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Von Rachel Douglas
Der russische Ökonom suchte den Dialog mit den USA, auch in gefährlichen Zeiten.
Professor Stanislaw Menschikow (1927-2014), der herausragende russische Ökonom und USA-Experte, starb am 13. November 2014 in seinem Wohnort Amsterdam. Er wurde 87 Jahre alt.
Stanislaw Menschikow war einer der energischsten, schillerndsten und kenntnisreichsten Träger der sowjetisch-amerikanischen Beziehungen auf dem Höhepunkt des Kalten Krieges und danach der russisch-amerikanischen Beziehungen. Er war befreundet mit Beratern von Präsident John F. Kennedy wie Michael Forrestal und John Kenneth Galbraith und pflegte den Austausch mit unterschiedlichen Vertretern des US-Establishments, darunter David Rockefeller, Henry Kissinger und Zbigniew Brzezinski.
Obwohl Insider in beiden Ländern ihn als kompromißlos in grundsätzlichen Fragen kannten, war Menschikow immer eifrig interessiert an einem offenen und substantiellen Dialog mit Amerikanern. In den 80er Jahren wurde er einer breiteren Öffentlichkeit in den USA bekannt, als er häufig als Vertreter sowjetischer Ansichten in vielgesehenen Fernsehsendungen von David Brinkley, Ted Koppel und anderen zu Gast war. Seine Rolle bei den Auseinandersetzungen über die Wirtschaftspolitik in der Sowjetunion zur gleichen Zeit ist weniger bekannt, aber nichtsdestoweniger von bleibender Bedeutung.
Wir hatten die Ehre, Professor Menschikow 15 Jahre lang als persönlichen Freund von Lyndon LaRouche und Helga Zepp-LaRouche und als Teilnehmer vieler EIR-Seminare und Konferenzen des Schiller-Instituts in Europa zu kennen. In dieser Eigenschaft sprach er nicht nur für sich selbst, sondern diente auch als europäischer Verbindungsmann einer Gruppe in der Russischen Akademie der Wissenschaften um das inzwischen verstorbene Akademiemitglied Dmitri S. Lwow. Menschikow und Lwow waren Vorsitzende der 1989 gegründeten NGO „Ökonomen gegen das Wettrüsten“ (ECAAR).
Die englischsprachige Ausgabe von Menschikows Buch „Die Anatomie des russischen Kapitalismus“ wurde 2007 von EIR übersetzt und veröffentlicht. Im Mai jenes Jahres empfing Menschikow LaRouche als Ehrengast bei der Feier seines 80. Geburtstages in der Akademie der Wissenschaften in Moskau; im September 2007 waren er und seine Ehefrau, die Ökonomin Larisa Klimenko-Menschikowa, im Gegenzug Ehrengäste der Feier zu LaRouches 85. Geburtstag, die im Umfeld der Konferenz des Schiller-Instituts „Die Eurasische Landbrücke wird Realität“ in Deutschland stattfand. (Lesen Sie dazu auch die Dokumentation „Menschikow und LaRouche“ in dieser Ausgabe.)
Menschikow sprach seit seiner Kindheit in London, wo sein Vater, Michail A. Menschikow, 1930-36 das Handelsbüro der Anglo-Russian Cooperative Society (ARCOS) leitete, fließend Englisch. Stanislaw Menschikow erinnert sich in seinen Memoiren daran, daß er zum erstenmal, wie später so häufig während seines langen Lebens, in Schwierigkeiten geriet, als er sich als Schuljunge weigerte, im Klassenraum Rule, Britannia! singen.1
Der Vater Menschikow diente im weiteren als sowjetischer Vizeminister und dann Minister für Außenhandel; Vizechef der Nothilfe- und Wiederaufbauverwaltung der Vereinten Nationen (UNRRA) in Washington (1943-46); sowjetischer Botschafter in Indien (1953-57) und den Vereinigten Staaten (1958-Januar 1962). Stanislaw Menschikow berichtet, er habe von seinem Vater gelernt, mit Ausländern, auch Amerikanern, immer wie mit seinesgleichen zu reden.
Menschikow erinnert sich daran, wie er als junger Teenager nach dem Ausbruch des Zweiten Weltkriegs beim Bau von Verteidigungsanlagen rund um Moskau half. Mit 16 Jahren trat er in das Staatliche Moskauer Institut für Internationale Beziehungen (MGIMO) ein, aus dem bald die Universität des Außenministeriums wurde, und er schloß sie als Teilnehmer des ersten Absolventenjahrgangs 1948 ab.
Zwei seiner dortigen Projekte belegen die gründlichen historischen Studien, auf die sich seine zukünftige Arbeit stützen sollte.
Als Student im zweiten Jahr holte ihn ein Wirtschaftsbeamter des sowjetischen Außenministeriums in eine Arbeitsgruppe für englisch-russische Übersetzungen, und er arbeitete an der Übersetzung eines Buches über die Wirtschaftsbeziehungen zwischen internationalen Kartellen, darunter führende Wallstreet-Firmen, und dem Dritten Reich.
Noch eindrucksvoller ist Menschikows Bericht über seine Arbeit im vierten Studienjahr am MGIMO, eine Studie über „Privilegien der britischen Krone“. Sie wurde nie veröffentlicht und war offenbar auch nicht sehr umfangreich, doch Menschikow erinnert sich an diese Schrift: „Die Rolle des britischen Monarchen bei der Gestaltung der Politik des Landes wird gewöhnlich als vernachlässigbar betrachtet... In Wirklichkeit ist die britische Krone eine sorgfältig bewahrte Institution höchster Staatsmacht, so etwas wie ein kollektives Staatsoberhaupt... Der britische Monarch bleibt noch heute eine der wichtigsten politischen Figuren der westlichen Welt.“
Trotz seiner Spitzenausbildung und des Status seines Vaters wartete auf Menschikow keine schnelle Karriere. Von 1953 bis 1957 stand in seinen Akten ein negativer Vermerk wegen eines strengen Tadels über seine jugendliche Freundschaft mit dem Sohn eines georgischen Kommunisten, den man zum „Feind des Volkes“ erklärt hatte. Menschikow wurde in der Angelegenheit auch 1944 am Sitz der Geheimpolizei verhört.
Menschikow arbeitete erst als Dozent am MGIMO, dann als internationaler Journalist und Wirtschaftsanalyst bei der sowjetischen Wochenschrift New Times, die in einem Dutzend Sprachen erschien und weltweit verbreitet wurde. In dieser Eigenschaft reiste er 1960 im Gefolge des sowjetischen Staatschefs Nikita Chruschtschow nach Asien; Menschikow interviewte dort den indischen Ministerpräsidenten Jawaharlal Nehru und den indonesischen Präsidenten Sukarno, zwei herausragende Staatsmänner, die damals begannen, die Bewegung der blockfreien Staaten aufzubauen.
Indem er sich zunehmend auf Wirtschaftswissenschaft konzentrierte, unternahm Menschikow mit seiner Dissertation eine gründliche Bestandsaufnahme, wer die US-amerikanische Wirtschaft beherrsche. Seine erste Forschungsarbeit nach dem Studium befaßte sich mit Landwirtschaft und Getreidehandel in den USA, sein erster Besuch in den Vereinigten Staaten folgte 1958 als persönlicher Gast seines Vaters, des Botschafters. Menschikow verband dann eine peinlich genaue Untersuchung der US-Konzerne mit einem Aufenthalt unter dem Austauschprogramm IREX (International Research & Exchanges Board) im Jahr 1962. Er interviewte viele maßgebliche Personen des Gegenstands seiner Forschung und knüpfte persönliche Kontakte zu einem breiten Spektrum vieler anderer Amerikaner.
Das Endresultat war das Buch „Millionäre und Manager: die Struktur der Finanzoligarchie in den USA“ (Millionaires and Managers, 1966), eine der vielen Gelegenheiten, bei denen Menschikow neue Herangehensweisen an das Verständnis der USA in die Diskussion in der Sowjetunion einbrachte. Während seiner Geburtstagsfeier im Mai 2007 erklärte ein Redner nach dem anderen, dieses Buch habe ihnen die Augen geöffnet und ihre Weltsicht verändert.
Später erschütterte Menschikow wieder die Gemeinde der Ökonomen und Strategen der Kommunistischen Partei mit seiner Veröffentlichung einer russischen Übersetzung von Schriften von J.K. Galbraith, dem früheren Ökonomen von Roosevelts New Deal und Berater Präsident Kennedys. Später, 1988, veröffentlichten Galbraith und Menschikow gemeinsam einen bemerkenswerten Band, über den Antony Papert in EIR schrieb:2
„Unmittelbar vor dem Großen krach vom Oktober 1987 wandte sich der seither verstorbene, ehrwürdige John Kenneth Galbraith aus Harvard an Menschikow, den er einen ,bemerkenswert gutinformierten Gelehrten’ nannte, und die beiden diskutierten zehn Tage lang in Vermont. Die Abschrift der Gespräche erschien parallel in der Sowjetunion und in den USA unter der Überschrift Kapitalismus, Kommunismus und Koexistenz. Galbraith, einst Wirtschaftsberater von Franklin Roosevelt und John Kennedy, sprach für Menschikow wie für sich selbst, als er dort schrieb: ,Aber es war nicht unsere Absicht, ... in unseren Gesprächen ,Punkte zu machen’. Wir sahen darin keine Debatte, die einer von uns gewinnt und der andere verliert. Vielmehr sahen wir darin einen Beitrag zu dem größeren Sieg, den wir uns beide zu gleichen Teilen erhoffen.’
Gewaltige und plötzliche weltpolitische Veränderungen, die damals nur wenige vorhersahen (einer der wenigen war LaRouche) haben die Periode der letzten 20 Jahre deutlich in zwei Abschnitte unterteilt. Daher könnten die Voraussetzungen des Austauschs von Galbraith und Menschikow 1987 in gewisser Hinsicht obsolet erscheinen. Aber welche Überraschung, wie hochaktuell und relevant vieles davon ist! So bemerkte Galbraith beispielsweise, daß die US-Wirtschaft 25 gute Jahre hatte, von 1945 bis 1970, aber ,das Glück war nicht von Dauer’. Erst sagte er, schuld daran sei die Ablösung seiner Ökonomengeneration durch eine ,jüngere und weniger fähige Generation’, aber dann widersprach er sich sofort und behauptete, diese Erklärung sei nur ein Scherz gewesen.
Galbraith verurteilte den Monetarismus und den Wechsel zu einer Dienstleistungsökonomie, der unsere Reichtum produzierende Industrie, wie Stahl und Automobile, geschwächt habe. Über die Gewerkschaften sagte er: ,Statt Lohnerhöhungen zu erreichen, müssen sie über Kürzungen verhandeln.’ Menschikow seinerseits betonte, man müsse neue Rohstoffquellen finden, um eine wachsende Weltbevölkerung zu versorgen. Er widersprach ignoranten verbreiteten Vorurteilen über die neueren amerikanisch-russischen Beziehungen, indem er anmerkte, daß Rußland in den 1930er Jahren zeitweise nicht weniger als 40% aller US-Maschinenexporte abnahm.
Der Grund für die außergewöhnliche Qualität ihrer Gespräche war, daß beide Männer früher hochkompetente Patrioten ihres jeweiligen Landes und ,Systems’ gewesen waren, aber gleichzeitig nach den eigentlichen ,Zielen der Menschheit’ strebten, wie Galbraith es in seiner Widmung zu The Affluent Society nennt.
Was Menschikow betrifft, bedeutet das für mich, daß er einer der besten Vertreter des Besten der russischen Intelligenzija ist. Spätestens seit dem 18. Jahrhundert verbanden die besten unter den russischen Intellektuellen immer eine unbeugsame Leidenschaft für die Menschen und einen starken zugrundeliegenden Optimismus auf der einen Seite mit der Bereitschaft, ohne Wanken und ohne tröstende Illusionen den unvorstellbarsten Schrecklichkeiten ins Auge zu blicken – die gleiche Bereitschaft, die man auch bei einem fähigen Militärbefehlshaber antrifft. All das auf eine spezifisch russische Art.
Ich selbst versuche mir diese Qualitäten der russischen Intelligenzija zu erklären, indem ich mir vorstelle, welche furchtbare Verantwortung vor Gott und den Menschen jeder einzelne einer Handvoll gebildeter Menschen in dem Meer von Unbildung und Ignoranz hatte, in dem sich Rußland vor den Folgen der Oktoberrevolution befand.
Das ist jedenfalls Stanislaw Menschikow.”
Menschikow geriet immer wieder in Schwierigkeiten, mehr als einmal wurde er aus einer offiziellen Position entfernt. 1986 wurde er aus dem Stab des Zentralkomitees der Kommunistischen Partei ausgeschlossen, wie er in seinen Erinnerungen berichtet, weil er mit den Interessen anderer Offizieller aneinandergeriet. Er arbeitete beim Institut für Weltwirtschaft und Internationale Beziehungen (IMEMO), wo er bis zum stellvertretenden Direktor aufstieg; am Außenposten der Akademie in Nowosibirsk; und im Wirtschaftsstab der Vereinten Nationen, wo er in den 70er Jahren Wassily Leontiefs Projekt für ein Modell weltweiter Entwicklungsprozesse leitete. Er schrieb für New Times, Prawda und die Prager Problems of Peace und Socialism, und er verfaßte Gastkommentare für die New York Times und andere westliche Medien. In der postsowjetischen Periode lehrte Menschikow an Universitäten in Europa, allen voran der Erasmus-Universität in Rotterdam und deren Tinbergen-Institut.
Der bekannte frühere Prawda-Journalist und Nahostexperte Georgi Mirskij beschrieb Menschikow 2007 als „fliegendes Wesen“, das auf der ganzen Welt arbeite und überall sein Talent mit anderen teile. „Man konnte Menschikow nie einholen”, sagte er.
Professor Menschikows Wahl in die Russische Akademie der Wissenschaften wurde verhindert, seinen Memoiren zufolge mindestens zum Teil deshalb, weil er kein Speichellecker war. Hinter den Kulissen gab es grundsätzliche Fragen von gewichtiger Bedeutung, die im Mittelpunkt zweier politischer Machtkämpfe standen, einer beim IMEMO und einer in der Kommunistischen Partei. Dabei ging es um seine Opposition gegen die sich herausbildende Clique um Andropow und dann Gorbatschow – LaRouche sprach von „Einflußagenten Londons“ -, die nach dem Tod Leonid Breschnjews 1982 die sowjetische Führung übernahmen.
In diesem Jahr 1982 stand Menschikow kurz davor, IMEMO zu leiten. Alexander N. Jakowlew, später als Architekt von Gorbatschows Perestroika bekannt, konnte ihn ausstechen und erhielt den Posten. 1983 bildete Jakowlew eine Gruppe, darunter Akademiemitglied Georgi Arbatow und der Journalist Alexander Bovin, die ein neues Programm der Kommunistischen Partei für den designierten Generalsekretär Juri Andropow entwarfen. Menschikow veröffentlichte eine vernichtende Kritik ihres Papiers, er warnte, die von ihnen vorgeschlagenen wirtschaftlichen Liberalisierungsmaßnahmen würden die Sowjetunion auf eine sehr gefährliche Weise „kapitalistisch“ machen, weil sie ignorierten, wie groß der kriminelle Sektor der Wirtschaft schon damals war und welches starke Wachstumspotential er hatte.
Bei einem Trinkspruch für Menschikow zu dessen 80. Geburtstag spielte Akademiemitglied Alexander Granberg auf die historische Bedeutung dieser Ereignisse an: „In der Wissenschaft ist Menschikow schon unsterblich. Stanislaw hätte sogar noch mehr zur Forschung und Gesellschaft beitragen können, wenn es Nachfrage danach gegeben hätte. Nachdem Menschikow von den Vereinten Nationen zurückgeholt wurde, ging es mit dem System langfristiger Prognosen bergab... Was Rußland betrifft, ... so haben wir verloren, weil Stanislaw Michailowitschs Empfehlungen vor 20 oder 30 Jahren oder auch vor 10 Jahren nicht gefolgt wurde.“
Akademiemitglied Sergej Glasjew sagte bei demselben Anlaß, Menschikow „brachte Menschen immer zum Denken“. Er gratulierte Menschikow zu seinen Errungenschaften, die dieser errungen habe „mit Liebe zu seinem Land und dem Vertrauen, nach seinem eigenen Kopf zu leben“. Anders als einige Jüngere, die sich in der virtuellen Realität verlören, so Glasjew, sei Menschikow immer realitätsorientiert gewesen und habe mit seiner Bereitschaft, der Wirklichkeit ins Auge zu sehen, in Rußland und darüber hinaus zu einem gewaltigen Optimismus beigetragen.
Stanislaw Menschikow hinterläßt seine Ehefrau Larissa Klimenko-Menschikowa, seinen Sohn Iwan und die Töchter Jekaterina und Tatjana. Seine erste Frau, die Ökonomin Marina A. Menschikowa, starb schon 1979. Sein Nachruf in der russischen Wochenzeitung Rossijskije Westi war unterzeichnet von vier Mitgliedern der Russischen Akademie der Wissenschaften, darunter dem früheren Ministerpräsidenten Jewgeni Primakow und dem heutigen Präsidentenberater Glasjew, von dem berühmten Diplomaten Valentin Falin sowie von weiteren prominenten Ökonomen und Journalisten aus mehreren Generationen.
Anmerkungen
1. Stanislaw Menschikow, O vremeni i o sebe (Über unsere Zeit und über mich), Moskau: Mezhdunarodnyye Otnosheniya, 2007, nur auf Russisch erschienen.
2. Antony Papert, “Russia’s 1991-2001 Descent into Hell”, EIR, 21.12. 2007. http://www.larouchepub.com/eiw/public/2007/ eirv34n50-20071221/20_750.pdf