der Grundlage der gesamten Physik nach dem Werk des Kues-Nachfolgers Johannes Kepler. Wenn man diesen Aufsatz liest, sollte man daran denken, daß dieser Begriff der Kraft bei Leibniz in den Begriffen zur Dynamik zum Ausdruck kommt, mit denen Leibniz (gemeinsam mit Jean Bernouilli) die einzige kompetente Grundlage des Kalkulus entdeckte und entwickelte, nämlich das auf die Kettenlinie gestützte Prinzip der universellen geringsten Wirkung. Im übrigen beruhten alle meine Erfolge - im Gegensatz zum bisherigen Versagen aller meiner beruflichen Konkurrenten auf dem Gebiet der Wirtschaftsprognosen - darauf, daß ich die mechanistische Methode, auf die sich meine Fachkonkurrenten in ihren veröffentlichten Argumenten verlassen, verworfen habe.

Nun, da der wirtschaftliche Zusammenbruch des gegenwärtigen Weltwährungs- und Finanzsystems seinem Höhepunkt entgegeneilt, haben viele, die früher meine Warnungen vor den drohenden Gefahren gerne als übertrieben oder sogar völlig falsch abtun wollten, meine langgehegten, reichlich bestätigten Ansichten zur Volkswirtschaft zustimmend neu beurteilt. Viele im In- und Ausland möchten nun meine Einschätzungen und Vorschläge als wichtig einschätzen, aber um so mehr neigen sie zur Sorge: Sie fürchten, wenn sie einiges an meiner Arbeit akzeptieren oder bewundern, könnten sie mögliche Fehler meinerseits in anderen Bereichen übersehen. Ich bin daher verpflichtet, für die wachsende Zahl einflußreicher und anderer Personen, die meine Weltsicht in ihrer vollen Bedeutung auch über das zur Wirtschaft bereits ausdrücklich Gesagte hinaus kennenlernen wollen, noch einmal die Gesamtheit meiner Methoden und Weltsicht transparent zu machen.

Die jüngste kurze Diskussion mit Helga über das Werk des Kusaners ist daher ein angemessener Ausgangspunkt, um eine solche größere Bandbreite von Fragen zu behandeln.

Den Ursprung meiner Entdeckungen im Gebiet der physischen Wirtschaftswissenschaft, kann ich, wie ich früher schon öfter berichtete, auf ein Ereignis zu Beginn meines Geometrieunterrichtes in der Sekundarstufe zurückverfolgen.4 Ich kann aber bis heute, fast 70 Jahre später, noch nicht sagen, inwieweit dieser Vorfall mich dazu veranlaßte, mich der Leibnizschen Richtung anzuschließen, und wieviel mein unersättlicher Lesehunger für englische Darstellungen der französischen, englischen und deutschen Philosophen des 17. und 18. Jh. damals zu meiner Aussage in der ersten Geometriestunde beitrug. Sicher ist, daß ich ungefähr seit jener Zeit ein überzeugter Anhänger von Leibniz war und geblieben bin.

Genau das ist der technische Fehler in den Werken und Meinungen meiner namhaften Konkurrenten im Bereich der Wirtschaftsanalyse und -prognose. Sie hatten sich an dem Punkt, als sie eine Methode wählen mußten, für den falschen Weg entschieden. Ihr bisheriges Versagen wurzelt in ihrer Vorliebe für mechanistische Methoden, weil sie unter äußeren Einflüssen die Methoden von Paolo Sarpis Empirismus vorzogen und die Methoden von Leibniz und dessen Vorläufern bis hin zu den Pythagoreern und Platon ablehnten. Die Folge war, daß sie diejenigen Aspekte der wahren Natur des Menschen, auf denen kompetente langfristige Urteile in der Volkswirtschaft beruhen, gar nicht berücksichtigen wollten.

Diese Ökonomen hatten bisher völlig übersehen, welche Bedeutung das von Leibniz geteilte Menschenbild hat, wenn man alle die wissenschaftlichen und künstlerischen Inhalte definiert, die bei der Einschätzung aller als "wirtschaftlich" zu bezeichnenden Wirkungen von Belang sind. Wernadskijs Auffassung der Kombination aus Biosphäre und Noosphäre, als Sproß des Leibnizschen Erbes betrachtet, ist der am besten geeignete Rahmen, um die Anwendung der Wirtschaftswissenschaft - wie ich sie als Wissenschaft der physischen Wirtschaft neu definiert habe - für die unmittelbare Zukunft der Menschheit zu definieren. Deshalb lenke ich bei dieser Gelegenheit die Aufmerksamkeit auf die breitere kulturelle Bedeutung der Wernadskijschen, dynamischen Auffassung des Universums und der Gesellschaft.

1. Wirtschaft als Kunst und Naturwissenschaft

Der offensichtlichste Hinweis auf die Existenz einer höheren Klasse von Hinterlassenschaften, die nicht durch gewöhnliche lebende Prozesse entstanden, sind die von Archäologen entdeckten Überreste, die nicht anders als durch eine spezifisch menschliche Intelligenz entstanden sein können. Solche Hinterlassenschaften, die Wernadskijs Noosphäre angehören, sind folgendermaßen zu definieren: Sie sind das Ergebnis der Anwendung eines wissenschaftlichen Prinzips, das implizit, als Potential schon vorhanden war, bevor die Menschheit es anwendete, aber sie haben als archäologische oder vergleichbare Überreste der Anwendung eines natürlichen Phänomens nicht existiert, bevor die Menschheit die in ihnen ausgedrückten Prinzipien entdeckte und anwendete. Die Kraft, die bewußt und wirksam ausgedrückt wird, wie es sich an der erfolgreichen Anwendung solcher Prinzipien zeigt, ist ein Potential, das als Hinterlassenschaft sozialen Handelns auftreten kann, vor allem aber sollte man es als Hinterlassenschaft eines Prinzips betrachten, das allein innerhalb des souveränen Geistes des einzelnen Menschen, der es entdeckt hat, als anwendbare Idee seine Existenz gefunden hat.

Alle kompetente Praxis der Archäologie als Zweig der Arbeit des Historikers beruht stillschweigend auf diesen strengen Definitionen.

Jede kompetente Geschichtsschreibung, als die Wissenschaft der Geschichte der menschlichen Gattung, beruht auf der umfassenderen Anwendung dieser strengeren Definition des Grundprinzips der Archäologie. Wirkliches Wissen über die Geschichte, eingeschlossen die Archäologie als Zweig der Geschichtswissenschaft, ist im wesentlichen Geschichte der Ideen: die Geschichte der Ideen, welche die besondere geistige Aktivität, die zur Entdeckung oder Wiederentdeckung eines universellen Naturprinzips oder seines Äquivalents in der klassischen Kunst führt, zum Ausdruck bringen.

Diese Ideen lassen sich nur weitervermitteln, indem der Einzelne den geistigen Vorgang der betreffenden Entdeckung in den souveränen Erkenntnisprozessen seines eigenen Geistes nachvollzieht. Diese Ideen des individuellen souveränen Geistes lassen sich in mitteilbarer Form nur auf eine ganz bestimmte Art und Weise praktisch ausdrücken - eben der Praxis, die damit verbunden ist, daß der experimentell nachprüfbare Vorgang der Entdeckung eines universellen Naturprinzips innerhalb der menschlichen Erkenntnis nachvollzogen wird.

Die moderne Gesellschaft in den heute weltweit verbreiteten europäischen Kulturen räumt mehr oder weniger widerwillig ein, daß man den Begriff des "universellen Prinzips" auf entsprechende Fragen in dem Bereich, den man "Naturwissenschaft" nennt, anwenden muß; aber wenn man erklärt, daß man denselben Begriff auch im Bereich der Kunst anwenden kann, ruft man auch heute noch oft einen unerfreuten Gesichtsausdruck hervor. Beginnen wir daher mit der Rolle eines universellen Naturprinzips in der klassischen Komposition in der Kunst.

In der Musik

Zur Veranschaulichung dieses Punktes für die Kunst wähle man zunächst eine kurze Komposition von Wolfgang Amadeus Mozart, die für die Arbeit eines kleineren Chores geeignet ist, sein Ave Verum Corpus. Man kann im Experiment nachweisen, daß diese Komposition nicht Mozarts Absicht angemessen aufgeführt werden kann, wenn der Dirigent und die Mitglieder des Ensembles den Notentext einfach nur formell richtig, schulbuchartig auffassen. Für die richtige Aufführung benötigt man eine Unterweisung in etwas, das für manche außerhalb der formalen Aspekte des Notentextes liegt, nämlich in der Wechselbeziehung zwischen - oder wenn man so will, "hinter" - den Singstimmen im Fortschreiten der Aufführung als ganzer. Dieses "Etwas" kommt bei diesem Mozartschen Stück in der Rolle der lydischen Tonart zum Ausdruck, die Beethoven in seinem berühmten Streichquartett Opus 132 aufgegriffen hat.5

Diese Besonderheit der Aufführung, auf die ich mich hier beziehe, ist als Wirkung vom betreffenden Komponisten keineswegs unbeabsichtigt. Genau das war seine Absicht, wie Beispiele der Chor- und Instrumentalmusik führender klassischer Komponisten, besonders von Bach bis Brahms, prinzipiell belegen. Im Notentext spiegelt sich wider, daß der Komponist für diese Komposition ein ganz bestimmtes Potential im Sinne hat, welches die Aufführenden verwirklichen müssen.

Wir können das Handwerkszeug dieses klassischen Prinzips bis zu den Pythagoreern zurückverfolgen, und die Grundlagen sind in den erhaltenen Fragmenten von Leonardo da Vincis De Musica als Absicht erkennbar, doch es war Johann Sebastian Bach, der das System des wohltemperierten Kontrapunktes schuf, auf das sich alle bedeutenden klassischen Komponisten stützen.

Dabei müssen die Interpreten solcher Musik mit sich selbst kämpfen, um nicht in den grundsätzlichen Fehler zu verfallen, der selbst Berufsmusikern und anderen unterläuft - wie in den notorischen Fällen Rameau, Fux und deren Bewunderern - , denen das Verständnis des "Gattungscharakters" der Absicht bei allen bedeutenden klassischen Komponisten nachweislich mangelt.6

Die gleiche Art der Herausforderung, wie sie Mozarts Ave Verum Corpus darstellt, bildet auch ein zweites Beispiel, ein früheres Chorwerk, die Motette Jesu, meine Freude von Johann Sebastian Bach, das Chorleiter und Chor vor die gleichen prinzipiellen Herausforderungen stellt wie Mozarts Ave Verum Corpus.7

So hat beispielsweise John Sigerson bei den Proben und Aufführungen dieses Bachschen Werkes mit der LaRouche-Jugendbewegung diese Herausforderung dargestellt und daran gearbeitet.8 Ich hatte dieses Werk Bachs zu diesem Zweck vorgeschlagen, und der Dirigent Sigerson unterstützte es als Grundelement des Aufbaus der LaRouche-Jugendbewegung an der amerikanischen Ostküste, wie sie an der Westküste schon entstanden war. An dieser Bach-Motette wird seither an der Westküste, in Europa und anderswo zu diesem Zweck gearbeitet. Der Fortschritt der an dem Projekt beteiligten Chöre ist eine reiche Quelle ihrer wachsenden Einsicht in die tiefere Bedeutung von Bachs Absicht in diesem Fall, und infolgedessen wachsender Einsicht in die Absicht seines ganzen Lebenswerks. Wenn man die entsprechenden verfügbaren Hinweise geduldig prüft, zeigt sich, daß das Werk aller bedeutenden klassischen Komponisten, von Johann Sebastian Bach bis zu Johannes Brahms, und großer Dirigenten wie dem verstorbenen Wilhelm Furtwängler darauf beruht, sich auf das zu konzentrieren, was "hinter" oder "zwischen den Noten" der Partitur liegt.9

Wenn man Musikschülern praktische Einsichten in die dynamischen Methoden der Komposition und Aufführung klassischer Musik vermittelt, kann man am einfachsten zeigen, wie diese Prinzipien als Methode in der Aufführung zum Ausdruck kommen, indem man darauf verweist, wie ein geschultes Streichquartett damit umgeht. Norbert Brainin vom Amadeus-Quartett beschrieb mir und meinen Mitarbeitern die Methode der Mitglieder des berühmten Streichquartetts bei ihren Proben, deren Resultate man an den Aufnahmen hören kann. Im Fall des klassischen Streichquartetts können geschulte Musiker die entsprechenden Intervalle der Kreuzstimmen hören und in den Proben ihre Interpretation an die entsprechende Dynamik der Komposition anpassen. Bei der Arbeit eines Chores oder eines größeren Instrumentalensembles braucht man einen Dirigenten der Art, für die Aufnahmen unter der Leitung Wilhelm Furtwänglers beispielhaft sind.10

Alle Sänger oder anderen Aufführenden mit einer "unabhängigen" Interpretation der Noten in einer Stimme auf die Probe kommen zu lassen, ist oft ein Rezept dafür, das Werk zu verderben (wenn das Werk nicht selbst eine moderne, postmoderne oder vergleichbare Scheußlichkeit ist, dessen Botschaft dem verständigen Zuhörer eine Warnung ist, lieber den Saal zu verlassen). Die Beziehungen zwischen den Personen, die an der Aufführung eines musikalischen Werkes in der klassischen Tradition von Bach bis Brahms mitwirken, sind keine mechanischen Beziehungen im Sinne der Methoden der Empiristen und anderer Reduktionisten. Sie sind dynamisch in dem Sinne, wie Leibniz diesen Begriff verwendet, wenn er die Unfähigkeit des Reduktionisten René Descartes rügt. Sie sind dynamisch im Sinne von Wernadskijs Behandlung der "Organismen" und meiner eigenen Behandlung des Prinzips in Wernadskij und das Dirichlet-Prinzip.

Das Entstehen von Modalitäten - wie dem lydischen Modus in den genannten Fällen - als Ordnungsprinzip des Entwicklungsprozesses der Kreuzstimmen bei der Aufführung einer Komposition (im Gegensatz zu einer Abfolge vertikaler Akkorde) ist ein Beispiel für Leibniz' Begriff dieses dynamischen Prinzips, wie Wernadskij und ich es definierten - im Unterschied und Gegensatz zu einer mechanischen Verbindung. Diesmal behandeln wir es im Bereich der klassischen Komposition in der Kunst statt nur in der Naturwissenschaft. In der Kunst hat dies die gleiche Bedeutung wie ein universelles Prinzip, wie das ontologisch existente Infinitesimale bei Leibniz' universellem Prinzip der geringsten Wirkung - Stichwort Kettenlinie - , dem Prinzip, das Leibniz durch seine eigene Entdeckung der Vorstellung der logarithmischen Funktionen ausdrückte, die Leonhard Euler, der Leibniz haßte und bekämpfte, später in quasi kastrierter Form nachahmte.11

Bei musikalischen Aufführungen kommt das Prinzip in den Verhältnissen innerhalb einer polyphonen Passage zum Ausdruck, während sich die Aufführung in verschiedenen Abschnitten entfaltet. Ein ahnungsloser Hörer im Publikum mag dies für scheinbar ganz geringe Abweichungen halten, vielleicht auch zu unrecht, für so etwas wie die romantische persönliche Würzung, die der Küchenmeister einem Standardgericht hinzufügt. Der Kenner verbindet sie mit einer ganz besonderen Art der Spannung, die ein Gefühl von Bewegung verleiht, das mit der eigentlichen, tieferen Bedeutung des Begriffs "Entwicklung" verbunden ist. Wie ich im folgenden erklären werde, ist diese Qualität der Spannung in der klassischen, polyphonen Musik mit klassischen Formen von Ironie verbunden, die das ironische Prinzip der Bewegung in der Poesie und der klassischen Tragödie definieren.

Bestimmt werden die Feinheiten in einer annehmbaren Aufführung eines klassischen Werks von der Gesamtwirkung der Aufführung als individuelle Einheit - eine Aufführung, die sich vom Atemholen vor dem ersten Ton bis zum Atemzug nach der letzten Note nahtlos ausbreitet. (In der Struktur des Notentextes mag es scheinbar "Nähte" geben, aber nicht in der Idee, die hinter der Aufführung der Noten stehen muß.) Daß diese Absicht richtig als die des Komponisten erkannt wurde, weiß man, wenn die Aufführung wie eine nahtlose und energische Entwicklung einer richtig gewählten, vereinheitlichenden Grundidee wirkt, die die Aufführung vom Anfang bis zum Ende "vorantreibt". So wird diese einheitliche Idee erzeugt, nicht bloß eine Anhäufung musikalischer Effekte. Beethovens op. 131, 132 und 133 sind empfehlenswerte Testfälle für dieses Prinzip der Komposition und Aufführung. Hat die Aufführung die Komposition "zusammengehalten"? "Bewegt uns die ganze Komposition wie eine einzige, treibende, wahre Idee - so wie Riemann seine fortgeschrittenere Version des Dirichlet-Prinzips beschreibt?"

Ich muß an dieser Stelle unbedingt betonen, daß dies mit allen wesentlichen Aspekten von Riemanns Anwendung des sog. "Dirichlet-Prinzips" identisch ist, was ich in Wernadskij und das Dirichlet-Prinzip behandelt habe.12 Man muß die gesamte Aufführung als eine einzige, unsichtbare Idee hören. Das erreicht man, indem man sich bei der Aufführung auf die beabsichtigte einheitliche Wirkung des Komponisten konzentriert, so daß die aufmerksamen Musiker und Zuhörer die gesamte Komposition als ein nahtloses Gewebe hören und nicht bloß als Zusammenstellung von Einzelteilen eines Mosaiks, das nur als ein Schema komponiert wurde und nicht als echte Idee eines Prinzips.13

Das Geniale an Kompositionen Beethovens wie den "späten Streichquartetten" op. 131, 132 und seiner Großen Fuge demonstriert dieses Argument sehr deutlich und nachdrücklich; das sind gerade deshalb Werke höchsten Genies, weil sie das höhere dynamische Prinzip aller klassischen Komposition so außergewöhnlich rein als einheitliche Wirkung vorstellen. Das gleiche dynamische Prinzip erkennt man auch als Ausdruck des Leibnizschen Prinzips der universellen geringsten Wirkung, als Ausdruck von Riemanns verbessertem Begriff des "Dirichlet-Prinzips".

Klare Ideen lassen sich ohne eine rigorose Beachtung von Prinzipien nicht als solche erkennen. Deshalb braucht man einen klassischen Chor, der in der Tradition des Florentiner bel canto mit auf c'=256 Hz bezogenen Registerwechseln ausgebildet ist.14 Die kleinen Anpassungen der Intonation, die notwendig sind, um die Aufmerksamket auf die in Vorwärtsbewegung zum Ausdruck kommenden Modalitäten zu richten, sind das Mittel, mit dem der Sänger die dynamische einheitliche Wirkung erreicht, die ein Werk wie Mozarts Ave Verum Corpus erfordert.

Man bedenke den Nutzen solcher klassischen musikalischen Kompositionen und ihrer angemessenen Aufführung für die Arbeit des Naturwissenschaftlers. Um den scheinbaren Unterschied, den dies unausgesprochen einschließt, zu überbrücken, lenke man nun die Aufmerksamkeit ein wenig um, nämlich auf das Prinzip hinter denjenigen Formen der Komposition in den plastischen und nichtplastischen Künsten, die sowohl in der Komposition als auch in den jeweiligen Arten ihrer Aufführung als streng klassisch erkennbar sind. Das gleiche Prinzip, das sich in den genannten Streichquartetten Beethovens zeigt, findet man auch als Grundprinzip der Komposition und angemessenen Aufführung der klassischen Poesie und Tragödie.

Fortsetzung folgt


Anmerkungen

1. Nikolaus gründete in seiner Geburtsstadt Bernkastel-Kues, deren Name er trägt, ein Heim für pensionierte Geistliche, direkt an der Mosel, in der sein Vater Krebse gefischt hatte. Ich habe diese immer noch bestehende Stiftung in Helgas Begleitung oft besucht, u.a. anläßlich einer gut besuchten Feier meines 65. Geburtstages 1987, wo der Leiter des berühmten Amadeus-Quartetts, mein kürzlich verstorbener Freund Norbert Brainin, mir zu Ehren spielte. Kapelle und Bibliothek sind noch heute erhalten, und die Stiftung finanziert sich, wenigstens zum Teil, aus den jährlichen Erlösen ihres Weines.

Nikolaus von Kues hat durch mehrere Initiativen wesentlich zur Grundlegung der neuzeitlichen Zivilisation beigetragen: sein Plan der Gründung moderner, souveräner Nationalstaaten (Concordantia catholica), um die venezianisch-normannische Tyrannei der ultramontanen Ordnung zu beenden - seine Gründung der neuzeitlichen wissenschaftlichen Experimentalphysik eines Luca Pacioli, Leonardo da Vinci und solcher Nachfolger Keplers wie Fermat und Leibniz, und der Nachfolger von Leibniz wie Carnot, Arago, Ampère, Gauß, Wilhelm Weber, Dirichlet und Riemann (De docta ignorantia) - , sein entscheidender Beitrag zum Erfolg des großen ökumenischen Konzils von Florenz und das von ihm angestoßene Projekt, das Christoph Kolumbus zu seinen transozeanischen Entdeckungsfahrten anregte. Professor Haubsts eigene Werke über das Erbe des Kusaners hinterlassen ein lebendiges Zeugnis eines begeisterten, energischen Glaubens und eines außergewöhnlichen Wissens.

2. In der neuzeitlichen Form kommt diese Auffassung ständiger qualitativer Veränderung als Prinzip, wie sie Heraklit oder Platon vertreten, in der modernen Naturwissenschaft in Bernhard Riemanns Darstellung der Theorie der Abelschen Funktionen (1857) zum Ausdruck.

3. Executive Intelligence Review (EIR), 3. Juni 2005.

4. Siehe Lyndon H. LaRouche jun., "Science: The Power to Prosper", EIR, 29. April 2005, S. 6: "Some Relevant Personal Background".

5. Siehe Mindy Z. Pechenuk, "Mozarts Ave Verum Corpus", Fidelio, Winter 1996. Frau Pechenuk leitete eine pädagogische Aufführung bei einer Konferenz des Schiller-Instituts, wo der Gedankengang ihres Berichts durch eine Live-Aufführung demonstriert wurde, die bis heute als Audio- und Videoaufnahme erhalten ist.

6. Rameau und Fux sind ein Produkt der modernen reduktionistischen Korruption, die mit dem Erbe von Paolo Sarpi und Descartes verbunden ist. So gesehen sind sie echte Vorläufer der romantischen Gegner der Methode Bachs, wie Carl Czerny, über den Beethoven sagte, dieser "Verbrecher" werde den talentierten Schüler Franz Liszt völlig verderben. Hier liegt auch der Fehler der Modernisten und Postmodernisten, darunter die Schule der Brecht-artigen Verrücktheiten eines Theodor Adorno.

7. Der Versuch, Bach von Haydn, Mozart und Beethoven zu trennen, weil das eine angeblich "Barock" und das andere "Klassik" sei, ist ein mehr als übles dummes Geschwätz, dessen Folgen sich nur allzuoft bei den Aufführungen der davon beeinflußten Musiker zeigen.

8. John Sigerson organisierte und leitete schon Mitte der 80er Jahre unsere ziemlich glaubhaften Aufführungen des Mozartschen Requiems und spielt seither eine führende, zunehmend professionelle Rolle bei der stimmlichen und übrigen musikalischen Arbeit unserer Vereinigung. Die zunehmende Verfeinerung seiner Arbeit mit Jugendlichen und anderen im Lauf der Zeit zeigt den kumulierten Nutzen dieser langfristigen Beschäftigung, die weitergeht.

9. Das Konzept ist kongruent mit Leibniz' Definition der Analysis situs, die in das Werk Bernhard Riemanns übernommen wurde. Sie zeigt die Bedeutung des dynamischen und pythagoreischen Begriffs der Leibnizschen Naturwissenschaft und der musikalischen Prinzipien Bachs im Gegensatz zum formell mechanistischen Standpunkt von Rameau, Fux, den Romantikern, Modernisten etc., ebenso wie der Empiristen wie D'Alembert, Euler, Lagrange u.a.

10. Wie ich gelegentlich berichtet habe, erlebte ich den Dirigenten Furtwängler erstmals 1946 auf einer Schallplatte eines Werkes von Tschaikowskij. Ich wurde sozusagen "vom Saulus zum Paulus", ich erkannte, daß die Wirkung, die wahrgenommene "Transparenz" der Aufführung, in einer packenden Entwicklung der Kreuzstimmen über die gesamte Aufführung lag. Es erzeugte ein unermüdlich zwingendes Gefühl einer nahtlosen geistigen Entwicklung hinter der hörbaren Musik, die man nicht mit dem Ohr hört, sondern mit dem Geist.

11. Die Hauptangriffsziele von Gauß' Attacke auf die Unfähigkeit der Empiristen D'Alembert, Euler, Lagrange usw. in seiner Dissertation Über den Fundamentalsatz der Algebra waren allesamt Vertreter einer Sekte fanatischer Gegner von Leibniz, die der in Paris lebende Venezianer und Descartes-Verehrer, Abbé Antonio Conti (1677-1749) als ein Netz von Salons organisiert hatte. Weil Conti meinte, daß der Franzose Descartes in London zu der Zeit nicht gut ankäme, schuf Conti über einen Zirkel, den er in London aufgebaut hatte, einen Kult um Leute wie den Theologen Samuel Clarke, der die Person kontrollierte, die man als Ersatz für Descartes gewählt hatte: den Hobby-Magier und Alchemisten Isaac Newton. Das Netz der Contischen Salons, das um den Leibniz-Feind Voltaire organisiert war, wurde ein Vehikel, über das der Isaac Newton-Kult, in dem D'Alembert, Maupertuis, Euler und Lagrange eine führende Role spielten, europaweit verbreitet wurde.

12. Die LaRouche-Jugendbewegung hat die Herausforderung angenommen, eine Pädagogik zu entwickeln, um das Prinzip, wie es Dirichlet in den entsprechenden Vorlesungen, die sein Schüler Riemann in Berlin besuchte, dargestellt hat, sowie Riemanns verbessertes, höheres Konzept, das er später in seinem Werk über die Abelschen Funktionen entwickelte, zu vermitteln.

13. Der Vergleich von Wilhelm Furtwänglers Aufnahme der Großen C Dur-Sinfonie Franz Schuberts mit denen anderer vermeintlich großer Dirigenten jener Zeit liefert eine angemessene Veranschaulichung dieses Punktes.

14. Siehe Handbuch der Stimmung und Register, Band I: Einführung und die Singstimme, Schiller-Institut (Hg.), Dr. Böttiger-Verlag, Wiesbaden, 1993.

Lesen Sie hierzu bitte auch:
Was LaRouche wirklich sagt - LaRouches Erklärungen zur aktuellen politischen Lage - Internetseite der BüSo
Schriften von Lyndon H. LaRouche 1981-2006 - Internetseite des Schiller-Instituts

 

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