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Neue Solidarität
Nr. 16, 15. April 2015

Zum 200. Geburtstag Otto von Bismarcks

Das Geheimnis der Wirtschaft

Von Karsten Werner

Otto von Bismarck ist eine Reizfigur, damals wie heute. Zu Recht, denn er war keine dieser glattgebügelten Gestalten, wie wir sie heute nahezu flächendeckend in der politischen Landschaft erblicken und ertragen müssen. Unter seiner Führung wurde die Kleinstaaterei hierzulande überwunden und Deutschland erstmals als Nationalstaat geeint.1 Den Grundstein zu einem modernen Industrie- und Sozialstaat konnte er aber erst legen, nachdem er unter dem Einfluß gewisser Kreise eine zentrale Erkenntnis gewonnen hatte - Bismarck erkannte und bekämpfte eine bis heute andauernde Seuche: die Freihandelspolitik des Britischen Empire.

Freihandel?

Wer genauer auf die Wortwahl von Politikern achtet, bemerkt, daß sie gewisse Formulierungen als unumstößliche Wahrheiten geradezu gebetsmühlenartig wiederholen, ohne sie jemals genauer zu erklären. Unter dem Deckmantel „mehr Europa!“ wird die Demokratie durch Abgabe staatlicher Souveränität an Brüssel schrittweise abgeschafft, mit dem „Krieg gegen den Terror“ werden die Angriffskriege gegen Afghanistan und den Irak und die Hunderttausende toter Zivilisten gerechtfertigt, und mit der „Verteidigung von Menschenrechten“ deckt man bewaffnete Putschversuche in Libyen, Syrien und der Ukraine.

Eine weitere, zunächst harmlos klingende Floskel ist die „freie Marktwirtschaft“, in der die sagenumwobenen Märkte als unsichtbare Kraft die Geschicke der Völker automatisch zum Besten aller ordnen. Dabei werden Waren möglichst billig eingekauft und dann möglichst teuer verkauft. Das klingt gut und vereinfacht das eigene Weltbild, vor allem, weil auch ein klares Feindbild vorhanden ist: der böse Protektionismus. Im Grunde geht es hierbei um die Streitfrage, ob sich der Staat weitestgehend aus der Wirtschaft raushalten oder aber eine dirigistische Rolle einnehmen sollte.

Brandaktuell ist das Thema schon allein deshalb, weil derzeit allerorts neue sogenannte Freihandelsabkommen verhandelt werden, vor allem das mittlerweile schon berühmt-berüchtigte Transatlantische Freihandelsabkommen TTIP, welches die Handels- und Wirtschaftsbedingungen in und zwischen den USA und der Europäischen Union maßgeblich ändern soll. Private Konzerne würden im Endeffekt mehr Macht als gewählte Regierungen innehaben, und erstere könnten letztere im Ernstfall sogar bei Gesetzesänderungen auf Schadenersatz verklagen. Und obwohl Frau Merkel in den Medien immer als die Tonangeberin in Europa dargestellt wird, hört man selbst von ihr öfter Sätze wie diesen: „Wir dürfen die Märkte nicht beunruhigen.“ Damit ist sie allerdings nicht allein, denn alle zentralen Entscheidungsträger der westlichen Welt einschließlich der US-Regierung sind Jünger des Marktes.

Und Bismarck?

Genauso verhielt es sich auch zur Zeit Bismarcks, nur finden wir die Schlagworte damals etwas anders geartet. So liest man vom Lager der Freihändler auf der einen und dem der Schutzzöllner auf der anderen Seite. In der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts waren im Deutschen Reich nahezu alle Universitäten, Zeitungen, Politiker und Volkswirte auf der Seite des Freihandels, der mit religiösem Eifer verteidigt wurde. Ihren Ursprung hat diese Doktrin in Werken aus dem 18. Jahrhundert, vor allem von britischen Schreiberlingen wie Adam Smith, David Hume, John Locke u.a., die allesamt dasselbe Menschenbild teilten: der Mensch ist ein Sinneswesen, kann beobachten, genießen und leiden, aber nicht die Ursachen der Dinge erforschen und wissen, geschweige denn den großen Lauf der Dinge beeinflussen. Dafür sind ja die Märkte da.

So war auch Bismarck anfangs wie seine engeren Verbündeten im Reichstag, wie z.B. die beiden Bankiers Bamberger und Delbrück, überzeugter Vertreter des Freihandels. Folglich waren Zölle auf importierte Waren wie z.B. Eisen und Getreide extrem niedrig oder nicht vorhanden, was zur Überflutung des deutschen Marktes mit Billigwaren aus anderen Ländern führte und damit die heimische Landwirtschaft und Industrie in den Ruin trieb.

Aber glücklicherweise war Bismarck im Gegensatz zu den meisten Politikern kein bornierter Ideologe, sondern ließ sich bei politischen Fehlentscheidungen im Nachhinein auch eines Besseren belehren.

Schon vor dem eklatanten Scheitern der so hochgepriesenen Freihandelspolitik hatte ihn ein gewisser Wilhelm von Kardorff wiederholt gewarnt, daß diese Theorie nichts tauge. Auch Kardorff war zunächst „ein Manchestermann reinsten Wassers“,2 wie er selbst schrieb, wurde aber wie Bismarck letztendlich durch einen einfachen Denkanstoß bekehrt: Wenn die Freihandelstheorien richtig wären, müßten alle protektionistischen Länder verarmen, alle Freihandelsländer hingegen reich werden. Da aber das Gegenteil der Fall war, mußte in der Freihandelstheorie ein Rechenfehler stecken.

Kardorff sattelte nun auf die Schriften Henry C. Careys um. Carey war zu jener Zeit Amerikas führender Ökonom und unter anderem Wirtschaftsberater Lincolns gewesen. Seine Werke machten damals in ganz Deutschland die Runde und sorgten aufgrund der festgefahrenen Glaubensrichtung für mächtig Furore, da er das ganze System des Freihandels in Frage stellte.

Im völligen Gegensatz zur vorherrschenden Meinung sah Carey das Geheimnis nationalen Reichtums in der „vervollkommneten Herrschaft eines Volkes über die unentgeltlichen Kräfte der Natur“. Hier war der Mensch ein kreatives Wesen, welches durch Forschung und Wissenschaft immer mehr Gesetzen der Natur auf die Schliche kam und diese Kräfte in Form von technischem Fortschritt für die Steigerung des gesellschaftlichen Wohlstands anwandte. Ökonomie als begreifbare Natur- und Sozialwissenschaft statt theoretischem Hokuspokus.

Die Wirtschaftsrevolution

Diese Ideen prägten den Reichstagsabgeordneten Wilhelm von Kardorff, der von nun an unermüdlich für eine Veränderung der deutschen Wirtschaftspolitik kämpfte. Im Namen des Schutzzolls schrieb und publizierte er unzählige Schriften, hielt im Reichstag etliche Reden und gründete nicht zuletzt auch für diese Zwecke im Jahre 1876 den Centralverband deutscher Industrieller, den Vorläufer des heutigen BDI. Nach Jahren enger Zusammenarbeit mit Bismarck gelang es Kardorff Ende der 1870er Jahre schließlich, den Reichskanzler von der Richtigkeit des Careyschen Systems zu überzeugen.

Der Skandal in der Politik ließ nicht auf sich warten: Langjährige Verbündete wie die erwähnten Abgeordneten Bamberger und Delbrück brachen offen mit Bismarck, die ganze Parteienlandschaft geriet durcheinander, weil in allen Parteien beide Lager vertreten waren, doch letztendlich blieb Bismarck standhaft.

Dieser politische Wandel machte nicht nur den modernen Industriestaat möglich, mit seiner kurz darauffolgenden Sozialgesetzgebung und der darin enthaltenen Renten-, Kranken- und Unfallversicherung schuf Bismarck auch den damals modernsten Sozialstaat. Bei der Ankündigung der Sozialgesetzgebung im Reichstag im April 1881 sagte Bismarck über den Freihandel folgendes:

Ein Jahr später im Juni wird er in einer Rede vor demselben Haus noch deutlicher: „Ich halte den ganzen Freihandel für falsch.“ Noch in derselben Rede entlarvt er das System dann völlig als das anglo-imperiale Gesetz des Dschungels:

Hier wird klar, daß Bismarck den Freihandel nicht nur als schlecht für die Wirtschaft, sondern insgesamt als staatszersetzende Ideologie durchschaut hatte. Zusammengenommen mit seiner detaillierten Kenntnisse der Ränkespiele und Intrigen der europäischen Königshäuser schon aus seiner Zeit als Diplomat hatte Bismarck nun eine deutlich bessere Vorstellung von der Gesamtstrategie des Britischen Empire.

Zur Sicherung seiner Vormachtstellung war dem Empire gegen militärisch ebenbürtige Länder - neben dem Freihandel - jedes Mittel recht, sogar Farbrevolutionen wie auf dem Kiewer Maidan gab es damals schon: „Fremde Staaten mit Hilfe der Revolution zu bedrohen, ist heutzutage seit einer ziemlichen Reihe von Jahren das Gewerbe Englands“, so Bismarck in seinen Memoiren. Andere Mittel sind die Intrigen und der Einfluß am Hof, denn in fast jedem europäischen Königshaus lag ein viktorianisches Ei.3 Gegen Schwächere wurden auch bei scheinbar kleineren Disputen die Kanonenboote als Mittel der Konfliktlösung herangezogen, so wie in den Opiumkriegen gegen China. Königin Victoria ließ als Reaktion auf das chinesische Verbot des Imports von Opium aus Britisch-Indien die damals militärisch völlig unterlegene chinesische Flotte versenken und die heiligen Stätten niederbrennen, mit der Begründung: Wer den Opiumhandel verbietet, stellt den Freihandel prinzipiell in Frage, und das werden wir auf keinen Fall zulassen.

Ein offenes Ende

Die Ideen Henry Careys wurden in den 1870er und 1880er Jahren u.a. durch die großen Eisenbahnprojekte in den USA, Deutschland, Rußland und Japan umgesetzt und wurden immer mehr zur Existenzbedrohung für das hauptsächlich auf Seemacht basierende britische Weltreich. Heute sind es die BRICS-Staaten, die mit souveräner Finanzpolitik große Projekte wie die Neue Seidenstraße auf den Weg bringen und dabei als gleichwertige Partner zusammenarbeiten.

Diese Perspektive war in anderer Konstellation im Grunde schon damals dabei, umgesetzt zu werden, doch leider konnte das Empire damals die Oberhand gewinnen. Durch den Tod der Kaiser Wilhelm I. und Friedrich III. wurde Wilhelm II. zum deutschen Kaiser, über den Bismarck einmal gesagt hatte, er „sei ein Brausekopf, könne nicht schweigen, sei Schmeichlern zugänglich und könne Deutschland in einen Krieg stürzen, ohne es zu ahnen und zu wollen“. Genauso kam es dann auch, Bismarck wurde entlassen, der Rückversicherungsvertrag mit Rußland nicht verlängert, und so zog sich die Schlinge in den folgenden Jahren immer weiter zu, bis zum Ausbruch des Ersten Weltkrieges.

Heute stehen wir wieder vor der Entscheidung zwischen der anglo-amerikanischen Kriegspolitik der NATO, die uns in den dritten Weltkrieg gegen Rußland treiben will, oder der gemeinsamen globalen Entwicklungsperspektive der BRICS-Staaten. Wie es diesmal ausgeht, entscheiden wir alle.


Anmerkungen

1. Das alles zugegebenermaßen nicht ganz unproblematisch, aber gezwungenermaßen auch deswegen, weil bei früheren Gelegenheiten zur nationalen Einigung wie nach den Befreiungskriegen 1813-15 oder der Revolution 1848 die politischen Anführer versagt hatten.

2. Aus einer sehr lesenswerten Schrift Kardorffs namens „Gegen den Strom - Eine Kritik der Handelspolitik des Deutschen Reiches an der Hand der Carey’schen Forderungen“, in: Lyndon LaRouche, Helga Zepp-LaRouche, u.a., Das Geheimnis der Wirtschaft - Lösung der globalen Systemkrise: Trennbankensystem und produktive Kreditschöpfung, EIR GmbH, Wiesbaden 2011.

3. In Deutschland war es die namensgleiche Victoria, die den Kronprinzen und späteren 100-Tage-Kaiser Friedrich III. heiratete und Bismarck, wo es nur ging, bekämpfte.