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Die Schöpfungen des Menschen (2)

Von Lyndon LaRouche
- 2. Teil -

Diese Schrift, die wir in mehreren Teilen veröffentlichen, erschien auf englisch im Juni 2005 im Nachrichtenmagazin Executive Intelligence Review (EIR).


Ironie: das klassische Prinzip in der Kunst
Leben als Kunst: das Prinzip der Tragödie

Ironie: das klassische Prinzip in der Kunst

Das Wort "Idee" wird heutzutage gemeinhin auf völlig unwissende Art und Weise verwendet. Im streng klassischen Sinne beschränkt sich die Verwendung des Begriffs "Idee" auf Gedanken über universelle Naturprinzipien oder Gedanken zur klassischen Kunst, die mit derselben Strenge genauer Unterscheidung geschaffen wurden. In Lehre und Praxis in der Naturwissenschaft, besonders der Mathematik, und sogar noch schlimmer bei der Definition von Gesetzen künstlerischer Komposition stößt man auf etwas, das man treffend als "Faktor der Schlamperei" beschreiben könnte. Wie der verstorbene Brite C.P. Snow formulierte, führte dies zu einem Zustand, den er als Krise der "zwei Kulturen" in der neuzeitlichen europäischen Zivilisation bezeichnete - eine Trennung zwischen Wissenschaft und Kunst. Beide Seiten der betreffenden Profession sind daran schuld; die Folgen für die Bildung sind schwerwiegend, und die moralischen Auswirkungen dieses Zustands waren oft katastrophal. Ich verwende hier den Begriff "Idee" in seiner richtigen, strengsten Bedeutung für beide Bereiche.

Typisch für die erwähnte "Schlamperei" ist die Methode von D'Alembert, Euler und Lagrange bei ihren Angriffen auf Leibniz - sie werden dafür in Gauß' Schrift aus dem Jahr 1799 über den Fundamentalsatz der Algebra völlig zurecht angegriffen. Sie wollten einfache algebraische Methoden; die Tatsache, daß es zwischen einer bloßen Algebra und einem Thema der physikalischen Geometrie - wie z.B. der ontologische, geometrische Unterschied zwischen Punkt, Linie, Körper usw. - einen ontologischen Unterschied gibt, wischten sie quasi mit einer lässigen Handbewegung beiseite. Diese Empiristen und andere, ähnlich Gesinnte, wie z.B Euler und Lagrange, verwenden an Stelle wirklicher wissenschaftlicher Prinzipien eine reduktionistische Vorstellung von Mechanik. Mit anderen Worten, sie begingen bewußt einen ebenso simplen Betrug wie die Anhänger von Rameau und Fux gegenüber dem Werk von J.S. Bach und seinen Nachfolgern. Heute ist ein methodologischer Betrug derselben Art im Bereich der Komposition und Aufführung von Dichtung und klassischem Drama weithin, wenn auch glücklicherweise nicht überall verbreitet.

Ich will nun Ihre Aufmerksamkeit auf ein Problem lenken: den Begriff der klassischen Ironie. Es handelt sich um ein wesentliches Prinzip der klassischen Dichtkunst. Eine Idee, welche eng verbunden ist mit dem Konzept eines wirkenden universellen Naturgesetzes und ihren Ausdruck auch in der klassischen Musik findet.

Um den Gedanken genauer zu fassen, sollten wir als Beispiel vier Dramen Shakespeares betrachten: Julius Cäsar und drei dramatische Behandlungen von Stoffen, die nicht rein historischen, sondern legendären Gesellschaften entsprechen:König Lear, Macbeth und Hamlet. Bei der ersten von Shakespeare dargestellten Gesellschaft handelt es sich um eine wahrheitsgemäße Nachbildung der moralisch dekadenten Kultur des alten Rom. Die Kulturen der anderen drei Gesellschaften, welche Shakespeare darstellt, sind auch verkommen, offen gesagt sogar ziemlich verrückt. Dabei geht es darum, die betreffende Kultur in jedem wahren historischen (Julius Cäsars Rom) oder legendären Fall historisch treffend darzustellen.

Mit diesen Worten sind wir in einem Bereich angelangt, der reich von klassischen Ironien geprägt ist.

Die Bühnensprache ist die von Shakespeares England, aber diese Sprache wird verwendet, um eine antike Kultur zu vermitteln, die mit dem Gebrauch der von Shakespeare vorgeschriebenen englischen Sprache nicht übereinstimmt. In Julius Cäsar drückt sich die verkommene Seele des wahren Roms in der damaligen Zeit in der englischen Sprache aus und enthüllt somit den Charakter ihres wahren Selbst an jenem Ort und zu jener Zeit.15 Ironie! Das Prinzip ist dieselbe, historisch genau treffende Darstellung, die Shakespeare in seinem Bericht über Herrschaft und Fall der venezianisch-normannischen Tyrannei in Englands Geschichte im Mittelalter vermitteln wollte, diesmal angewandt auf den betreffenden historischen Fall und keinen anderen. Ironie!

Unfähige Leute, wie etwa Romantiker oder Modernisten, werden diese Dramen als eine kostümierte Handlung auf die Bühne bringen, die nicht dem gegebenen geschichtlichen Rahmen entspricht, sondern ein kaum verhüllter Ausdruck der jeweils zeitgenössischen Kultur ist. Was den Unterschied ausmacht, wird deutlich an Schillers Gedicht Die Kraniche des Ibykus. Schiller unternahm dafür ziemlich umfassende Vorarbeiten, an denen Goethe, Wilhelm von Humboldt und andere beteiligt waren, in der Absicht, das reichlich ironische Gefühl der Sprache und Atmosphäre des wahren Korinth zu Ibykus' Lebenszeiten zu vermitteln - aber eben in Schillers Deutsch. Eine Fülle an Ironie!

Es ist ein entscheidender Vorteil für das Publikum, wenn die beabsichtigte historische Genauigkeit getreu erarbeitet wird, so wie es Schiller bei seiner Komposition der Kraniche des Ibykus tat. Das ruft ein unheimliches, ironisches Gefühl hervor, wie es angemessene Inszenierungen jedes dieser Dramen tun werden.

Wie Schiller betont: Der normale Zuschauer von der Straße sollte, wenn er das Theater verläßt, dieses als ein anderer Mensch verlassen. In einem anderen Zustand als den, mit dem er wenige Stunden vorher das Theater betrat. Ironie! Diese Wirkung ist aber keine weinerliche moralische Erbauung, wie man es von den Ergüssen fundamentalistischer Geistlicher her kennt. Die Wirkung rührt daher, daß der Bürger einer Geschichte, die anders ist als seine eigene Lebenserfahrung zu seiner Zeit an seinem Ort, über die Schulter blickt. Ironie! "Warum haben die nicht gemerkt, wie verkommen ihre Kultur war? Könnte ich heute etwas gegen tragische Irrtümer in meiner eigenen Gesellschaft tun? Wie dumm müßte ich sein, wenn ich nicht meine eigene Kultur so betrachten könnte, wie die im Theaterstück dargestellte Kultur, deren Verrücktheit offensichtlich war?" Ironie! Er wird nicht so närrisch sein, zu versuchen, von der Kultur auf der Bühne ein Prinzip für seine eigene Kultur abzuleiten.

Die Absicht sollte nicht sein, die Leidenschaft des Bürgers dahingehend anzuregen, etwa die Geschichte der Kultur, die auf der Bühne daherstolzierte, verändern zu wollen oder moralische Richtlinien von ihr abzuleiten. Vielmehr soll er entsprechende Einsichten in die qualitativ völlig anderen geschichtlichen Besonderheiten seiner eigenen Kultur entwickeln. Nur ein närrischer, absonderlicher Mann würde auf der Bühne oder im wahren Leben so tun, als wäre er schwanger. Ironie!

Wir alle sind Teil einer umfassenden Geschichte - der europäischen Geschichte. Die Erde ist nicht flach wie eine Scheibe, und genausowenig ist es irgendein bedeutsamer Abschnitt der Kultur in der Geschichte.

Die Kultur jedes Ortes und Zeitabschnitts besitzt bestimmte dynamische Eigenschaften, in sich und bezogen auf Unterschiede zu allen längeren Abschnitten der Geschichte. Diesen Unterschieden - Ironien! - sollte die Aufmerksamkeit des Schriftstellers und des Regisseurs gewidmet sein. Der fähige Schriftsteller ist, wie Friedrich Schiller vorschreibt, vor allem ein Historiker ganz bestimmter Art. Jedes klassische Drama muß eine Reise des Geistes in eine bestimmte Zeit und an einen bestimmten Ort in der Geschichte sein, so als besuchte man ein Land, wo man ironischerweise nicht die eigene Sprache spricht, und wo die Gewohnheiten des gesellschaftlichen Austauschs ironisch anders sind. Dieser Sinn für die Geschichte aus der Sicht dieser ironischen bewußten Erfahrung der unterschiedlichen Qualität der Zusammensetzung von Kulturen, von Gesellschaften, ja von aufeinanderfolgenden Generationen derselben Gesellschaft - wie es das Beispiel des kulturellen Konflikts zwischen der "68er-Generation" und jungen Erwachsenen im Studentenalter heute zeigt - ist immer mit ein Gegenstand der Aufgabe des klassischen Theaters im allgemeinen.

Das bringt uns zur nächsten Ebene, die berücksichtigt werden muß. Der Romantiker oder Existentialist, der während der Aufführung im Publikum sitzt, bildet sich in seiner simplen Denkweise ein, er beobachte als Teil des Publikums das Verhalten auf der Bühne und reagiere auf das, was er erlebt - tatsächlich sind es Autor, Regisseur und Schauspieler, die ironisch die Zuschauer beobachten und Schlußfolgerungen über das erwartete und tatsächliche Verhalten dieses Publikums wie auch über sich selbst ziehen. Alles ist Ironie! Ich erläutere:

Die Umlaufbahn der Planeten ist nicht kreisförmig, sondern elliptisch. Ironie! Fermat wies nach, daß der Weg der geringsten Wirkung (Aktion) nicht derjenige der kürzesten Entfernung ist, sondern derjenige der kürzesten, schnellsten Zeit. Ironie! Huyghens dachte, dieser Weg sei durch das Zykloid definiert - aber Leibniz und Bernouilli wiesen nach, daß es das von der Kettenlinie definierte Prinzip des Leibnizschen Kalkulus war, das Prinzip der allgemeinen geringsten Wirkung. Ironie!

Alle großen Dramatiker, Regisseure und Schauspieler der klassischen Kunst in Schauspiel und Dichtung verfolgen keinen geringeren Zweck als den, ihre Mitmenschen das unsterbliche Wesen des erfahrenen, lebenden menschlichen Individuums und seiner Gattung gezielt erahnen zu lassen.16 Ironie! Bereits eine solche Umschreibung entspricht ihrem Wesen nach einer ontologischen Aktualität im Sinne von Beispielen wie Bernhard Riemanns Darstellung des richtigen metaphysischen Verständnisses von Dirichlets Prinzip, so wie Riemann dies in seinem Werk zu Abelschen Funktionen über Dirichlets eigene Beweisführung hinaus entwickelt: Abelsche Funktionen sind Ausdruck buchstäblich grenzenloser Ironie, was an sich schon eine ironische Vorstellung ist. Zur richtigen Verwendung des Begriffes "metaphysisch" verweise ich den Leser zum Vergleich auf den grundlegenden Gedankengang, den ich als Kern meiner Schrift Wernadskij und das Dirichlet-Prinzip geliefert habe.

Um den Kern des Gedankenganges zu wiederholen, sage ich hier folgendes. Bei der wissenschaftlich korrekten Anwendung des Begriffs metaphysisch betont die Wissenschaft, daß Sinneserfahrung nur bedingt Gültigkeit hat - daß sie bestenfalls Schatten der wirkenden Realität darstellt, die als Folgen der Wirkung nicht wahrgenommener, aber nachweisbar wirkender Prinzipien auf den Sinnesapparat des einzelnen hervorgerufen wurden. Universelle Prinzipien oder Gesetze kann man nie unmittelbar mit den Sinnen erkennen, sondern bestenfalls nur das Vorhandensein ihrer Wirkungen, welche zeigen, daß unbestreitbar etwas wirkt, die aber - wie die Auffassungen des komplexen Bereichs der mathematischen Physiker - nicht selbst als Gegenstand der Sinneswahrnehmung in Erscheinung treten.

Wirklich ist nicht etwa das, was eine naive Auslegung von Sinneseindrücken vermuten läßt - sondern bestenfalls das, was das den Sinneseindrücken Unbekannte als Schatten auf das Sensorium wirft. Das ist das Wesen der Ironie! Solche Ironie vereint Naturwissenschaft und die Praxis gültiger klassischer künstlerischer Komposition als übereinstimmende Eigenschaften menschlichen Wissens des Menschen in dem Universum, in dem wir existieren.

Dieses Prinzip der Ironie ist das wahre Gesetz aller Komposition und Aufführung klassischer Kunst. Das ist es, was etwa aus dem Gesamtwerk Leonardo da Vincis ein einziges einheitliches Unternehmen macht.

Um zu vermitteln, was wahr ist, muß man auf die Ironie des Entwicklungsprozesses der ständigen Veränderung zurückgreifen, der die Bereiche von Sterblichkeit und Unsterblichkeit in einer einzigen Erfahrung verschmilzt. Das ist der höchste Ausdruck klassischer Kunst. Dies ist die unverzichtbare Aufgabe klassischer künstlerischer Komposition und ihrer Aufführung.

Leben als Kunst: das Prinzip der Tragödie

Im Werk Wernadskijs existiert das Leben nachweislich als universelles Prinzip, aber das Leben läßt sich nicht funktionell in den relativ universellen Bereich der abiotischen Abläufe einordnen. Es wirkt auf den abiotischen Bereich und innerhalb seiner Grenzen, aber das Leben als solches ist nicht Teil dieses Bereichs und steht über ihm. In ähnlicher Weise definiert sich die Noosphäre durch ein Prinzip der denkenden Erkenntnis (Kognition), das sich nicht innerhalb der Grenzen der Biologie einordnen läßt und über ihm steht. Der Bezug auf real wirkende Prinzipien wie diese ist der einzige vernünftige Gebrauch des Begriffs "metaphysisch", so wie die Gauß-Riemannsche Vorstellung des komplexen Bereichs die erkenntnistheoretisch metaphysische Aktualität aller erfahrenen physischen Abläufe im Universum bezeichnet.

Diesen Begriff physisch wirkender metaphysischen Seins haben schon die Alten wie die Pythagoreer und Platon verstanden. In der platonischen und christlichen Theologie entspricht er der Vorstellung von der Unsterblichkeit der individuellen menschlichen Persönlichkeit; es entspricht der Idee vom Menschen, dessen Funktion innerhalb der Noosphäre aufgrund der Sterblichkeit, welche das Leben jedes einzelen Menschen bestimmt, begrenzt ist; Dennoch, das Besondere eines Menschen, seine individuelle Persönlichkeit liegt im Wirkungsbreich eines Prinzips, das keinen biologischen Tod erfährt. So kann im Werk Wernadskijs und seiner entsprechenden Nachfolger nur das Leben an sich Leben erzeugen, und nur das Prinzip der individuellen Erkenntnis an sich kann Erkenntnis erzeugen.

Deshalb verbinden vernünftige Menschen und Gesellschaften ihr wichtigstes Eigeninteresse mit dem Begriff der Unsterblichkeit, wie er mit der Existenz des menschlichen Lebens innerhalb der Noosphäre verbunden ist, wenn auch nur als Andeutung der Unsterblichkeit. Die einzige vernünftige Verwendung des Begriffs "klassisch" in der europäischen Zivilisation geht nach unserem besten heutigen Wissen auf Ideen zurück, die von den Pythagoreern und Platon entwickelt wurden. Deren Vorstellungen beruhten wiederum auf Entwicklungen, welche bis in die ägyptische Zivilisation zurückreichen. Die gesamte europäische klassische Wissenschaft und Kunst ist Gegenstand dieser Sicht der Natur des einzelnen Mitglieds der Menschheit im Universum.

Nehmen wir zum Beispiel Shakespeares Werk.

Seit eine Bande venezianischer Schufte - wie Zorzi ("Giorgi"), Kardinal Pole, Thomas Cromwell u.a. - den Justizmord an Sir Thomas More (Morus) bewirkt hatte, nahm das zeitgenössische England Christopher Marlowes und Shakespeares Eigenschaften eines schrecklichen venezianischen Alptraums an. Früher war mit der Befreiung unter Richmond (Heinrich VII.) ein England entstanden, das frei von der langen Tyrannei der ultramontanen Kräfte der venezianisch-normannischen Partnerschaft und ein Segen gewesen war: die Erfahrung des neuzeitlichen souveränen Gemeinwesens. Dieser Commonwealth der Zeit von Sir Thomas More war nun in großer Gefahr, bedroht, wie später zu Shakespeares Zeit, vom Aufstieg einer Neuen Partei in Venedig, wodurch England im frühen 17. Jh. immer mehr von Paolo Sarpi und dessen Agenten wie dem verkommenen Sir Francis Bacon und Thomas Hobbes beherrscht wurde.

Für Shakespeares Kreis der Anhänger von Sir Thomas More u.a. hätte es keinen Richmond (Heinrich VII.) geben können, wäre nicht Ludwig XI. in Frankreich gewesen, und keinen Ludwig, wäre nicht Jeanne d'Arc gewesen. Diese Geschichte reichte weit zurück in tiefliegende Schichten der Menschheit, lange vor dem Übel des römischen Kaiserreiches. Unter dem Einfluß der Anhänger Paolo Sarpis - darunter Bacon, Hobbes und John Locke - wurden Shakespeares Theaterstücke entweder verboten oder von den Regisseuren bis zur Unkenntlichkeit verstümmelt, bis ihr Erbe in Deutschland von den Kreisen, welche den Grundstein für die deutsche Klassik im späten 18. Jh. legten - es handelt sich um Shakespeare-Bewunderer wie Abraham Kästner, dessen Schüler Gotthold Ephraim Lessing, Moses Mendelssohn, Goethe und Schiller - gerettet wurde.17

Auf der klassischen Bühne ist die menschliche Geschichte unsterblich. Sie existiert in einer "Gleichzeitigkeit der Ewigkeit", wie Raphael Sanzio dies in der Schule von Athen im Vatikanischen Museum darstellt. Auf diese Bühne in der Ewigkeit der Menschheit stellt das klassische Schauspiel sowohl das Stück als auch das Publikum. So stellte der Dichter Aischylos im Gefesselten Prometheus Prometheus und die Menschheit im Rahmen des unsterblichen Kampfes gegen die bösartige, quasi satanische Tyrannei des olympischen Zeus dar. Man vergleiche Shakespeares Behandlung des Hamlet mit einer bestimmten Eigenheit von Aischylos' Gefesseltem Prometheus und mit dem Versuch P.B. Shelleys, diesen zu rekonstruieren.

Die vorherrschende Schwäche in der antiken griechischen Tragödie vor Aischylos' Prometheus-Trilogie und Platons entsprechendem Protest gegen die Tragöden im allgemeinen, besteht darin, daß das Drama nicht einmal die Vorahnung eines ironisch vorgestellten Schattens einer Lösung für die zukünftige Gesellschaft - das "Erhabene" im Schillerschen Sinne - enthält. Der gefesselte Prometheus bildet eine Ausnahme unter den klassischen Tragödien, die vor Platon geschrieben wurden und die eine entscheidende Schwäche aufweisen. In den überlieferten Inhaltsangaben von Aischylos' Trilogie wird Prometheus im abschließenden dritten Teil des Schauspiels aus Gefangenschaft und Folter befreit. Hier liegt die furchtbare Macht, die gegen Zeus aufgebracht wird, eine Macht, die im vorhergehenden Gefesselten Prometheus bereits ironisch angedeutet wird.

In diesem Fall findet sich die Lösung nicht in der Handlung des Dramas als solcher. Sie liegt im Geist des Publikums, weil es sich um Menschen handelt, die sehen, wie der Wohltäter der Menschheit gefoltert wird, weil er das Recht der Menschen (aus denen sich das Publikum ironischerweise zusammensetzt) verteidigt, ihre natürliche Fähigkeit zur Entdeckung und Anwendung nützlicher universeller Prinzipien zum Ausdruck zu bringen. Wer sich an Solons Brief an seine dekadenten Mitbürger, der noch etwas weiter zurückliegt, erinnert, wird auch imstande sein zu erkennen, daß der verfolgte Prometheus der Wohltäter der Menschen ist und ihretwegen verfolgt wird. Dieser Teil der Trilogie, Der gefesselte Prometheus, hat verfassungsrechtliche Bedeutung, welche sich in der Gründung der amerikanischen Republik widerspiegelt. Der Abschnitt aus Goethes fragmentarischem Großkophta, in dem Prometheus Zeus verflucht, ist hier ein relevanter Bezugspunkt.18 Derartige Ironie ist das Geheimnis aller klassischen Dichtungen und Dramen in Komposition und Aufführung, die heute noch unserer Aufmerksamkeit würdig sind!

Der olympische Mythos ist Ausdruck für einen gesellschaftlichen Zustand, wo eine herrschende Oligarchie die Lebensumstände der Mehrheit der Menschheit auf die Stufe von wildem oder gezähmtem menschlichem Vieh herabgewürdigt hat. Es ist diesem Vieh verboten, die Entdeckung universeller Naturgesetze anzuwenden, ja sich diese auch nur vorzustellen; als Beispiel dient in dem Stück von Aischylos die Verwendung des Feuers. Sie dürfen die Mittel, durch die sich der Zustand der breiten Masse der Menschen verbessern ließe, nicht kennen. Man nennt das beschönigend die "traditionelle Kultur", die für Menschenvieh vorgeschrieben ist. Deshalb wird der Sklave, der Lesen und Schreiben gelernt hat, von der Hand des Ungeheuers, das die Gesetze schreibt, ermordet.

Um Shakespeares Werk angemessen zu folgen, müssen wir das Prinzip dieses Schauspiels von Aischylos berücksichtigen - beispielsweise bei Hamlet. Wie Shakespeare Horatio in den Schlußszene des Stücks beiseite zum Publikum hin sagen läßt: Wir müssen aus diesen Ereignissen, die sich auf der Bühne, nicht in England, zugetragen haben, Lehren ziehen, damit es in Zukunft nicht wieder geschieht. Das sagt der Dichter nicht zu den Bewohnern Skandinaviens im Drama, sondern zum englischen Publikum, welches bei der Aufführung des Schauspiels anwesend ist. Das Spielen mit dem Spiel ist in diesem Augenblick der Triumph von Verfasser, Schauspielern und Publikum über das Übel von Hamlets verkommenem Staate Dänemark. Es gibt kein "Happy End" im Stück an sich, aber für ein gegenwärtiges oder zukünftiges Publikum, das sich von der Ironie des Dramas, das es erfahren hat, angemessen begeistern läßt, wird ein gutes Ende erreichbar.

So wird in Aischylos' Prometheus oder den Dramen des reifen Shakespeare, bei Lessing und Schiller wie in den besten Werken Goethes das Abschreckende einer schrecklichen Kultur an sich zum Sprungbrett, um vorauszusehen, was Schiller als Prinzip des Erhabenen definierte. Der einzelne Mensch muß größer werden als sein persönliches Schicksal. Aischylos' Prometheus veranschaulicht das genauso wie die Jeanne d'Arc der wahren Geschichte und in Schillers inhaltlich wahrheitsgemäßer Darstellung auf der Bühne. Das klassische europäische Drama muß immer diesem Maßstab der Definition seines Sinns und Zwecks standhalten.

In dem Drama des wahren Lebens der Jeanne d'Arc (Johanna von Orleans) gibt es kein "Happy End" ihres sterblichen Lebens; was bleibt, ist ihre tatsächliche Unsterblichkeit. Sie findet ihren Ausdruck in der Selbstbefreiung Frankreichs von der normannischen Tyrannei, welche durch die Sendung Jeanne d'Arcs eingeleitet wurde. Jeanne starb, wie alle Männer und Frauen auf die eine oder andere Weise sterben werden; aber sie hat die Unsterblichkeit gewonnen - ironischerweise durch die Art und Weise, wie sie mit der übermächtigen Gefahr für ihr sterbliches Dasein umging.

Der Fall von Shakespeares Richard III. rückt die reale Jeanne d'Arc klar in den Brennpunkt, ebenso wie es Schiller mit seinem Schauspiel tut.

Trotz des klassischen Menschenbildes, das in den besten Momenten der antiken griechischen Kultur - wie Solons Brief an das Volk von Athen oder Platons Lehre von der Unsterblichkeit und Agape - zum Ausdruck kommt, war die Lage des Volkes im allgemeinen bedrückend. Sie lebten mehr oder weniger in einem tierhaften Zustand, als Menschenvieh, das von Oligarchien wie den mythischen Göttern des Olymp gehütet wurde. Der moralische Verfall Athens, eine Folge der von Eleaten und Sophisten verbreiteten reduktionistischen Philosophie; die Übel, welche den Niedergang des Römischen Reiches einleiteten, das Byzantinische Reich und die ultramontane Tyrannei unter der Aufsicht der Finanzoligarchie Venedigs und der normannischen Ritter - all dies zeigt uns eine lange Geschichte großer Qualen, eine ausgedehnte Tragödie. Schließlich wurde in der Renaissance des 15. Jh. eine neue Gesellschaftsform auf der Grundlage des Prinzips der Agape gegründet: die Gemeinwesen Frankreichs unter Ludwig XI. und Englands unter Heinrich VII. Es war ein neuer Zustand der Menschheit im neuzeitlichen Europa, und dieser bessere Zustand ist der Renaissance jenes Jahrhunderts zu verdanken.

Wahre Kunst befaßt sich mit keinen geringeren Themen als der Fähigkeit der Menschenseele zum Guten, oder, mangels dessen, zum Bösen. In Shakespeares Richard III., wo Richmond quasi den alten Drachen der normannischen Ritterschaft erschlägt, sollte man die Befreiung der Menschheit von einem großen Übel sehen. Retrospektiv findet hier das Leiden der unterdrückten christlichen Märtyrer im Römischen Reich von Nero bis Diokletian und der Schrecken des praktisch völkermörderischen neuen finsteren Zeitalters im Europa des 14. Jh., welche die Allianz der venezianischen Finanzoligarchie mit den normannischen Rittern heraufbeschwor, seine historische Rechtfertigung.

Was der Zuschauer aus der großen klassischen Tragödie gewinnt, ist vor allem anderen eine Ahnung der Unsterblichkeit, die Unsterblichkeit der realen Jeanne d'Arc, die Schiller mit den Hilfsmitteln des klassischen Theaters auf der Bühne zum Leben erweckt. Ein anderes Beispiel ist die Bedeutung des Lebenswerks von Martin Luther King. Das, was es zu erfassen gilt, ist die unsterbliche Bedeutung der eigenen kurzen sterblichen Existenz. Man muß sich die Frage stellen: "Was soll ich mit diesem sterblichen Leben beginnen, um die Aufgabe dieser kurzen sterblichen Existenz zu erfüllen?" Das ist der ironische Unterschied zwischen menschlichem Leben und der unsäglich kleinen Seele, die in Lord Chesterfields berühmter Briefsammlung zum Ausdruck kommt, oder in der falschen Auslegung des klassischen Dramas als Ansammlung mehr oder weniger kleinlichen Moralisierens, wenn der Romantiker oder Existentialist klassische Bühnenwerke oder Gedichte bei der Aufführung erstickt.

Die Bedeutung des sterblichen Lebens des einzelnen liegt in der Zukunft der Gesellschaft. "Was, mein Lieber, könnte der unsterbliche Zweck deines sterblichen Lebens sein?" Das Erleben der klassischen Tragödie zwingt uns, die Qualen der Vergangenheit, ihre unvollendeten Errungenschaften zu hören, und, wenn wir können, zu entdecken, mit welchen Mitteln wir zu einem Resultat beitragen können, das die Vergangenheit uns in der Gegenwart oder Zukunft zu verwirklichen aufgetragen hat. Ernsthafte Bürger denken mehrere Generationen oder sogar noch weiter voraus. Dazu stürzen sie sich nicht in wilde Phantasien, sondern wählen ein paar Ecksteine aus, die heute gelegt werden müssen, weil sie ein notwendiger Schritt hin zu etwas von Bedeutung sind, das die Menschheit in der Zukunft verwirklichen sollte. So mache ich als Ökonom in meinem Alter keinen politischen Plan, der sich nicht auf eine Welt bezöge, welche die heute jungen Erwachsenen im Laufe des kommenden halben Jahrhunderts - von heute aus zwei Generationen in die Zukunft gesehen - erleben werden.

Große Kunst ist gerade in dem Maße groß, wie sie solche Absicht, welche den Künstler bei seiner Kunst leitet, zum Ausdruck zu bringen vermag. Das ist das Wesen, der Zweck und die notwendige Qualität für die Aufführung klassischer Tragödien und Dichtung. Bei der ernsthaften klassischen Kunst, wie auch bei der wahren Naturwissenschaft, geht es immer um den Aufbau einer besseren Zukunft, in der unsere Nachfahren leben werden. Wahre Wissenschaft hat, wie wahre Kunst, kein überzeugenderes Ziel als das. So muß man klassisches Drama und klassische Poesie verstehen und aufführen.

In der Unsterblichkeit menschlicher Seelen finden alle Gerechtigkeit, die Guten wie die Bösen, und ebenso die Feigen und bloß Unnützen. Das ist das Wesen wahrer Wissenschaft.


Anmerkungen

15. Aus Gründen, die ich etwas weiter unten darlege, ist nichts falsch daran, wenn Shakespeare oder moderne Regisseure das Englische so verwenden.

16. Es ist dokumentiert, daß sogar der englische Dichter Wordsworth die Bedeutung dieses Gegenstandes einräumte, ohne ihn jedoch wirklich wirksam zu beschreiben.

17. Abraham Kästner (1719-1800) war der führende Mathematiker im Deutschland des 18. Jh., einer der wichtigsten Lehrer und später Mitarbeiter Gotthold Ephraim Lessings und einer der beiden wichtigsten Lehrer von Carl Friedrich Gauß (neben Zimmermann), Benjamin Franklin war bei ihm zu Gast. Kästner wirkte maßgeblich in dem Kreis, der Leibniz' gegen Locke gerichteten Neuen Abhandlungen über den menschlichen Verstand einen bestimmenden Einfluß auf die Abfassung der Unabhängigkeitserklärung der Vereinigten Staaten von 1776 verschaffte. Er spielte auch eine Schlüsselrolle bei der Wiederbelebung der unverfälschten Werke Shakespeares in und von Deutschland aus. Nachdem Carl Gauß 1799 in seiner Dissertation den Betrug von D'Alembert, Euler und Lagrange angegriffen hatte, tat die empirische Schule der späteren Gegner von Gauß und Riemann im 19. Jh. alles, Kästner zu diffamieren und in Vergessenheit zu bringen. Erst die Gründung der deutschen Klassik durch Kästners Kreis im 18. Jh. brachte dem englischsprachigen Teil der Welt, etwa Benjamin Franklin oder Percy B. Shelley, das klassische Erbe Shakespeares zurück - welche Ironie!

18. Dieses Gedicht wurde von Hugo Wolf als Lied gesetzt. Die von der Hugo-Wolf-Gesellschaft aufgezeichnete Aufnahme des berühmten Bassisten und Kantors Friedrich Schorr ist - trotz meiner Vorbehalte gegen einen großen Teil der Werke Hugo Wolfs - ein bemerkenswerter Bezugspunkt.

Lesen Sie hierzu bitte auch:
Die Schöpfungen des Menschen (1) - Neue Solidarität Nr. 40/2006
Was LaRouche wirklich sagt - Erklärungen zur aktuellen politischen Lage - Internetseite der Bürgerrechtsbewegung Solidarität
Schriften von Lyndon H. LaRouche 1981-2006 - Internetseite des Schiller-Instituts

 

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