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Am 4. April 1968 wurde Dr. Martin Luther King ermordet. An dem Abend davor hatte er seine historische Rede „Ich war auf dem Gipfel des Berges“ gehalten.
„Du bist vielleicht 38 Jahre alt, so wie ich es zufällig bin. Und eines Tages steht eine große Gelegenheit vor dir und ruft dich auf, für ein großes Prinzip einzustehen, für einen großen Gegenstand, für eine große Sache. Und du weigerst dich, das zu tun, weil du Angst hast... Du weigerst dich, weil du länger leben möchtest... Du hast Angst, weil du deine Arbeit verlieren wirst, oder du hast Angst davor, daß man dich kritisiert und du dich unbeliebt machst, oder du hast Angst davor, daß jemand dich ersticht oder auf dich schießt oder in deinem Haus eine Bombe legt, deshalb weigerst du dich, für die Sache einzustehen...
Dann kannst du vielleicht weitermachen und weiterleben, bis du 90 bist, aber du wirst mit 38 schon genauso tot sein wie mit 90. Und wenn du aufhören wirst zu atmen, wird das nur die verspätete Kundgabe sein, daß dein Geist längst gestorben ist. Du bist gestorben, als du dich geweigert hast, für die Wahrheit einzustehen. Du bist gestorben, als du dich geweigert hast, für Gerechtigkeit einzustehen.“
Auf den Tag genau ein Jahr vor seiner Ermordung hielt Dr. Martin Luther King eine Rede in der Riverside Church in New York City, in der er den Vietnamkrieg moralisch verurteilte. In diesem Augenblick, am 4. April 1967, machte King den Schritt, nicht mehr nur Sprecher und Katalysator der amerikanischen Bürgerrechtsbewegung zu sein, sondern moralische Verantwortung für die Außen- und Weltpolitik der amerikanischen Regierung zu übernehmen. Ihm schlug der wütendste Feuersturm an Kritik entgegen, den er jemals erlebt hatte.
Der Kongreßabgeordnete John Lewis, 1967 der Führung der mit King verbundenen Jugendgruppe SNCC angehörend, sprach darüber in einem Interview mit der Journalistin Amy Goodman am 5. Juli 2013. Goodman erläuterte: „Das Time Magazine nannte damals Kings Rede ,eine demagogische Verleumdung, die sich wie ein Manuskript für Radio Hanoi anhört’. Das war Dr. Kings Rede gegen den Krieg in Vietnam 1967. Die Washington Post verkündete, King hätte, so schreibt sie genau, ,seine Nützlichkeit für seine Sache, sein Land, sein Volk herabgemindert’.“
Lewis antwortete: „Ich denke, das ist sehr bedauerlich bei Publikationen wie Time und Washington Post - wenn sie diese Artikel heute umschreiben müßten, klänge die Geschichte ganz anders. Er hatte recht - wie so viele andere Politiker, die sich gegen den Krieg stellten, ob das Eugene McCarthy war oder andere, später dann Bobby Kennedy. Dieser Krieg hat viel dazu beigetragen, die Hoffnungen, Träume und Bestrebungen sehr vieler Menschen zu zerstören.“
Einzigartig in den Annalen der Geschichte Amerikas und der Welt ist Martin Luther Kings Rede vom 3. April 1968. So wie Jesus Christus 24 Stunden, nachdem er den „Kelch“ von Gethsemane annahm, gekreuzigt wurde, so sollte King einen Tag, nachdem er den „Preis der Nachfolge“ bewußt angenommen hatte, am 4. April um 18.01 Uhr sterben. King war von prophetischem Vorherwissen erfüllt, und er handelte danach. Zu einem Treffen im Bishop Charles Mason Temple in Memphis, Tennessee versammelte er seine engsten Mitarbeiter und seine Unterstützer, um sie mit ihrer wahren Unsterblichkeit zu konfrontieren.
Das aufwühlende Ende dieser Rede - „Ich war auf der Spitze des Berges“ - wird oft zitiert, aber die Metapher zu Beginn macht sehr deutlich, daß die ganze Rede eine einzige, durchkomponierte Idee ist. Obwohl er sie frei hielt, ist sie vom ersten bis zum letzten Satz genau durchdacht und nur einem Thema gewidmet: der Unsterblichkeit. Man kann sie mit gutem Recht Martin Luther Kings „Gethsemane-Rede“ nennen.
King führt zuerst den Zuhörern den großen Bogen von Raum und Zeit vor Auge, in dessen Rahmen sich der konkrete Anlaß in Memphis, ein Streik der Müllmänner, und sein eigener letzter Abend auf Erden abspielten:
„Es geschieht etwas in Memphis - es geschieht etwas in unserer Welt. Und wißt ihr, wenn ich am Anfang der Zeit stünde und die Möglichkeit hätte, in einer Art Panoramablick die ganze Menschheitsgeschichte bis zum heutigen Tag zu überschauen, und wenn der Allmächtige zu mir sagte: ,Martin Luther King, in welchem Zeitalter würdest du gern leben?’, ich flöge im Geiste nach Ägypten, und ich würde Gottes Kindern zuschauen bei ihrem herrlichen Marsch aus den dunklen Kerkern Ägyptens durch oder besser über das Rote Meer, durch die Wüste hin zum Gelobten Land. Und, obwohl es herrlich wäre, würde ich dort nicht bleiben.
Ich ginge weiter nach Griechenland und würde meinen Geist zum Olymp erheben. Und ich sähe Platon, Aristoteles, Sokrates, Euripides und Aristophanes um den Parthenon versammelt. Und ich würde ihnen am Parthenon zuschauen, wie sie über die großen und ewigen Fragen der Wirklichkeit diskutieren. Aber ich würde dort nicht bleiben.
Ich ginge sogar weiter bis zur Blütezeit des Römischen Reiches. Und ich sähe die Entwicklungen dort, unter verschiedenen Kaisern und Staatsführern. Aber ich würde dort nicht bleiben.
Ich würde mich sogar zum Zeitalter der Renaissance aufschwingen und einen raschen Blick darauf werfen, was die Renaissance alles für das kulturelle und ästhetische Leben der Menschheit geleistet hat. Aber ich würde dort nicht bleiben.
Ich ginge sogar dorthin, wo der Mann zuhause war, nach dem ich meinen Namen trage. Und ich würde Martin Luther beobachten, wie er die 95 Thesen an die Kirchentür zu Wittenberg nagelt. Aber ich würde dort nicht bleiben...
Es mag seltsam klingen, ich würde mich an den Allmächtigen wenden und sagen: ,Wenn du mir erlaubst, nur ein paar Jahre in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts zu leben, dann werde ich glücklich sein.”
Gegen Ende der Rede macht King sich auch Gedanken dazu, daß er nach einer Messerattacke auf ihn in New York City 1958 beinahe tot gewesen wäre:
„Am nächsten Morgen stand in der New York Times, wenn ich nur einmal geniest hätte, dann wäre ich gestorben. Etwa vier Tage später erlaubte man mir nach der Operation, nachdem sie mir die Brust geöffnet und die Klinge herausgenommen hatten, im Krankenhaus im Rollstuhl herumzufahren. Ich durfte auch etwas Post an mich lesen; aus ganz Amerika, aus der ganzen Welt kamen freundliche Briefe. Ich las mehrere, aber einen werde ich nie vergessen. Ich hatte etwas vom Präsidenten und vom Vizepräsidenten bekommen; was in diesen Telegrammen stand, habe ich vergessen. Ich erhielt einen Besuch und einen Brief vom Gouverneur von New York, aber was in dem Brief stand, habe ich vergessen. Aber da war noch ein anderer Brief, von einem Mädchen, die Schülerin an der White Plains High School war. Und ich schaute mir diesen Brief an, und ich werde ihn nie vergessen. Er lautete schlicht:
,Sehr geehrter Dr. King!
Ich bin eine Schülerin der 9. Klasse in der White Plains High School.’
Und sie schrieb:
,Obwohl es keine Rolle spielen sollte, möchte ich erwähnen, daß ich weiß bin. Ich habe in der Zeitung von Ihrem Unglück und Ihrem Leid gelesen. Und ich habe gelesen, wenn Sie einmal geniest hätten, dann wären Sie gestorben. Ich schreibe Ihnen einfach nur, um zu sagen, daß ich sehr, sehr glücklich darüber bin, daß Sie nicht geniest haben.’
Und ich möchte heute abend sagen, daß auch ich glücklich bin, daß ich nicht geniest habe.“
Dann schildert er, was er alles in Gang gesetzt und erreicht hat - die Bewegung in Birmingham, den Marsch auf Washington, das Bürgerrechtsgesetz, den Friedensnobelpreis, das Wahlrechtsgesetz, den Widerstand gegen den Vietnamkrieg - „weil ich nicht geniest hatte“, um dann zu erklären: „Aber im Grunde ist das jetzt egal, denn ich war auf dem Gipfel des Berges“. Das bezog sich auf Moses, der die Juden 40 Jahre lang durch die Wüste zum Gelobten Land führte und es selbst nicht mehr betreten konnte, aber auf den Berg Nebo stieg und es von dort sehen durfte.
King sprach darüber, daß er die Zukunft gesehen hatte, daß er sich in der Zukunft befand und in diesem Sinne unsterblich war. Er sprach aber nicht aus einer Todesahnung heraus, sondern weil er den „Preis der Nachfolge“ Christi akzeptiert hatte. [Der Verfasser bezieht sich auf Dietrich Bonhoeffers Buch Nachfolge, es trägt in der US-Ausgabe den Titel The Cost of Discipleship, d.h. „Der Preis der Nachfolge“, Red.]. King schloß:
„Ich weiß nicht, was jetzt geschehen wird. Es liegen einige schwierige Tage vor uns. Aber das kümmert mich jetzt eigentlich nicht, denn ich bin auf dem Gipfel des Berges gewesen. Und ich sorge mich nicht.
Wie jeder Mensch würde ich gerne lange leben. Langes Leben hat seinen Wert. Aber darum sorge ich mich jetzt nicht. Ich möchte nur Gottes Willen tun. Und er hat mir erlaubt, auf den Berg zu steigen. Und ich habe hinübergesehen. Und ich habe das Gelobte Land gesehen. Vielleicht gelange ich nicht mit euch dorthin. Aber ihr sollt heute abend wissen, daß wir, als Volk, in das Gelobte Land gelangen werden.“
Lawrence Freeman