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Von Alexander Hartmann
Für Europäer ist es immer hilfreich, über den Tellerrand hinauszuschauen und zu erkennen, daß in anderen Teilen der Welt ehrgeizige, optimistische Zukunftspläne geschmiedet werden.
So findet am 31. August und 1. September (nach Redaktionsschluß dieser Ausgabe) im chinesischen Tianjin der bislang größte Gipfel der Shanghaier Organisation für Zusammenarbeit (SCO) statt. Unter den Teilnehmern werden Leiter von zehn internationalen Organisationen sowie Staats- und Regierungschefs aus über 20 Ländern sein:
China, Rußland, Weißrußland, Indien, Iran, Kasachstan, Kirgisistan, Pakistan, Tadschikistan, Usbekistan (SCO-Mitglieder), Mongolei (Beobachter), Aserbaidschan, Armenien, Kambodscha, Malediven, Nepal, Türkei, Ägypten, Turkmenistan, Indonesien, Laos, Malaysia und Vietnam (Partner).
Allein die zehn SCO-Mitgliedstaaten vertreten über 40% der Weltbevölkerung – etwa 3,4 Milliarden Menschen –, und sechs von ihnen (Belarus, China, Indien, Iran, Kasachstan und Rußland) sind auch Mitglieder der BRICS, die eine führende Rolle beim Aufbau einer gerechteren Weltwirtschaftsordnung spielen. Es wird erwartet, daß der SCO-Gipfel eine zehnjährige Entwicklungsstrategie für die gesamte, von ihm repräsentierte Weltregion verabschiedet.
Ein entscheidender Faktor bei diesen Entwicklungen ist die veränderte Rolle Indiens. Die herrschenden Eliten des Landes haben jahrelang vor einer umfassenden Zusammenarbeit mit der Globalen Mehrheit zurückgeschreckt, um die wirtschaftlichen und militärischen Beziehungen zu den USA und allgemein zum angelsächsischen Raum nicht zu stören. Aber der Zollkrieg der Trump-Regierung, zusätzlich zu einer zunehmend bedrohlichen NATO-Allianz und dem Wiederaufleben der Tradition der Blockfreiheit, hat dies geändert. Nun wird Ministerpräsident Narendra Modi zum SCO-Gipfel reisen – seine erste Chinareise seit sieben Jahren - und auch ein Gipfeltreffen mit Präsident Xi haben. Modi könnte sogar an den großen chinesischen Gedenkfeiern zum 80. Jahrestag des Kriegsendes am 3. September teilnehmen, das würde eine noch bedeutendere Wende signalisieren.
Die Hindustan Times berichtete: „Das von Präsident Xi Jinping ausgerichtete Treffen wird voraussichtlich die Solidarität des Globalen Südens demonstrieren, dem von Sanktionen betroffenen Rußland eine weitere diplomatische Plattform bieten und die wachsende Macht Beijings unterstreichen.“ Laut indischen Beamten werde Modi „voraussichtlich einige bilaterale Treffen am Rande des Gipfels abhalten… Russische Beamte in Neu-Delhi äußerten kürzlich die Hoffnung auf trilaterale Gespräche zwischen Indien, China und Rußland am Rande des Gipfels.“
Reuters zitierte Eric Olander, den Chefredakteur der Medieninitiative „China-Global South Project“: „Es ist wahrscheinlich, daß Indien die jüngsten Streitigkeiten innerhalb der SCO hinter sich lassen und sich auf die Aufrechterhaltung der Entspannung mit China konzentrieren wird, eine wichtige Priorität für Modi... Xi wird den Gipfel als Gelegenheit nutzen wollen, um zu zeigen, wie eine internationale Ordnung nach dem Ende der amerikanischen Vorherrschaft aussehen könnte, und daß alle Bemühungen des Weißen Hauses seit Januar, China, Iran, Rußland und nun auch Indien entgegenzuwirken, nicht die beabsichtigte Wirkung gezeigt haben.“
Man muß die Frage stellen: Hat Präsident Trump wirklich nicht verstanden, daß seine verrückte Handelspolitik seine Angriffsziele, wie Indien, nur näher an China heranführt und sie alle dazu veranlaßt, mehr Handel untereinander statt mit den USA zu treiben?
Chinas Außenminister Wang Yi besuchte am 18. August Neu-Delhi, um den bilateralen Gipfel vorzubereiten. Oben auf der Tagesordnung steht die Lösung des alten Grenzkonflikts zwischen beiden Ländern. Der zweite Punkt ist die Schaffung einer Grundlage für eine Zusammenarbeit zum gegenseitigen Nutzen – Wang Yi sprach vom „Tanz des Elefanten und des Drachen” –, die angesichts der Gesamtbevölkerung beider Länder von 2,8 Mrd. Menschen und ihrer wachsenden Volkswirtschaften den Aufstieg der Globalen Mehrheit beschleunigen dürfte.
Zudem war Indiens Außenminister Jaishankar vom 19.-21. August in Moskau, um die strategische Partnerschaft mit Rußland zu stärken, wo mehrere gemeinsame Wirtschafts- und Wissenschaftsprojekte vereinbart wurden. Zeitlich darauf abgestimmt drohte die Trump-Regierung während seines Aufenthalts Indien mit zusätzlichen Strafzöllen – 25% zusätzlich zu den bereits geltenden 25% –, weil es russisches Öl kauft; diese Zölle traten am 27. August in Kraft. Als Reaktion darauf will die Regierung Modi ihre Exporte in andere Länder steigern, u.a. im Nahen Osten und Afrika. Jaishankar unterzeichnete mit dem russischen Außenminister Sergej Lawrow auch ein Abkommen, um den Aufbau des Internationalen Nord-Süd-Transportkorridor (INSTC) zu beschleunigen. Lawrow erklärte dazu: „Die Zusammenarbeit im Kohlenwasserstoffsektor und die russischen Öllieferungen an den indischen Markt machen große Fortschritte. Beide Seiten sind daran interessiert, gemeinsame Energieerzeugungsprojekte unter anderem im russischen Fernen Osten und auf dem russischen Arktisschelf umzusetzen.“
Im Anschluß an den SCO-Gipfel veranstaltet China am 3. September seine Feierlichkeiten zum 80. Jahrestag des Endes des Zweiten Weltkriegs im Pazifik mit Staatschefs aus aller Welt, Präsident Putin ist der diesjährige Ehrengast. Am Vortag halten Xi und Putin ein bilaterales Gipfeltreffen ab, um die Zusammenarbeit beider Länder auf allen Ebenen weiter zu festigen.
Ebenfalls am 3. September beginnt in Wladiwostok im Fernen Osten Rußlands das Östliche Wirtschaftsforum (Vostok Economic Forum, VEF, 3.-6.9.), auf dem politische und wirtschaftliche Führungskräfte aus aller Welt zusammenkommen, um gemeinsame Infrastruktur- und andere Großprojekte zu erörtern. Ein zentrales Thema des VEF ist die Erschließung der Arktis, eine nationale Priorität für Rußland und eine zunehmend wichtige Frage für China und auch für die USA, insbesondere seit dem Treffen von Trump und Putin in Alaska am 15. August.
Bei dem Treffen in Alaska wurde nämlich nicht nur über den Konflikt in der Ukraine gesprochen, sondern auch über das enorme Potential für eine Zusammenarbeit in der Arktis. Im Norden lagern unermeßliche Bodenschätze. Der Bau eines Verkehrskorridors mit einem Tunnel unter der Beringstraße und die Erschließung der anliegenden russischen und US-Gebiete werden ein wesentlicher Bestandteil des Aufbaus einer Weltlandbrücke sein.
Auf die weitere Erschließung des Nordens bezog sich Putin auch in einer wichtigen Rede vor Rosatom-Mitarbeitern in der Atomstadt Sarow zum 80. Jahrestag der Gründung der sowjetischen Atomenergiebehörde am 20. August 1945 – keine zwei Wochen nach dem Abwurf der Atombombe auf Hiroshima. Der Präsident erinnerte an die beiden Großprojekte der Sowjetzeit, die Raketen und das Atomprogramm, und betonte, ohne diese Projekte wäre die Sowjetunion gegen die neue Waffe wehrlos gewesen, und die Wahrung der Souveränität sei für ein Land wie Rußland von höchster Bedeutung. Dagegen hätten heute die meisten europäischen Länder ihre Souveränität praktisch verloren.
Er wies auch auf die Bedeutung der Atomindustrie für das Land hin. Rosatom beschäftige fast eine halbe Million Menschen und die Atomindustrie spiele für die russische Wirtschaft eine ähnliche Rolle wie die Autoindustrie für die US-Wirtschaft in den 1950er Jahren. Und zur Arktis betonte er: Rosatom „entwickelt und implementiert modernste Technologien und führt große Infrastrukturprojekte durch, darunter die Nordostpassage, die Teil des Transarktischen Transportkorridors von St. Petersburg über Murmansk nach Wladiwostok sein wird“.
Auf eine Frage zur internationalen Zusammenarbeit antwortete Putin, trotz der Versuche, Rußland zu isolieren, sei die internationale Zusammenarbeit in der Wissenschaft nach wie vor stark, auch mit Amerikanern. Er verwies auf die umfangreichen Arbeiten von Rosatom beim Bau von Kernkraftwerken im Ausland. Die internationale Wissenschaftsgemeinschaft sei „eine Gemeinschaft kluger Menschen“, die „nie ganz zerstört wurde und nie zerstört werden wird“.
In Bezug auf die Vereinigten Staaten sagte Putin, mit Präsident Trump sehe er nach langer Zeit „Licht am Ende des Tunnels“. Die USA seien bereit, an gemeinsamen Projekten in der Arktis zu arbeiten, „sogar in Alaska“, dazu nannte er jedoch keine Einzelheiten.
Zuverlässige Quellen berichten, daß der Plan eines Tunnels unter der Beringstraße ein Thema in Wladiwostok sein wird. Über dieses Projekt, das der verstorbene amerikanische Staatsmann Lyndon LaRouche nachdrücklich unterstützt hat,1 wurde auch in Rußland im Umfeld des Gipfels von Anchorage diskutiert. Am 21. August veröffentlichte die Prawda einen langen Artikel dazu und zitierte Prof. Peter Kuznick von der American University in Washington, der die beiden Länder zur Zusammenarbeit bei der Erschließung der reichhaltigen Seltenerdmineralien in der Arktis aufrief. Über den Beringstraßentunnel „wird sowohl hier als auch in Rußland diskutiert. Es handelt sich um ein großes Hochgeschwindigkeits-Bahnprojekt, das Eurasien und die Vereinigten Staaten verbindet.“
Wenn die Vereinigten Staaten eine Partnerschaft mit Rußland aufbauen und dies auf die Zusammenarbeit mit anderen Nationen ausweiten, die die Zukunft der Welt repräsentieren – China, Indien, Südafrika, um nur einige zu nennen –, dann könnte das Paradigma des Hegemonialismus durch ein Paradigma des Wachstums ersetzt werden. Und das wäre auch im besten Interesse Europas und Deutschlands.
Anmerkung
1. Beachten Sie dazu die neue E.I.R.-Studie Mit dem Bering-Korridor den Weg zum Frieden bereiten!
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