Aktuelle Ausgabe Diese Ausgabe Kernthemen Suchen Abonnieren Leserforum

Aus der Neuen Solidarität Nr. 46 und 47 vom 13. und 20. November 1996

  Produktive Kreditschöpfung 
  Neues Bretton Woods
  Glass-Steagall
  Physische Wirtschaft
  Kernenergie
  Eurasische Landbrücke
  Transrapid
  Inflation
  Terror - Cui bono?
  Südwestasienkrise
  11. September und danach
  Letzte Woche
  Aktuelle Ausgabe
  Ausgabe Nr. ...
  Heureka!
  Das Beste von Eulenspiegel
  Erziehungs-Reihe
  PC-Spiele & Gewalt 
  Diskussionsforum
  Wirtschaftsgrafiken
  Animierte Grafiken

Das Arbeitsbeschaffungsprogramm des ADGB
hätte die Hitler-Diktatur verhindern können

Kein Land der Welt kann sich auf Jahre hinaus mehrere Millionen Arbeitslose leisten. Dies sprengt jeden Staatshaushalt und hebt nicht nur den Sozialstaat, sondern die Demokratie und Souveränität der Nationalstaaten selbst aus den Angeln. In den 30er Jahren war die Wirtschaftskrise der Hauptfaktor, der zur Nazi-Diktatur führte. Auch damals gab es Alternativen - vernünftige Vorschläge, wie die Krise rechtzeitig hätte überwunden werden können. Ziehen wir unsere Lehren aus der letzten großen Depression.

Von Gabriele Liebig


Hintergrund zu Der 11. September und der Hjalmar-Schacht-Reflex von Michael Liebig in Neue Solidarität Nr. 40, 2001
Lesen Sie dazu bitte auch Wladimir Woytinsky, der Revolutionär aus St. Petersburg aus der Neuen Solidarität Nr. 46, 1996
Es gibt eine Alternative
Kampf gegen den "Abbauwahn"

Die "Reformer"-Debatte 1931

Der Woytinsky-Tarnow-Baade-Plan

Das Inflationsargument

Brünings Dilemma

Vom WTB-Plan zur Gewerkschaftsachse

Der soziale General

Perversion durch die Nazis

Fazit

Die heutige Weltwirtschaftskrise hat zwei Gesichter: Das eine ist der drohende Kollaps des Weltfinanzsystems, ausgelöst durch eine schwere Zahlungskrise einer oder mehrerer großen Banken oder ganzer Länder, die sich als "aufstrebende Finanzmärkte" in Spielkasinos verwandelt haben. Das andere Gesicht ist der enorme Schrumpfungsprozeß der Realwirtschaft mit immer neuen Rekorden bei der Massenarbeitslosigkeit, den Firmenpleiten und den Fehlbeträgen im Staatshaushalt aufgrund der sinkenden Steuereinkünfte.

Dies ist durchaus ein weltweites Phänomen. Ursache und Charakteristikum der Krise ist die ausufernde Spekulation: Ein ständig weiter wachsender Berg ungedeckter Finanztitel ruiniert die produzierende Wirtschaft. Weniger als 1% der weltweit getätigten Finanztransaktionen haben noch mit realem Güteraustausch zu tun, der Rest ist Spekulation. Auf diese Weise ist ein parasitärer Sog entstanden, welcher der realen Wirtschaft zugunsten der spekulativen Wirtschaft in wachsendem Maße Kapital entzieht.

Dies nimmt vielfältige Formen an: Wenn spekulative Geldanlagefonds mit Renditen über 20% locken, wer will da noch in neue Industriearbeitsplätze investieren, die niemals solche Renditen abwerfen können? Ein weiteres Beispiel sind die milliardenschweren Rettungspakete für bankrotte Banken, wobei durch abenteuerliche Fehlspekulationen entstandende Bilanzlöcher mit Steuergeldern gestopft werden. Außerdem sind hier die Sparprogramme zu nennen, die zum Ausgleich für den steigenden Anteil solcher Finanzdienste in den Staatshaushalten tiefe Einschnitte zu Lasten des Lebensstandards der Bevölkerung und der öffentlichen Investitionen in die materielle (Verkehr, Energie, Wasser etc.) und soziale Infrastruktur (Gesundheit, Bildung, Wissenschaft) vornehmen.

Die Sache hat Methode, es ist die von den internationalen Finanzinstitutionen verordnete Politik: Reflation auf der spekulativen Seite (billiges Zentralbankgeld für illiquide Banken, Steuergeschenke, etc.), die durch Deflation auf der realwirtschaftlichen Seite (Haushaltskürzungen, Abbau von Sozialleistungen, Löhnen und Gehältern), um die Inflationsrate möglichst gering zu halten, kompensiert werden muß. Entsprechende "Anpassungsprogramme", die der IWF seit Jahren den Entwicklungsländern aufgenötigt hat und die oft ganz ausdrücklich umfassendere realwirtschaftliche Investitionen verbieten, haben zu einem starken Rückgang von Exporten in diese Länder geführt. Seit 1991 sind 700000 Exportarbeitsplätze in der Bundesrepublik Deutschland verloren gegangen.

Seit 1991 klettern die Arbeitslosenzahlen in Deutschland, jedes Jahr werden es einige hunderttausend mehr. Man kommt gar nicht umhin, dies mit der Entwicklung in den 30er Jahren zu vergleichen (ohne hier auf die heute weit ausgefeilteren statistischen Tricks bei der Kaschierung der Arbeitslosigkeit einzugehen). Der Vergleich ist erschreckend, und trotzdem wird nichts unternommen, um auch nur die Flut neuer Arbeitsloser zu verhindern, geschweige denn wirksame Maßnahmen zur Schaffung neuer Arbeitsplätze zu ergreifen. Der Grund ist leicht zu durchschauen: Die Arbeitslosen sind Teil der Strategie der "Globalisierer", die mit der Keule der Massenarbeitslosigkeit ihre Forderung nach Abschaffung des Sozialstaats und massiver Senkung des Lebensstandards durchsetzen wollen. Das Argument ist das gleiche wie bei den Deflationisten in den 30er Jahren: Um auf dem Weltmarkt konkurrenzfähig zu sein, müssen wir billiger sein, deswegen müssen die Löhne und Sozialabgaben drastisch gesenkt werden.

Wie damals ist klar, daß ein Sozial- und Lohnabbau auf das Niveau der Philippinen oder auch nur Portugals in einer Demokratie mit einer zum großen Teil gewerkschaftlich organisierten Arbeiterschaft schlechterdings nicht zu machen ist. Daher mehren sich heute erneut, vor allem aus dem Lager der "Konservativen Revolution" die Rufe nach dem "großen Knüppel" und der Abschaffung von Sozialstaat, Gewerkschaften und Demokratie. "Ich sage nicht, daß wir vom Sozialstaat direkt zum Polizeistaat übergehen müssen...", aber "Welfarism ist eine Idee, deren Zeit nun einmal vorbei ist... Für viele ,unseres Volkes' wird das Leben im späten 20. und im 21. Jahrhundert widerlich, brutal und zudem kurz sein", schrieb Peregrine Worsthorne im Sunday Telegraph.1

Aufgrund einer ähnlichen Einstellung setzte Hjalmar Schacht spätestens ab 1930 auf eine totalitäre Diktatur unter Adolf Hitler. Einer derjenigen, die ihm dabei halfen, Hitler an die Macht zu bringen, war Montagu Norman, der Chef der Bank von England. Peregrine Worsthorne ist Montagu Normans Stiefsohn und bewundert ihn sehr.

Schacht und Hitler kalkulierten damals, das soziale Chaos der Weltwirtschaftskrise werde die bürgerlichen Parteien immer mehr diskreditieren, die breite Masse der Bevölkerung zunehmend radikalisieren und so einem totalitären Zwangsregime in Deutschland den Weg ebnen. Heute droht Ähnliches auf globaler Ebene: Immer unpopulärere Sparmaßnahmen demontieren nicht nur den Sozialstaat, sondern gefährden den Zusammenhalt des Staatsgefüges selbst. Mit der Arbeitsplatzvernichtung durch die Globalisierung geht ein beispielloser Angriff auf die Nationalstaaten einher, die man wahlweise aufspalten (z.B. Italien), privatisieren (z.B. die ehemaligen Kolonialstaaten Afrikas2) oder zur Abtretung ihrer Souveränität an supranationale diktatorische Instanzen, die keine demokratische Rechenschaft schuldig sind, zwingen will.

Es gibt eine Alternative

Dies muß verhindert werden, und es kann auch verhindert werden, wenn eine Gruppe der heute einflußreichsten Regierungen die Initiative ergreift und möglichst noch vor dem großen Crash zu einer Neuordnung des bankrotten Weltfinanzsystems schreitet, die Lyndon LaRouche schon lange vorgeschlagen hat und die man sich wie ein großes, von den Regierungen kontrolliertes Konkursverfahren vorzustellen hat.3 Diese Neuordnung kann nur funktionieren, wenn sie mit der Inangriffnahme großer, länderübergreifender Infrastrukturprojekte einhergeht, die viele Millionen neuer produktiver Arbeitsplätze schaffen und die güterproduzierende Wirtschaft wieder ankurbeln. Den außenpolitischen Rahmen für solche Projekte bildet die Entwicklungsstrategie der "neuen Seidenstraße" oder "eurasischen Landbrücke", die wir an anderer Stelle näher erläutert haben.4 Die bewährteste Methode zur Anschubfinanzierung solcher im großen Stil Arbeit schaffenden Projekte ist der Nationalbankkredit, flankiert durch eine Finanzierung nach der Methode der Kreditanstalt für Wiederaufbau, wobei der Staat die Differenz zwischen Anleihezinsen und den niedrigen Zinsen der langfristigen Entwicklungskredite subventioniert.

Eine solche Alternative gab es in den 30er Jahren auch: Ein breites Bündnis gesellschaftlicher Kräfte, im Mittelpunkt der Allgemeine Deutsche Gewerkschaftsbund (ADGB), trat für eine Neuordnung des damaligen Weltfinanzsystems und die Schaffung von Arbeitsplätzen durch öffentliche Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen ein, die mit den eingesparten Arbeitslosengeldern und durch Kreditschöpfung der Reichsbank finanziert werden sollten. Mit dieser Politik wollten die "Reformer", wie man sie nannte, die Weimarer Republik gegen den Extremismus der Nationalsozialisten und der Kommunisten verteidigen, der im Elend der Arbeitslosen seinen Hauptnährboden fand. Dies ist eines der bewegendsten Kapitel der deutschen Geschichte dieses Jahrhunderts, und zugleich wohl auch dasjenige, welches am meisten totgeschwiegen wird. Diese Unterschlagung der Wirtschaftsdebatte von 1930-32 ist verantwortlich dafür, daß so viele Leute absurderweise glauben, Schacht und Hitler hätten die Arbeitsbeschaffung erfunden.

Bekannt oder nicht, Tatsache ist: Die "Reformer" versuchten die Nazi-Katastrophe abzuwenden und setzten sich unter den drei aufeinanderfolgenden Regierungen Brüning, von Papen und von Schleicher für ein sehr vernünftiges Konzept zur Wiederbelebung der darniederliegenden Wirtschaft ein. Dabei sollte ein umfassendes öffentliches Arbeitsbeschaffungsprogramm als "Initialzündung" wirken, um den Wirtschaftsmotor wieder in Gang zu bringen. Zu den "Reformern" gehörten Wirtschaftswissenschaftler in der Tradition Friedrich Lists, Gewerkschafter und Industrielle, hohe Regierungsbeamte und sogar Bankdirektoren, doch die allerwichtigste Rolle spielte dabei der Gewerkschaftsdachverband ADGB. Der ADGB war mit 8 Mio. Mitgliedern die größte Massenorganisation in Deutschland und vertrat 80% der organisierten Arbeiterschaft. Aber die Bedeutung des ADGB beschränkte sich nicht auf Verbreitung und Unterstützung der Arbeitsbeschaffungspolitik der "Reformer" - der ADGB hatte das Programm auch inhaltlich wesentlich bestimmt.

Intellektuell führend war dabei Wladimir Woytinsky, der Leiter der statistischen Abteilung des ADGB. Woytinsky war 1922 als "Asylant" aus Rußland nach Deutschland gekommen. Der Sohn eines jüdischen Mathematikprofessors aus St. Petersburg hatte an der antizaristischen Revolution von 1905 aktiv teilgenommen, 1917 aber Widerstand gegen Lenins Machtergreifung geleistet. 1929 übernahm er die Leitung der Statistischen Abteilung des ADGB (siehe Artikel "Der Revolutionär aus St. Petersburg").

Es war ein internationales Programm gegen die Weltwirtschaftskrise, womit Woytinsky und der ADGB im Frühjahr 1931 in die öffentliche Wirtschaftsdebatte eingriffen.

Kampf gegen den "Abbauwahn"

Am Anfang des Programms von Woytinsky und den anderen "Reformern" stand die Erkenntnis, daß die Deflationspolitik der Regierung Brüning die Krise nur weiter verschlimmern mußte. Die deflationäre Schrumpfung der Weltwirtschaft zeichnete sich 1930 bereits ab, und zu diesem Zeitpunkt legte ADGB-Chef Theodor Leipart Woytinsky nahe, sich schwerpunktmäßig mit dem Arbeitslosenproblem zu befassen. Bald danach veröffentlichten mehrere Gewerkschaftszeitschriften einen Artikel von Woytinsky über "Die Flut des wirtschaftlichen Wahnsinns". Darin zog er gegen die von Reichskanzler Brüning und der orthodoxen Wirtschaftswissenschaft betriebene Politik des Preis- und Lohndumpings zu Felde.5

In einer ganzen Reihe von Schriften und einem 1931 erschienenen Buch6 erläuterte Woytinsky den grundsätzlich anderen Charakter dieser Weltwirtschaftskrise im Unterschied zu früheren Konjunkturkrisen. Bei dieser Krise versage der "kapitalistische Automatismus", sie lasse sich durch Preissenkungen nicht wieder umkehren. Auch protektionistische Abschottungsmaßnahmen verschlimmerten den Schrumpfungsprozeß noch. Dieser deflationären Abwärtsspirale sei nur durch antideflationistische Maßnahmen, nämlich eine zwischen den Nationen vereinbarte koordinierte zusätzliche Kaufkraftschöpfung beizukommen. Diese zusätzliche Kaufkraft müsse produktiv eingesetzt, d.h. zur Schaffung neuer Arbeitsplätze in öffentlichen Projekten verwendet werden.

Genau dies, so riet Woytinsky, müßten die Gewerkschaften in den Mittelpunkt ihrer Forderungen stellen: Ende des "Abbauwahns" bei Löhnen und Sozialleistungen, und ein durch zusätzliche Geldschöpfung finanziertes Arbeitsbeschaffungsprogramm! Am 9. März 1931 fand dazu eine Vorstandssitzung des ADGB statt, bei der sich sowohl der Vorsitzende der Holzarbeitergewerkschaft Fritz Tarnow wie der ADGB-Beauftragte für Arbeitsbeschaffung Wilhelm Eggert für ein internationales Programm gegen die Weltwirtschaftskrise aussprachen. Woytinsky erhielt grünes Licht für seinen richtungweisenden Artikel in der theoretischen Zeitschrift des ADGB Die Arbeit, der im Juni 1931 die öffentliche Debatte über die "aktive Weltwirtschaftspolitik" des ADGB eröffnete. Woytinsky lieferte hiermit die Grundlage zu einer neuen Politik der Gewerkschaften und der SPD, was letztere leider übel aufnahm. Wir wollen aus diesem 27 Seiten langen Artikel einige Passagen zitieren:

Ein solches Programm erfordere zuallererst eine "aktive Einstellung zu Problemen der Wirtschaftskonjunktur". Woytinsky unterscheidet zwischen dem passiven "meteorologischen" und dem aktiven "medizinischen" Gesichtspunkt:

Wie könne man also der "verheerenden Wirkung der Krise", insbesondere dem dramatischen Rückgang der industriellen Produktion, entgegenwirken:

Woytinsky beschreibt die ruinösen Wirkungen der Preisdeflation und entwickelt dann ausführlich einen Weg zur Lösung der weltweiten Krise. Er hatte dieses Konzept zuvor in seinem Buch Internationale Hebung der Preise als Ausweg aus der Krise dargelegt. Grundidee dabei ist eine zwischen den Nationen zu vereinbarende Kaufkraftsteigerung durch eine international koordinierte Herabsetzung der Golddeckungsvorschriften für die Währungen. Woytinsky zeigt, wie in der Vergangenheit der Auffindung neuer Goldgruben regelmäßig ein Konjunkturaufschwung folgte, und argumentiert, eine Herabsetzung der allgemeinen Mindestgolddeckung werde den gleichen Effekt haben. Zu dieser Auffassung sei auch der Goldausschuß des Völkerbundes in einem Gutachten gelangt. Eine solche Herabsetzung der Mindestdeckung bedeute praktisch eine entsprechende Geldneuschöpfung und hätte die gleiche konjunkturbelebende Wirkung wie etwa "eine zinslose ausländische Devisenanleihe..., die die Amerikaner der Reichsbank als Liebesgabe überweisen würden, vorausgesetzt allerdings, daß an diese Liebesgabe die Bedingung geknüpft wäre, das Geld für produktive Zwecke und nicht zur Defizitdeckung des Haushalts zu verwerten!"

Energisch wendet er sich gegen das Argument, die vom Genfer Goldausschuß empfohlene Herabsetzung der Golddeckung führe zu einer Inflation - was die SPD-Ökonomen Rudolf Hilferding und Fritz Naphtali nämlich behaupteten. Woytinsky schreibt:

Der Artikel in der Juni-Ausgabe 1931 der Arbeit endet mit der Skizzierung eines "Aktionsprogramms für die Belebung der Wirtschaft":

Die "Reformer"-Debatte 1931

Die eigentlich wegweisende Debatte unter den verschiedenen "Reformern" über die Lösung der Wirtschaftskrise fand 1931 statt; 1932 hingegen, nachdem die Arbeitslosenzahl auf offiziell über 6 Millionen gestiegen war, gab es Arbeitsbeschaffungsprogramme von rechts bis links wie Sand am Meer. Die Forderungen reichten vom Arbeitsverbot für ausländische Arbeitskräfte bis zum glorreichen Vorschlag der KPD, Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen durch Streichung sämtlicher Ausgaben für Verteidigung und Polizei zu finanzieren.

1931 beschränkte sich die Debatte noch auf einen relativ kleinen Personenkreis. Im Juni hatte Woytinsky mit dem zitierten Artikel in Die Arbeit die Debatte eröffnet. Im September 1931 veranstaltete die List-Gesellschaft eine Geheimkonferenz zum Thema Konjunkturbelebung, an der 30 hochrangige Wirtschaftsexperten unterschiedlicher Ausrichtung (darunter Reichsbankpräsident Hans Luther und der SPD-Ökonom Rudolf Hilferding) teilnahmen. Vor diesem Kreis trug Wilhelm Lautenbach, Regierungsdirektor im Reichswirtschaftsministerium unter Kanzler Brüning, seine Denkschrift "Möglichkeiten einer Konjunkturbelebung durch Investition und Kreditausweitung" vor.8 Der illustre Kreis lehnte Lautenbachs 1,5-Mrd.-RM-Arbeitsbeschaffungsplan, der durch bei der Reichsbank rediskontierbare Wechsel finanziert werden sollte, zwar ab, doch viele von ihnen besannen sich später eines besseren.

Lautenbach beschrieb zunächst die negativen Auswirkungen der Deflationspolitik der Regierung, für die er selbst arbeitete:

Der natürliche Weg zur Überwindung von Krisen in der kapitalistischen Wirtschaft sei außerdem "nicht Einschränkung, sondern Leistungssteigerung". Im Unterschied zu anderen Notständen nach Zerstörungen durch Kriege oder Erdbeben, bei denen sich durch den Wiederaufbau "konkrete Produktionsaufgaben" stellten, gebe in der heutigen Krise der "Markt... keinerlei positive Direktiven, und so weiß kein Unternehmer, was er produzieren soll."

Da "uns langfristiges Kapital weder auf dem ausländischen noch auf dem inländischen Kapitalmarkt zur Verfügung steht", bleibe nur die Möglichkeit, solche Arbeiten durch bei der Reichsbank diskontierbare Wechsel zu finanzieren. Lautenbach schlägt ein Arbeitsbeschaffungsprogramm im Umfang von 1,5 Mrd. Reichsmark (RM) vor: 1,2 Mrd. für Eisenbahnbau und 300 Mio. für Straßenbau. Es sei "rationell und wirtschaftlich vollkommen unbedenklich", bisher ungenützte "Produktionsüberschüsse dadurch zu verwerten, daß man sie im Wege des Kredits für die Ausführung von volkswirtschaftlich vernünftigen und notwendigen Aufgaben bereitstellt":

Der eigentliche Ankurbelungseffekt setze dann ein, "wenn die Industrien, die durch die Lieferung der Materialien für die öffentlichen Arbeiten besonders begünstigt waren, ihre Lager stark räumen könnten und sich hierdurch veranlaßt sähen, wieder mehr zu produzieren als bisher."

Die nun entfachte Debatte inspirierte auch den Leiter des zum Teil vom ADGB finanzierten Berliner Instituts für Kulturforschung Ernst Wagemann (den Woytinsky u.a. bei der Beschreibung der "meteorologischen Sichtweise" im Auge hatte). Bis zum Herbst 1931 stand Wagemann der Wirtschaftslage noch ratlos gegenüber, anschließend machte er ähnliche Vorschläge wie Woytinsky und Lautenbach ("Wagemann-Plan").

Ebenfalls im Herbst 1931 gründete sich die Studiengesellschaft für Geld- und Kreditwirtschaft um den Industriellen Heinrich Dräger und Wilhelm Grotkopp, der durch sein 1954 erschienenes Buch Die große Krise die Arbeit der "Reformer" der Vergessenheit entriß. Das Denken der Studiengesellschaft schlug sich in Robert Friedländer-Prechtls Zeitschrift Wirtschaftswende nieder, die hauptsächlich von Dräger finanziert wurde. Sie ist geprägt von einem strikt realwirtschaftlichen Denkansatz: "Eine Volkswirtschaft produziert nämlich niemals Geld, sondern immer nur Güter."9 Besonders 1932 wurden in der Wirtschaftswende zahlreiche Varianten der von Woytinsky und Lautenbach vorgebrachten Vorschläge erörtert.

Der Woytinsky-Tarnow-Baade-Plan

Den Gewerkschaftsflügel der "Reformer"-Gruppe bildeten vor allem Woytinsky, Fritz Tarnow und der SPD-Reichstagsabgeordnete Fritz Baade. Woytinsky war aber auch Mitglied der List-Gesellschaft, später wurde er als Referent zu Drägers Studiengesellschaft eingeladen.

Baade war landwirtschaftlicher Sprecher der SPD-Fraktion im Reichstag. Seine realwirtschaftliche Einstellung kam darin zum Ausdruck, daß er es für völlig widersinnig hielt, daß "people should starve in front of overfilled granaries".10 Daraus ergab sich für ihn die Notwendigkeit einer "aktiven Wirtschaftspolitik".

Fritz Tarnow, der Vorsitzende der Holzarbeitergewerkschaft, hatte schon 1928 in seinem Buch Warum arm sein? eine eigenständige Kaufkrafttheorie erläutert. Übrigens ganz in Übereinstimmung mit Gottfried Wilhelm Leibniz und Friedrich List war Tarnow überzeugt, daß zu niedrige Löhne der Gesamtwirtschaft schaden, während ordentliche Reallöhne für Kaufkraft und Absatzchancen auf dem Binnenmarkt sorgen. Bei der "roten Gewerkschaftsopposition" mokierte man sich darüber, daß Tarnow den Glauben an den gutwilligen Unternehmer, der freiwillig höhere Löhne zahlt, von seiner Amerikareise 1925 mitgebracht habe. Tatsächlich vertrat Tarnow das Henry-Ford-Prinzip, der seine Arbeiter schon deswegen anständig bezahlte, damit sie sich seine Autos leisten konnten.

Woytinsky war zwar nicht persönlich bei der Konferenz der List-Gesellschaft dabeigewesen, griff jedoch bald darauf den Vorschlag eines auf die deutsche Volkswirtschaft bezogenen Arbeitsbeschaffungsprogramms auf, ebenso die Finanzierung durch die Reichsbank. Dies geschah in engster Abstimmung mit Tarnow und Baade. Während in einem internen Memorandum von Woytinsky vom 9. Dezember 1931 noch ausschließlich von einem internationalen Arbeitsbeschaffungsprogramm durch Goldbonds der Bank für internationalen Zahlungsausgleich (BIZ) die Rede ist, legten Dr. Baade, Tarnow und Woytinsky am 23. Dezember 1931 dem ADGB-Vorstand "Thesen zum Kampf gegen die Wirtschaftskrise" vor. Hier wird nun die internationale Arbeitsbeschaffung durch "Inangriffnahme öffentlicher Arbeiten größten Stils" ergänzt durch einen Abschnitt über "Krisenbekämpfung im Rahmen der deutschen Volkswirtschaft":

Aus diesen "Thesen" entstand nun der eigentliche "WTB"-Plan, der Arbeitsbeschaffungsplan vom 26. Januar 1932 mit der Unterschrift Fritz Tarnows:

Das Inflationsargument

Wir schreiben nun Januar 1932. Das Arbeitslosenheer ist auf 6 Millionen angeschwollen. Nazis und Kommunisten frohlocken, schreibt Julius Leber in sein Tagebuch:13 "Denn ihre Mutter ist die Not, ist die Verzweiflung eines Volkes, das keinen Ausweg mehr sieht aus den Wirrnissen einer sinnlos gewordenen Gegenwart." Dies mußte doch auch der SPD-Führung vor Augen liegen, deswegen ist es gar nicht zu fassen, daß die SPD-Spitze - der Fraktionsvorsitzende Rudolf Breitscheid, der Parteichef Otto Wels und die Wirtschaftsexperten Hilferding, Naphtali und Bauer - den WTB-Plan tatsächlich sabotierten!

Das Hauptargument der SPD-Führung war, der ADGB-Plan sei "inflationistisch". Hilferdings Haltung mag sich dadurch erklären, daß er in den 20er Jahren während der Inflationszeit Wirtschaftsminister gewesen war. Auf seinen Vorschlag beschloß das Reichskabinett 1923 die Einführung der Rentenmark. Doch gegenüber dem marxistischen Publikum argumentierte Hilferding nun, wer mit Arbeitsbeschaffung dem kapitalistischen System aus der Klemme helfen wolle, der sei kein Marxist. Auch die Kommunisten argumentierten so: Die Arbeiterklasse sei nicht dazu da, "Arzt am Krankenbett des Kapitalismus" zu spielen. Otto Wels nahm es dem ADGB übel, daß dieser plötzlich in der Politik der Partei den Ton angeben wolle. Der Hauptwiderstand der SPD-Oberen richtete sich jedoch gegen die Finanzierung durch zusätzliche Kaufkraftschöpfung seitens der Reichsbank, und damit standen sie in einer Front mit dem Reichsbankpräsidenten Luther und dessen Vorgänger Hjalmar Schacht, der zu dieser Zeit bereits mit Hochdruck das "Projekt Hitler" vorantrieb.

Die ideologische Nähe Breitscheids und Hilferdings zu Schacht erhellt sich zum Teil aus der gemeinsamen Vorgeschichte. So war Breitscheid in früheren Jahren zusammen mit Schacht im Handelsvertragsverein tätig gewesen und hatte Schacht damals von linksliberaler Seite propagandistisch unterstützt. Schacht seinerseits sorgte durch geschickte Legendenbildung dafür, daß er selbst und nicht Hilferding 1923 als "Schöpfer der Rentenmark" gefeiert wurde. Solche Details können zwar Zusammenhänge deutlicher machen, aber das verbohrte Verhalten der SPD-Führung entschuldigen können sie nicht.

Auf einer Bundesausschußsitzung am 15. und 16. Februar 1932 kam es zur Auseinandersetzung zwischen SPD- und Gewerkschaftsführung. Die SPD widersetzte sich zwar nicht dem Arbeitsbeschaffungsprogramm als solchem, verlangte jedoch, daß es durch eine sogenannte "volkstümliche Anleihe" finanziert werden sollte. Es war jedoch völlig unrealistisch, eine solche Anleihe jemals am Kapitalmarkt zu plazieren. Die Sitzung endete mit einem Kompromiß: Der ADGB übernahm die Forderung der "volkstümlichen Arbeitsbeschaffungsanleihe", aber mit dem Zusatz, daß die nicht untergebrachten Anleihestücke einstweilen "den Banken als bei der Reichsbank diskontierbare Unterlage zur Zwischenfinanzierung" der Arbeitsbeschaffung dienen sollten. Im Gegenzug stimmte die SPD einem außerordentlichen Krisenkongreß des ADGB zu, bei dem es ausschließlich um Arbeitsbeschaffung gehen sollte.

Damit war endlich der Startschuß zu einer breiten Organisierungskampagne für die Arbeitsbeschaffung gegeben. Der Krisenkongreß fand am 13. April 1932 statt und war ein großer Erfolg. Brüning kam selbst nicht, hatte aber Arbeitsminister Stegerwald geschickt. Der ADGB-Vorsitzende Leipart griff die Deflationspolitik der Regierung direkt an: Indem man die Kaufkraft der Massen vernichtete, trieb man Industrie, Handel und Gewerbe in immer größere Not, und "der Umfang der Arbeitslosigkeit ist mit jedem Angriff auf die Löhne gewachsen", sagte er. Nach jeder Notverordnung habe die Zahl der Arbeitslosen zugenommen, und die politische Radikalisierung entsprechend auch. In bezug auf Brünings Argument, eine Arbeitsbeschaffung größeren Stils sei in Rücksicht auf die außenpolitischen Interessen Deutschlands nicht möglich, entgegnete Leipart: "Ich bin der Meinung, daß diese übertriebene Rücksicht auf die außenpolitischen Interessen, die man uns dauernd predigt, zu weit geht.14

Wilhelm Eggert trug dann das Arbeitsbeschaffungsprogramm vor, das in Übereinstimmung mit dem WTB-Plan 2 Mrd. RM vorsah, durch die - gewissermaßen als "Initialzündung" - eine Million Arbeitslose wieder in den Produktionsprozeß eingegliedert werden sollten. Als Projekte nannte er Erhaltung und Verbesserung des Straßennetzes, Hochwasserschutz, Kleinwohnungsbau, Hausreparaturen, Siedlungsarbeiten und landwirtschaftliche Meliorationen sowie Aufträge von Reichspost und Reichsbahn. Finanziert werden sollte das Programm durch die eingesparte Arbeitslosenunterstützung, die Steuern und Arbeitslosenversicherungsbeiträge der Wiederbeschäftigten, Mehreinnahmen durch Verbrauchssteuern und durch die von der SPD verlangte "volkstümliche Anleihe", wobei die nicht verkauften Anleihen aber als bei der Reichsbank diskontierbare Unterlage zur Zwischenfinanzierung dienen sollten.

Nach Eggerts Rede wurde eine entsprechende Resolution verabschiedet, die den WTB-Plan zum offiziellen Programm des ADGB erhob. Ein Schönheitsfehler war nur ihre Verschwommenheit hinsichtlich der Finanzierung. Woytinsky hatte in Die Arbeit (Heft 3, 1932) erläutert, in welcher Weise die nicht untergebrachten Anleihestücke "den Banken als Unterlage für eine Zwischenfinanzierung der Arbeitsbeschaffung dienen" sollten: "Von den mit den Arbeiten betrauten Unternehmern werden Wechsel auf die als Träger der Arbeiten in Betracht kommenden öffentlich-rechtlichen Körperschaften gezogen." Die Banken könnten diese Wechsel einlösen und ihrerseits "bei der Reichsbank diskontieren". In der Resolution vom 13. April 1932 fehlte jedoch der entscheidend wichtige Verweis auf die Diskontierbarkeit bei der Reichsbank. Es hieß nur: "Soweit die Anleihestücke noch nicht in vollem Umfange auf dem Kapitalmarkt untergebracht sind, sollen sie den Banken als Unterlage für eine Zwischenfinanzierung der Arbeitsbeschaffung dienen."15

Insbesondere Tarnow war entschieden gegen den Kompromiß mit der Anleihe gewesen. Und Woytinsky hatte immer wieder betont: "Krisenbekämpfung heißt aber Arbeitsbeschaffung. Und wer Arbeitsbeschaffung sagt, der hat von der Kreditschöpfung gesprochen."16

Brünings Dilemma

Woytinsky hielt es für einen schweren Fehler, daß die SPD sich geweigert hatte, gemeinsam mit den Gewerkschaften Brüning zur Aufgabe der Deflationspolitik zu bewegen. In seiner Autobiographie Stormy Passage, die lange nach seiner Emigration in die USA erschien, schreibt Woytinsky:

Woytinsky begriff den Tragödiencharakter der Situation, er wußte um den "springenden Punkt" - wie der Tragödiendichter Schiller sagen würde, an dem gehandelt werden muß, um die Katastrophe zu verhindern. In diesem historischen Drama gibt es im wesentlichen zwei solcher "springenden Punkte": Der erste und wichtigste fällt noch in die Regierungszeit Heinrich Brünings. Der zweite betrifft, wie wir noch sehen werden, den Versuch des Generals von Schleicher, die Nazi-Katastrophe abzuwenden.

Brüning stand im Frühsommer 1932 tatsächlich kurz davor, die Deflation durch eine Arbeitsbeschaffungspolitik, wie Regierungsdirektor Lautenbach sie ihm nahelegte, zu ersetzen. Allerdings war seine oberste Priorität stets, erst das Problem der Reparationen auf dem Verhandlungswege loszuwerden. Im Juni 1931 waren die deutschen Reparationszahlungen durch das "Hoover-Moratorium" für ein Jahr gestundet worden. Anfang 1932 sollte eine internationale Konferenz über die endgültige Streichung entscheiden. Sobald das bewältigt wäre, wollte Brüning sich der Bekämpfung der Arbeitslosigkeit zuwenden. Die Konferenz wurde aber verschleppt, und kurz bevor sie dann im Juni in Lausanne zusammentrat, wurde Brüning - "hundert Meter vor dem Ziel", wie er bitter anmerkte - am 30. Mai 1932 gestürzt. Der Anlaß seines Sturzes war absurd: Die Fraktion der Großgrundbesitzer, die soziale Basis des Herrn von Papen, der nach ihm Reichskanzler wurde, warf Brüning wegen einer milden Landreform "Agrarbolschewismus" vor.

Warum wurde Brüning wirklich gestürzt? Die Deflationspolitik war es nicht, denn von Papen verhängte sofort weitere sozial- und lohnpolitisch einschneidende Notverordnungen. Nein, Brüning wurde gekippt, kurz bevor die Reparationen vom Tisch und der Weg für die längst vorbereitete wirtschaftspolitische Wende frei gewesen wäre.

Schon Anfang 1932 verweist Woytinsky in Die Arbeit auf die Möglichkeit einer solchen Wende. Mit der Notverordnung vom 8. Dezember 1931 wurden die Löhne auf das Niveau von 1927 bzw. um maximal 10% gesenkt; Kartellpreise und Altbaumieten wurden ebenfalls um 10% gesenkt und die Zinsen auf 6% begrenzt. In seinem Artikel vom Januar 1932 mahnt Woytinsky die SPD, doch endlich eindeutig gegen diesen "Abbauwahn" Stellung zu beziehen. Dabei verweist er auf einen sehr aufschlußreichen Begleitumstand dieser letzten Brüningschen Notverordnung:

Woytinsky ruft die SPD dazu auf, den deflationistischen Inhalt dieser Notverordnung energischer zu bekämpfen. Zugleich zeige sie aber auch, welche Möglichkeiten der Staat habe, in die Wirtschaft einzugreifen:

Bevor Brüning jedoch die Wende hin zur "Kreditausweitung" vollziehen konnte, wurde er mitten in den Vorbereitungen samt seinem Kabinett entlassen.19

Vom WTB-Plan zur Gewerkschaftsachse

Mit dem Regime von Papen konnte und wollte die Arbeiterbewegung sich nicht abfinden. Franz von Papen verhängte neue Opfer bei Löhnen und Sozialleistungen, wollte Hitler als Vizekanzler ins Kabinett holen (was dieser aber ablehnte), ließ die unter Brüning verbotenen NS-Kampforganisationen SA und SS wieder zu, setzte die preußische Regierung ab und regierte mit Hitlers Tolerierung.

Unterdessen bestimmte das Arbeitsbeschaffungsprogramm des ADGB und der anderen Reformer die öffentliche Diskussion über ein ernsthaftes wirtschaftspolitisches Gegenprogramm. Die Schaffung von Arbeitsplätzen durch staatliche Kreditschöpfung wurde zum Dreh- und Angelpunkt einer breiten Interessengemeinschaft, die sich aus einer Vielzahl privater Gruppen und gesellschaftlicher Organisationen zusammensetzte, die jeweils eine der vielen Varianten des WTB-Plans unterstützten. Dazu gehörten neben der Massenorganisation ADGB, den Freien Gewerkschaften (Adolf Reichwein) und den christlichen Gewerkschaften (Adam Stegerwald) die erwähnte Studiengesellschaft für Geld- und Kreditwirtschaft (Heinrich Dräger, Wilhelm Grotkopp), das Institut für Konjunkturforschung (Ernst Wagemann), der Landgemeindetag (Günther Gereke), der Deutsche Städtetag (Oskar Mulert), das zur SPD gehörende Reichsbanner und viele mehr.

Einige Kostproben sollen die lebhafte Debatte seit dem ADGB-Krisenkongreß im Frühjahr illustrieren: Wladimir Woytinsky kommentierte in der Gewerkschaftszeitung Pressestimmen zum WTB-plan und nahm sich u.a. die Frankfurter Zeitung (heute Frankfurter Allgemeine) vor, die "den traurigen Ruhm beansprucht, den Chor der Gegner der Arbeitsbeschaffung anzuführen." Die Zeitung hatte vor der "psychologischen Gefahr eines Runs und einer allgemeinen Flucht in die Sachwerte" als Reaktion auf die Arbeitsbeschaffung gewarnt. Woytinsky entgegnet erbost:

Auf der Unternehmerseite der Reformer forderte Heinrich Dräger im zweiten Sonderheft der Wirtschaftswende "produktive Kreditschöpfung" zum Zwecke der Arbeitsbeschaffung in Höhe von zunächst 2 Mrd. RM. Sollte sich das Programm bewähren, könnte es später auf 5 Mrd. RM aufgestockt werden. Dabei verweist er auf die Tatsache, daß nicht einmal die gänzlich unproduktive Kreditschöpfung von 1 Mrd. RM im Jahre 1931 "zugunsten der Banken und Sparkassen" in Deutschland zu Preissteigerungen und Inflation geführt habe. Daher sei es "nicht zu verantworten, diesen Weg (der Kreditschöpfung, G.L.) nur dann für gangbar zu erklären, wenn es sich um Stützungsaktionen für die Großbanken handelt und ihn als gefährliches Verbrechen zu brandmarken, wenn es sich darum handelt, die zweifellos reichlich vorhandenen Arbeitsmöglichkeiten in Deutschland nutzbar zu machen für einen Teil all derjenigen, die nach Arbeit hungern."21 (Hervorh. v. H.D.)

Die Arbeitsbeschaffungsdebatte und das Sichtbarwerden einer breiten gesellschaftlichen Koalition in dieser Frage, der sogenannten "Gewerkschaftsachse", führte in der zweiten Hälfte 1932 zu einem markanten Stimmungsumschwung: bei den Reichstagswahlen im November erhielten die Nationalsozialisten 2 Mio. Stimmen weniger als noch im Juli. Julius Leber beschreibt die Stimmung während des Wahlkampfes im Oktober: "Die gleichen, die noch vor sechs Wochen voller Enthusiasmus und Begeisterung ,Heil Hitler' brüllten - sie legen heute sorgfältigst Wert darauf, daß niemand mehr an diesen wunden Punkt in ihrer Vergangenheit rührt, denn Hitler ist heute nicht mehr fein, er ist nicht mehr vornehm, er ist - über Nacht - aus der Mode gekommen."22

Der WTB-Plan hatte den Nazis das Thema Arbeitslosigkeit aus der Hand genommen, dafür sorgte schon die Tatsache, daß die Forderung nach Schaffung von einer Million gesellschaftlich nützlicher Arbeitsplätze von den Gewerkschaften erhoben wurde. Zwar hatte Adolf Hitlers Rivale Gregor Strasser noch im Wahlkampf vor der Juli-Wahl in der NSDAP ein "Sofortprogramm" durchsetzen und massiv verbreiten können, das dem WTB-Plan in manchen Punkten ähnlich sah, doch Hitler ließ es, vermutlich auf Betreiben Schachts und dessen mächtiger Wirtschaftsfreunde, schon im September buchstäblich einstampfen und am 22. Oktober 1932 von der NSDAP-Reichspropagandaleitung ausdrücklich zurückziehen.23 Die Nazi-Partei war tief gespalten und nach den Stimmenverlusten am 6. November erst recht zerrüttet, Goebbels dem Selbstmord nahe. Die Lage war reif, sie jetzt aus dem Feld zu schlagen.

Die "Reformer" hatten also erfolgreich in die Geschichte eingegriffen, die politischen Gegebenheiten sichtbar verändert. Der in vieler Hinsicht am klarsten denkende Kopf in der Gruppe der Reformer war Woytinsky, darin kann man Fritz Baade gewiß zustimmen.24 So kann man wohl sagen: Ohne Woytinsky kein WTB-Plan, ohne WTB-Plan kein aktives Gewerkschaftsprogramm, ohne dieses keine "Gewerkschaftsachse", welche die Grundlage einer ganz neuen politischen Option lieferte, um mit den Nazis fertig zu werden. Diese Option ergriff der ehemalige Reichswehrminister Kurt von Schleicher.

Der soziale General

Mit den meisten Vertretern der "Gewerkschaftsachse" führte General von Schleicher in der zweiten Jahreshälfte 1932 Sondierungsgespräche, ob sie eine von ihm geleitete Regierung, welche die Arbeitsbeschaffung in den Mittelpunkt stellen und die Nazis spalten und ausschalten wolle, unterstützen würden. Alle Gespräche verliefen positiv, nur der SPD-Fraktionsvorsitzende Rudolf Breitscheid lehnte ab. Wilhelm Högner, ein alter Sozialdemokrat, schreibt später: "Allein der Versuch, die nationalsozialistische Partei in einen Hitlerflügel und einen Strasserflügel zu spalten und der Sozialdemokratie oder doch den Gewerkschaften Einfluß auf die geistige Haltung der Reichswehr zu verschaffen, durfte nicht von vornherein abgelehnt werden.25

Warum? Die Person von Schleichers bot keine Ausrede für diese Verweigerung. Schließlich hatte er die Weimarer Republik 1918 gegen den Ansturm der Kommunisten und 1923 beim Hitler-Putsch in München gegen die Nazis verteidigt. Zudem stand von Schleicher im Rufe eines "sozialen Generals", manche titulierten ihn weniger wohlwollend als "roten General"; und das nicht erst seit jener Rede vom 26. Juli 1932 - von Schleicher war noch Reichswehrminister - , in der er gesagt hatte, die Reichswehr sei weder eine "Parteitruppe" noch die "Schutzmacht irgendwelcher Klassen oder Interessenten" noch wolle sie "überlebte Wirtschaftsformen oder unhaltbare Besitzverhältnisse decken". Und er betrachte es als besondere Aufgabe, "die Not gerade in den ärmsten Bevölkerungsschichten zu lindern".

Kurt von Schleicher war seit langem mit jenen Kreisen in der deutschen Elektro- und Chemieindustrie verbunden, die an einem sich entwickelnden Handel mit Rußland interessiert waren und deswegen Rathenaus Rapallo-Politik unterstützt hatten. Zu diesen Kräften in der deutschen Wirtschaft gehörte auch Otto Wolff, der sich sehr für den Handel mit China eingesetzt hatte und Schleicher in Wirtschaftsfragen beriet. Diese Industriefraktion stand in starkem Interessengegensatz zu Schacht und dessen Gönnern in der anglo-amerikanischen Finanzwelt und auch zu den Teilen der Schwer- und Rüstungsindustrie, die Hitler unterstützten und sich u.a. im Keppler-Kreis zusammenfanden.26

Hitler ordnete später an, Otto Wolffs Handelsfirma ohne Aufsehen zu liquidieren, ein Befehl der allerdings nur teilweise ausgeführt wurde. Schleichers engste Vertraute bei der Reichswehr waren Generalmajor Ferdinand von Bredow und General Kurt von Hammerstein-Equord. Bredow wurde zusammen mit Schleicher 1934 auf Hitlers Befehl von der SS ermordet. Hammerstein forderte bewaffneten Protest der Reichswehr gegen die Morde, kam aber damit nicht durch. In der Wehrmacht gehörte er von Anfang bis Ende zu den Kräften gegen die Hitler-Diktatur. Dies soll nur andeuten, welche historisch einmalige Kombination von Kräften hier zusammentraf, der es durchaus hätte gelingen können, das Ruder in letzter Minute herumzureißen und Hitlers Machtergreifung zu verhindern.

Schleichers Plan war durchaus realistisch: Erstens wollte er Arbeit schaffen; und zweitens wollte er, gestützt auf die Reichswehr, eine breite Bürgerbewegung und die Gewerkschaften, die Nazi-Bewegung durch Spaltung der Partei und Zerschlagung ihrer paramilitärischen Organisationen unschädlich machen. Dazu hätte er vorübergehend den Staatsnotstand erklären müssen. Die SPD-Spitze lehnte dies jedoch ab und verlangte vom ADGB-Chef dieselbe Haltung. Leipart verhandelte zwar mit Schleicher, konnte sich aber zu einem Alleingang ohne die Partei nicht durchringen. Der Sozialdemokrat Gustav Noske erhebt in seinen Memoiren deswegen schwere Vorwürfe gegen die damalige SPD-Spitze: "In einer Verranntheit, wie sie in der Geschichte aller Parteien mir sonst nicht bekannt geworden ist, widersetzten sich Leute, die sich einbildeten, Führer zu sein, der letzten Möglichkeit, sich und ihre Einrichtungen vor der drohenden Vernichtung zu bewahren."27

Dabei hielt Schleicher, nachdem er am 2. Dezember von Hindenburg zum Reichskanzler ernannt worden war, alle seine Zusagen gegenüber den Gewerkschaften. Die Bekämpfung der Arbeitslosigkeit wurde zur vorrangigen Aufgabe erklärt. Günther Gereke wurde Reichskommissar für Arbeitsbeschaffung und griff auf die Pläne der Reformer zurück. Der sozial- und lohnpolitische Teil der von Papenschen Notverordnungen wurde außer Kraft gesetzt, wie Leipart es gefordert hatte. Am 15. Dezember hielt von Schleicher im Rundfunk eine programmatische Rede über die ergriffenen Maßnahmen. "Die Arbeitseinkommen sind tief herabgedrückt. Eine weitere Senkung ist weder sozial erträglich noch wirtschaftlich zweckmäßig." Der markanteste Satz war jedoch dieser: "Ich bin ketzerisch genug einzugestehen, daß ich weder ein Anhänger des Kapitalismus noch des Sozialismus bin. Wegen eines Dogmas soll man sich nicht die Köpfe einschlagen."28

Die Spaltung der NSDAP war leider mißlungen: Hitler entschied den innerparteilichen Machtkampf für sich, und am 8. Dezember 1932 mußte Gregor Strasser sämtliche Parteiämter niederlegen. Schacht setzte nun alles daran, Hitler an die Macht zu bringen. Dennoch hätte Schleicher sich mit Unterstützung der Gewerkschaften, die immerhin über die Waffe des Generalstreiks verfügten, und der Reichswehr wahrscheinlich lange genug halten können, bis das Arbeitsbeschaffungsprogramm Wirkung gezeigt hätte.

Nach langem Hin und Her bewilligte Reichsbankpräsident Luther schließlich einen Reichsbankkredit von 500 Mio. RM für die erste Tranche des Projekts (der WTB-Plan hatte 2 Mrd. RM gefordert). Das Programm wurde mit Verordnung vom 28. Januar 1933 beschlossen. Am gleichen Tag wurde die Regierung von Schleicher gestürzt - wieder einmal durch von Papen, der nach dem Krieg zusammen mit Schacht und den Nazikriegsverbrechern in Nürnberg auf der Anklagebank saß. Er wurde ebenso wie Schacht freigesprochen, denn die Anklage lautete leider nicht, Hitler an die Macht gebracht zu haben.

Robert Friedlaender-Prechtl, der Herausgeber der Wirtschaftswende kommentierte bitter, die Regierung Schleicher sei "durch die vereinigten Bemühungen der Großgrundbesitzer, Großindustriellen und Großbankherren gestürzt worden, die Sorge hatten, diese Regierung würde nicht genügend Respekt vor den heiligsten Einrichtungen der Nation haben, sondern die von den Besten des Landes schon lange als notwendig erkannten sozialen und wirtschaftlichen Reformen durchführen."

Der springende Punkt in dieser Tragödie lag jedoch in der Frage der Arbeitsbeschaffung und der produktiven Kreditschöpfung, ohne die sie nicht möglich war. Keiner hatte dies früher und klarer erkannt als die Gruppe um Wladimir Woytinsky. Fritz Baade schrieb 1960:

Diesen Fehler dürfen die demokratisch regierten Industriestaaten in der heutigen Weltwirtschaftskrise nicht noch einmal machen.

Perversion durch die Nazis

Die Nazis bemächtigten sich 1933 nicht nur der Staatsorgane, sondern auch des unter Schleicher durchgeplanten und beschlossenen Arbeitsbeschaffungsprogramms. Das ist schlimmer als ein Plagiat. Wenn jemand einem anderen eine Erfindung stiehlt, ist das an sich schon Verbrechen genug; katastrophaler noch ist, wenn der Räuber die Erfindung dabei verfälscht und ihre Zielsetzung ins böse Gegenteil verkehrt.

Nichtsdestoweniger wurde aus dem Verschwinden der Arbeitslosen unter der Hitler-Diktatur hinterher ein doppelseitiger Fehlschluß abgeleitet: Entweder benutzte man es als Argument für einen neuen Faschismus, welcher doch im Grunde ganz attraktiv sei, wenn man nur den Holocaust wegließe; oder man benutzte es, um jegliche dirigistische Abweichung vom neoliberal-monetaristischen Kurs als "faschistisch" (oder sozialistisch) zu verteufeln.30 Beide Argumente finden wir heute verknüpft mit neoliberalen Kampfparolen gegen Sozialstaat und Demokratie, während immer mehr Elemente tatsächlicher Nazi-Politik - von der Rationierung der Gesundheitsversorgung über die Legalisierung der Euthanasie bis zur Ausbeutung der Arbeitskraft von Häftlingen in privatisierten Gefängnissen - erschreckenderweise in die heutige politische Debatte oder gar in die konkrete Tagespolitik Eingang finden.

Und deswegen müssen wir das janusköpfige Nazi-Argument, die Arbeitsbeschaffung und produktive Kreditschöpfung betreffend, scharf zurückweisen.

Nur zur Erinnerung: Schacht widersetzte sich noch 1932 allen Vorschlägen zur Arbeitsbeschaffung und predigte stur Lohnsenkungen und Sparpolitik. Eine Generation sollte "sich bescheiden, sparen und arbeiten", hatte er 1931 bei der Konferenz der Harzburger Front gefordert.31 Von Kreditschöpfung wollte er nichts wissen. "Alle Projekte, die in irgendeiner Form zusätzliches Geld drucken wollen, sind von der Hand zu weisen."32

Doch mit der Machtergreifung im Januar 1933 wurde das Arbeitsbeschaffungsprogramm der Regierung Schleicher, der "Gereke-Plan" übernommen. Hitler versuchte von Anfang an, es in Richtung "Wehrhaftmachung" zu pervertieren. Nach wenigen Monaten wurde Gereke (nachdem er sich geweigert hatte, in die NSDAP einzutreten) ein Strafverfahren wegen Veruntreuung riesiger Geldsummen angehängt, das nur den einen Zweck hatte, ihn möglichst schnell loszuwerden. Schon im folgenden Jahr 1934 wurde der Rüstungsetat verzehnfacht. Insgesamt wurden 5,5 Mrd. RM für zivile Arbeitsbeschaffungsprojekte, mehr als 40 Mrd. dagegen für solche im Rüstungsbereich ausgegeben.

Nun zur produktiven Kreditschöpfung, die heutige Monetaristen und Neoliberale oft und gern mit Schachts Mefo-Wechseln vergleichen. Der Vergleich ist grotesk. Zum einen waren die Mefo-Wechsel keine produktive, sondern "unproduktive Kreditschöpfung", denn das Endprodukt diente der Rüstung und trug, im Gegensatz zu zivilen Projekten wie Eisenbahnstrecken oder Staudämmen, nichts zur Erhöhung der Produktivität der Gesamtwirtschaft bei.

Zum anderen waren die Mefo-Wechsel ein ausgemachter Schwindel: "Mefo" leitet sich von der "Metallurgischen Forschungsgesellschaft", die war eine Strohfirma mehrerer großer Rüstungskonzerne mit einem lächerlichen Eigenkapital von 1 Mio. DM war. Mit Schachts Unterstützung, der nun wieder Reichsbankchef war, stellte die Metallurgische Forschungsgesellschaft Wechsel in der 12000fachen Höhe ihres Eigenkapitals, nämlich über insgesamt 12 Mrd. RM aus. Alle "Reformer" waren sich darin einig, daß Reichsbankkredite (oder bei der Reichsbank diskontierbare Wechsel) nur für einen ganz bestimmten Zweck und in einem vorher nach reiflicher Diskussion festgelegten Umfange ausgegeben werden durften. Unter Schacht wurden Mefo-Wechsel heimlich und von keiner öffentlichen Instanz genehmigten oder kontrollierten Höhe in Umlauf gebracht, um mit diesem Megaschwindel die Aufrüstung und Vorbereitung des Angriffskrieges zu tarnen. Ähnlich bedenkenlos treiben die Zentralbanken heute unproduktive Kreditschöpfung, um den Zusammenbruch des bankrotten Weltfinanzsystem hinauszuschieben.

Es war eine Perversion des Arbeitsbeschaffungskonzepts der "Reformer". Von den "Reformern" war es als Mittel zur Ankurbelung der Wirtschaft gedacht, wohingegen Schacht an einen Ankurbelungseffekt nie geglaubt hatte. Er setzte vielmehr auf Zerschlagung der Gewerkschaften, auf die weitere Senkung der Tariflöhne33, auf die Ausbeutung von Arbeitskräften durch den Pflichtarbeitsdienst und auf Kostensenkung, auch wenn dies Menschenleben kostete. Diese Politik setzte sich später in der Ausbeutung ausländischer Zwangsarbeiter, der Häftlingsarbeit in den KZs, der Vernichtung angeblich "lebensunwerten Lebens" (Euthanasie) u.ä. fort. Das ist faschistische Wirtschaftspolitik - Nazi-Politik, die wir nie wieder dulden dürfen.

Fazit

Nach einer klassischen Tragödie im Theater geht der Zuschauer keineswegs deprimiert, sondern innerlich gestärkt davon. Denn er hat etwas erkannt, oder er beginnt zumindest, zu erkennen, welche Handlungen des oder der Helden im entscheidenden Augenblick einen positiven Ausweg aus der verwickelten Lage geboten hätten. So braucht uns also der tragische Ausgang des hier nachgezeichneten Dramas der 30er Jahre nicht in lähmenden Pessimismus zu stürzen. Denn wir haben heute vor allem den großen Vorteil, daß wir daraus lernen und die Fehler der Vergangenheit vermeiden können.

Zudem gibt es heute nicht nur eine kleine Gruppe von Reformern, sondern eine wachsende internationale Bewegung, die sich in vielen Ländern der Erde für eine Überwindung der Weltwirtschaftskrise einsetzt und in der das Schiller-Institut, die Bürgerrechtsbewegung Solidarität und besonders der Wirtschaftswissenschaftler Lyndon LaRouche eine intellektuelle Führungsrolle innehaben. Sie verfügt über einen in mehreren Jahrzehnten entwickelten strategischen Durchblick und, dank LaRouche, über das weltweit fortgeschrittenste Wissen über physische Wirtschaftszusammenhänge. Lange vor Ausbruch der jetzigen Wirtschafts- und Finanzkrise hat sie kohärente, internationale Programme zur Überwindung dieser Krise durch wirtschaftliche Entwicklung vorgelegt.

Jeder kann nun selbst Lehren aus diesem historischen Drama ziehen. Doch soviel als Resümee:

Die Gewerkschaftsbewegung heute - in Deutschland wie in allen anderen Ländern, wo es freie Gewerkschaften gibt - darf sich nicht in Abwehrkämpfen erschöpfen, sondern muß im Sinne Woytinskys für eine "aktive Wirtschaftspolitik", ein klares Gegenprogramm zum deflationären Sparkurs der Regierungen eintreten.

Die Hauptelemente eines solchen Programms sind folgende:

1. Schutz der Volkswirtschaften vor den Auswirkungen eines globalen Finanzkollapses: Zurückdrängen der Finanzspekulation durch Besteuerung; Vorsorge der nationalen Regierungen für den Fall eines Finanzkrachs; international abgestimmte Maßnahmen zur Reorganisation des bankrotten Finanzsystems.

2. Schluß mit dem "Abbauwahn". Aufgabe solcher weitgehend selbst auferlegten Deflationsmechanismen wie der ruinösen Maastricht-Kriterien, welche die Wirtschafts- und Haushaltskrise nur verschlimmern und unweigerlich zu einer faschistischen Austeritätspolitik führen, bei der Kostensenkung über Menschenleben geht.

3. Arbeitsbeschaffung durch öffentliche Infrastrukturmaßnahmen: Die Bürgerrechtsbewegung Solidarität hat z.B. für Deutschland ein Programm zur Schaffung von 1 Mio. Arbeitsplätzen bei öffentlichen Baumaßnahmen vorgeschlagen, das eine Vorfinanzierung in Höhe von 80 Mrd. DM erfordern würde. Diese Summe wird jedoch fast völlig durch die eingesparten Arbeitslosengelder bzw. die Steuern und Abgaben der wieder beschäftigten Arbeitslosen gedeckt.34

4. Finanzierung solcher Programme durch produktive Kreditschöpfung (z.B. in Deutschland durch die Kreditanstalt für Wiederaufbau oder bei völligem Wegfall der Kapitalmärkte, etwa nach einem Finanzkrach, durch Bundesbankkredite in bestimmten Umfang). Eine Inflationsgefahr ist dann ausgeschlossen, wenn das betreffende Vorhaben a) produktive Arbeitsplätze schafft, b) die güterproduzierende Wirtschaft wieder ankurbelt, und c) die Produktivität und Leistungsfähigkeit der Gesamtwirtschaft deutlich steigert.

5. Der weltstrategische Rahmen für solche Projekte ist heute von der Politik der "eurasischen Landbrücke" oder "neuen Seidenstraße" gesteckt.35 Hier haben wir das moderne Gegenstück zu Woytinskys Forderung von 1931 nach "Arbeitsbeschaffung durch Verwirklichung eines großzügigen Planes" zum "Wiederaufbau Europas".


Anmerkungen

1. Peregrine Worsthorne, Sunday Telegraph, 23.7.95, Überschrift: "A police state beats a welfare state" ("Polizeistaat geht über Wohlfahrtsstaat").

Derselbe in der gleichen Zeitung am 21.5.95 unter dem Titel "The Right-wing path to oppression": "Furthermore the degree of belt-tightening required of this country (gemeint ist England, G.L.) before it could hope to compete with Asia is going to be incomparably greater than anything demanded in the 1930s. William Rees-Mogg talks blithely of reducing public expenditure to not more than 25 per cent of national income... More capitalist stick, less welfare-state carrot - that is the pattern for the future. To govern under such conditions... will require a different class of ruler to anything available today." ("Der rechte Weg zur Unterdrückung": "Des weiteren wird das in diesem Lande erforderliche Maß des Gürtel-enger-Schnallens, bevor irgendwelche Aussicht auf erfolgreichen Wettbewerb mit Asien besteht, unvergleichlich größer sein als alles, was in den 30er Jahren gefordert wurde. William Rees-Mogg spricht fröhlich von der Reduzierung der öffentlichen Ausgaben auf nicht mehr als 25% des Nationaleinkommens... Mehr kapitalistischer Knüppel, weniger Wohlfahrtsstaats-Karotte - das ist das Modell der Zukunft. Unter solchen Bedingungen zu regieren... erfordert eine andere Sorte von Regierenden, als man sie heute zur Verfügung hat.")

Und am 4.2.96: "The big stick may be the next big idea": "It is not easy to write about the politics of fear... But since to a large extent politicians are paid to do the dirty work we do not want to do ourselves - such as imposing taxes, rationing scarce medical resources, locking people up... a reputation for nastiness ought to be an asset rather than a liability..." ("Der große Knüppel ist wohl die nächste große Idee": "Es ist nicht leicht, über die Politik der Angst zu schreiben... Aber da Politiker zum großen Teil dafür bezahlt werden, die Dreckarbeit zu erledigen, die wir nicht selbst tun wollen - etwa Steuern erheben, knappe medizinische Versorgungsleistungen rationieren, Leute einsperren... sollte der Ruf einer gewissen Bösartigkeit eher ein Plus als ein Minus darstellen...")

2. Robert Whelan, Mitarbeiter des Londoner Institute of Economic Affairs, schlug jüngst in der Zeitschrift des Instituts Economic Affairs vor, die afrikanischen Länder an multinationale Gesellschaften nach dem Vorbild der East India Company zu verpachten. In einem Kolonial-"Leasingvertrag" sollen die Pächter alle Staatseinkünfte bei einem festgelegten Höchststeuersatz für 21 Jahre leasen.

3. Vgl. Dringlichkeitsgesetz zur Wiederbelebung der Volkswirtschaft und LaRouches wirtschaftlicher Fünf-Punkte-Notplan in der EIRNA-Studie Maastricht ruiniert Europa, "Executive Intelligence Review"-Nachrichtenagentur, Wiesbaden, Mai 1996.

4. EIRNA-Studie Die eurasische Landbrücke, November 1996.

5. "Die Flut des wirtschaftlichen Wahnsinns" erschien in Volkswirtschaftliche Beilage des Betriebsrates, Hannover, Nr. 12, 1930, und in Betriebsräte-Zeitschrift, Stuttgart, Nr. 1, 1931.

6. W. Woytinsky, Internationale Hebung der Preise als Ausweg aus der Krise, Veröffentlichungen der Frankfurter Gesellschaft für Konjunkturforschung, Hans Buske Verlag, Leipzig 1931.

7. Die Arbeit, Nr. 6, 1931, S. 413-440.

8. Die Denkschrift von Wilhelm Lautenbach, "Möglichkeiten einer Konjunkturbelebung durch Investition und Kreditausweitung" in: Knut Borchert, Otto Schötz (Hrsg.), Wirtschaftspolitik in der Krise, Die Geheimkonferenz der Friedrich-List-Gesellschaft vom September 1931, Baden-Baden 1991, S. 307-325.

9. Robert Friedlaender-Prechtl, "Gereke-Plan", in: Wirtschaftswende, Sonderheft Februar 1933 (als es in Druck ging, war von Schleicher noch an der Regierung), S. 12.

10. Fritz Baade, Fighting Depression in Germany, in: Emma S. Woytinsky (Hrsg.), So Much Alive. The Life and Work of W.S. Woytinsky, Vanguard Press, New York 1961, S. 64.

11. "Thesen zum Kampf gegen die Wirtschaftskrise. Vorgelegt von Dr. Baade - Tarnow - Woytinsky", Berlin, 23.12.31, Msk. im DGB-Archiv bei der Friedrich-Ebert-Stiftung, veröffentlicht in: Michael Schneider, Das Arbeitsbeschaffungsprogramm des ADGB, Verlag Neue Gesellschaft, Bonn-Bad Godesberg 1975, S. 225ff.

12. "Der Arbeitsbeschaffungsplan (Baade - Tarnow - Woytinsky)", Berlin, 26.1.32, Msk. im DGB-Archiv bei der Friedrich-Ebert-Stiftung, veröff. in: Michael Schneider, Das Arbeitsbeschaffungsprogramm des ADGB, S. 231ff.

13. Julius Leber (Gustav Dahrendorf Hrsg.), Ein Mann geht seinen Weg, Mosaik Verlag, Berlin-Frankfurt 1952.

14. Zit. nach Schneider, S. 93.

15. "Wiederaufbau durch Arbeitsbeschaffung. Beschluß des Außerordentlichen Gewerkschaftskongresses vom 13. April zu Berlin", in: Gewerkschaftszeitung Nr. 17, 23.4.32, zit. nach Schneider, S. 235f.

16. W. Woytinsky, "Wann kommt die aktive Wirtschaftspolitik?", Die Arbeit, Nr. 1, 1932, S. 24.

17. W. Woytinsky, Stormy Passage. A Personal History Through Two Russian Revolutions to Democracy and Freedom: 1905-1960, Vanguard Press, New York 1961, S. 466f.

18. Woytinsky zitiert in Die Arbeit Nr. 1, 1932, das Berliner Tageblatt vom 9.12.31.

19. Vgl. Gustav Stolper, Deutsche Wirtschaft seit 1870, Mohr (Siebeck), Tübingen 1964, S. 138.

20. W. Woytinsky, "Für und wider Arbeitsbeschaffung", in: Gewerkschaftszeitung Nr. 18, 1932, S. 277.

21. Heinrich Dräger, "Produktive Kreditschöpfung", in: Wirtschaftswende, Sonderheft Februar 1933, S. 34.

22. Julius Leber, a.a.O., S. 89.

23. Vgl. Avraham Barkai, Das Wirtschaftssystem des Nationalsozialismus, Fischer, Frankfurt 1988, S. 44f.

24. Vgl. F. Baade, Fighting Depression, a.a.O., S. 65 und 68.

25. Wilhelm Högner, Der schwierige Außenseiter, Isar-Verlag, München 1959, S.74

26. Zu dem Kreis um Hitlers Wirtschaftsberater Keppler zählten neben Schacht, Thyssen und dem Bankier von Schroeder auch Vögler (Rheinisch-Westfälisches Kohlensyndikat), Rosterg (Wintershall AG), Reinhart (Commerzbank), Helfferich (HAPAG) und Steinbrinck (Friedrich Flick KG). Vgl. Hannes Heer, Burgfrieden oder Klassenkampf, Luchterhand, Neuwied-Berlin 1971, S. 54.

27. Gustav Noske, Erlebtes..., Bollwerk Verlag, Offenbach 1947, S. 311.

28. Zitiert nach Friedrich Stampfer, Die ersten 14 Jahre der deutschen Republik, Bollwerk Verlag, Offenbach 1947, S. 659.

29. F. Baade, a.a.O., S. 65.

30. Lord William Rees-Mogg, Propagandist der "Konservativen Revolution", schafft beides in ein und demselben Artikel, siehe die Londoner Times vom 17.10.96. Überschrift: "Europe's fascist spectre". Darin unterstellt Rees-Mogg Franklin Delano Roosevelt und John F. Kennedy eine faschistische Wirtschaftspolitik und räsoniert gleichzeitig darüber, was am Faschismus schon immer so "attraktiv" gewesen sei - z.B. der Neodarwinismus. Auch Hitler habe an das "Überleben des Stärksten" geglaubt.

31. Vgl. Heinz Pentzlin, Hjalmar Schacht, Ullstein, Berlin 1980, S.158.

32. Vgl. A. Barkai, a.a.O., S.43 (Fußnote).

33. Nach Hitlers Machtergreifung sanken die Realtariflöhne brutto und netto weiter, wegen Mehrarbeit stiegen die Realwochenlöhne jedoch geringfügig an. Vgl. Barkai, a.a.O., Tabelle S. 236.

34. Lothar Komps Arbeitsbeschaffungsplan: "Die Alternative zu Maastricht: Das produktive Dreieck", in: EIRNA-Studie Maastricht ruiniert Europa, S. 23ff.

35. Siehe Anm. 4.


Für ihre Unterstützung bei der Materialsammlung zu diesem Artikel möchte ich mich bedanken bei Robert Becker, Edmund Steinschulte und dem Archiv der Friedrich-Ebert-Stiftung.

 

Aktuelle Ausgabe Diese Ausgabe Kernthemen Suchen Abonnieren Leserforum